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Der Bach
Die Zeit vergeht langsam an diesem Samstag. Heute ist der Tag. Jedes Jahr kommt dieser Tag wieder näher und näher, wie ein drohendes Gewitter, vergeht und bahnt sich dann aufs Neue an. Und das seit 21 Jahren. Ich habe Angst vor diesem Tag, große Angst.
Meine Wohnung ist die größte Müllhalde und bin froh, dass ich das vor der Welt draußen bisher gut verstecken konnte. Irgendwann, vor ein paar Jahren hörte ich auf, Dinge wegzuschmeißen oder auszurangieren. Stattdessen füllt sich die, für mich allein viel zu große, drei-Zimmer Wohnung immer mehr mit Schrott. Selbst die verstaubte Steinsammlung meiner Mutter liegt seit 10 Jahren auf dem gleichen Platz im Holzregal. Sie liegt still da wie ausgestellt. Für wen?
Ich lasse mich in die Kissen meines beigen Stoffsofas fallen und schaue durch die fleckigen Fenster nach draußen. Es ist regnerisch und dunkel. Der kleine Gemeinschaftsgarten liegt grau hinter den schweren Schiebetüren und verwest vor sich hin. Einmal mehr frage ich mich ob der Hausmeister, der angeblich für Gartenarbeit zuständig ist und den ich, laut Nebenkostenabrechnung, mit ganzen 27€ im Monat bezahle, überhaupt existiert.
Ich erinnere mich an den Garten meiner Mutter und wie ich im Spätsommer vor vielen Jahren zu Besuch gekommen war. Der Garten war innerhalb weniger Wochen mit meterhohen Brennnesseln zugewachsen und ich wusste, dass der Kahlschnitt eine Heidenarbeit werden würde.
Sie war auch dabei gewesen.
Es dauerte eine Weile bis sie verstand, dass sie warten müsse, wolle sie am Bach hinter dem Garten spielen, weil Papa erst ein bisschen Klarschiff mache. Sie wartete tapfer auf der Terrasse bis ich fertig war. Dann gingen wir zum Bach. Ich erzählte ihr von früher und wie wir als Kinder hier oft einen Staudamm bauten und uns wie die größten Seemänner fühlten. Der Bach war vielleicht 1,5 Meter breit und nur um die 30 Centimeter tief, aber sowas sieht man nicht als Kind. Hauptsächlich natürlich durch die perspektivische Beeinflussung der Körpergröße. Aber da ist noch etwas anderes. Fantasie kann alles zum Leben erwecken. Man sieht in diesem kleinen Bach das größte Abenteuer, das man je erlebt hat, sammelt Stöcke und Steine und staut Sand auf. Die Flucht aus der Realität.
Die habe ich früher oft gebraucht.
Sie fragte mich dann, ob wir das auch machen könnten und schaute mich erwartungsvoll aus ihren Augen an. Diese Augen, die in dir das Gefühl von Wärme und Geborgenheit auslösen. Und die eine so paralysierende Tiefe haben, dass sie dir Zugang zu deiner eigenen Tiefe geben können.
Ich war schon damals überfordert damit. Ich kann mich immer auf meine Vernunft verlassen, auf meinen Scharfsinn und auf meine Erfahrung. Aber wenn ich in diese Augen blicke, sehe ich mich selbst, meine größte Schwäche und meine innerste Verletzlichkeit. Meine größte Schuld und somit das Unerträglichste in mir.
Also habe ich irgendwann aufgehört in diese Augen zu schauen.
Geändert hat sich nichts. Meine größte Schwäche bleibt das was sie ist und verletzlich bin ich immer noch. Nur meine größte Schuld hat sich verändert. Sie wiegt schwerer als sonst. Und gerade heute an ihrem Geburtstag.
Ich merke beim Aufstehen, dass ich einen zweiten Anlauf brauche um mich, mit beiden Fäusten aufgestützt, aus den weichen Kissen zu hieven. Wie so oft frage ich mich, wie bei so wenig essen so viel Körpermasse noch übrig bleiben kann. Ich gehe in die Küche und suche mir mein Frühstück zusammen. Das, was ich an diesem Tag immer frühstücke. Speck vom Schinken, eine Scheibe Graubrot und etwas Margarine.
Das haben wir oft zusammen gefrühstückt. Sie war so beeindruckt, wie ich mit nur einem Messerstrich die Margarine perfekt auf dem Brot verteilte und wie akkurat ich die Scheibe Schinken für sie abschnitt. Wenn sie sich das wünschte, dann machte ich sie manchmal etwas dicker, oder sie bekam noch ein Stück hinterher ohne Brot. Da war sie immer ganz stolz.
Ich bewaffne mich mit meinem fertigen Frühstücksteller und gehe zurück aufs Sofa. Dabei bleibt mein Blick an dem Karton hängen, der neben dem Sofa steht. Er ist als eine der wenigen Sachen nicht verstaubt. Noch bevor ich anfange zu essen, hebe ich ihn hoch und öffne ihn.
Ich sehe die Briefe und fühle die Schwere, die sich auf mich legt.
Einmal noch, sage ich mir, wie jedes Mal. Es ist wie eine Sucht. Ich berühre das Papier, was sie berührt hat und von dem ich mir einbilde, es könne mir noch mehr sagen als nur die Worte darauf. Ich denke zu sehen, wie Buchstaben verwischt sind und glaube zu meinen, dass sie an der Stelle im Brief geweint hat. Vor Trauer oder vor Wut. Die Worte in ihren Briefen treffen mich zu tief und beschämen mich zu sehr, als dass ich sie nochmal lesen könnte.
Und doch tue ich es. Ich will den Schmerz spüren, will etwas in mir wecken. So viel Schmerz, dass daraus Reflektion resultiert.
Doch wie jedes Jahr weiß ich, dass sie Recht hat. In jedem ihrer Briefe.
Es ist als würde sie mir dabei tief in die Augen schauen, wie damals am Bach. Und da ist es wieder, das paralysierende Gefühl. Als würde sie, nur durch ihre Worte, die Wahrheit über mich selbst ans Licht bringen.
“Ich hoffe du kannst dir irgendwann selbst verzeihen, Papa.”
Und nein. Sich selbst verzeihen heißt Selbstliebe. Und dafür ist zu viel Hass in mir.
Ich stehe auf und werfe das nicht angefangene Brot in den Mülleimer. Was für eine Verschwendung, denke ich mir, und sehe, wie der Schinken und das Margarinebrot auf den restlichen Abfall aufprallen.