Der Bürokrat
“Bitte was?” Der Gourverneur versuchte, seriös zu bleiben, doch ein leichtes Grinsen konnte er sich nicht verkneifen. “Ich bin der Teufel”, wiederholte der Mann, der im Bärenkostüm vor seinem Schreibtisch stand. Sein Grinsen wurde breiter. “Und ich bin gekommen, um dich zu verfluchen.” Er verlor die Beherrschung und musste lachen.
“Wie sind Sie überhaupt …” Kaum eine Sekunde hatte er sich von seinem seltsamen Gegenüber abgewendet, als dieser wieder verschwunden war. Verblüfft schaute er sich im Büro um. Keiner da. Die Türe und alle Fenster waren geschlossen. “Hallo?” Keine Antwort. Außer dem Regen, der gegen die Fensterscheiben peitschte, war es still.
“Grau.”
“Larg Baumann hier. Sagen Sie, ist gerade ein – Mann aus meinem Büro gekommen?”
“Äh, nein. Nicht dass ich wüsste. Wieso?”
“Hmm. Danke!”
Er legte auf und blickte ratlos umher. Kurze Zeit später jedoch schüttelte er den Kopf und wendete sich wieder den Unterlagen zu, die vor ihm auf dem Tisch ausgebreitet waren. Er überflog eine Akte nach der anderen. Einige davon unterschrieb er, doch die meisten landeten halb gelesen auf einem großen Stapel.
Eine halbe Stunde später gab er auf, denn er konnte sich nicht konzentrieren. Um den Rest würde er sich am Montag kümmern. Er rückte seine Krawatte zurecht und legte seinen Mantel an. Gerade wollte er den Raum verlassen, doch er hielt inne und drehte sich noch einmal um. Nach wie vor menschenleer.
“Ich gehe, Frau Grau. Machen Sie fertig und schließen Sie ab!”
“Okay. Schönes Wochenende, Herr Baumann!”
Er antwortete nicht.
Als er zur Türklinke griff, hörte er erneut Frau Graus Stimme: “Arschloch! Glaubst wohl, du seist was Besseres.” Ungläubig drehte er sich zu ihr um.
“Bitte?!”
“Herr Baumann?”
“Was haben Sie gerade gesagt?”
“Ähm – ‘schönes Wochenende!’”
Verwirrt schauten sie sich gegenseitig an. Larg senkte seinen Blick und schloss kurz die Augen. Er murmelte: “Ich glaub’, ich brauch’ Urlaub.”
Der Regen prasselte gegen seine Frontscheibe und verstärkte das grüne Licht der Ampel. Er war jedoch mit seinen Gedanken woanders; das Hupen der Autos hinter ihm vernahm er nur beiläufig. Doch plötzlich hörte er die Stimme eines Mannes auf seinem Rücksitz: “Boah, lern Fahren, du dummer Bonze!”
Erschrocken drehte er sich um, doch es war niemand da. Inzwischen hatten die Autos begonnen, um ihn herumzumanövrieren. Gelb. Von allen Seiten hörte er jetzt Geisterstimmen, die über ihn fluchten und ihm Schimpfworte entgegenschleuderten, bis alle Autos ihn überwunden hatten. Rot. Es war wieder still. Er stand nun allein an der Ampel. Niemand war mehr hinter ihm.
Er drückte mehrmals auf den Knopf, doch das Garagentor reagierte nicht. Irritiert warf er die Fernbedienung auf den Beifahrersitz und stieg aus dem Auto in den Sturm, um das Tor von Hand zu öffnen.
“Scheiße, Larg ist schon da! Schnell!”
“Natalie?!”
Er drehte sich in alle Richtungen, doch er konnte niemanden sehen. Die Stimme seiner Frau hatte er so deutlich gehört, dass sie direkt neben ihm hätte stehen müssen. Er wurde nervös und begab sich sofort ins Haus.
“Schon Feierabend?” Ihre Frage klang eher wie ein Vorwurf. Natalie stand in T-Shirt und Unterwäsche vor ihm. Offensichtlich war die Terrassentüre kurz zuvor offen gewesen, denn der Sturm hatte Schmutz in die Küche geweht. Zunächst starrte er sie nur an. Dann stieg er die Treppe zum Schlafzimmer hinauf. Das Bett war unordentlich, und ihre Wäsche lag quer über dem Boden verteilt.
Sie stand wimmernd in der Küche, als er wieder runterkam. Ihr war klar, dass sie ihm nichts mehr vormachen konnte. Ihre Lippen bewegten sich nicht, doch er hörte wieder ihre Stimme: “Kannst du nicht endlich verrecken? Verschwinde endlich aus meinem Leben, du Monster! Geh’ zurück in deine scheiß Kanzlei und verreck’ dort!”
“Verstehe”, antwortete er verbittert. Er kehrte ihr den Rücken zu und verließ das Haus. Nachdem er die Türe zugezogen hatte, hörte er, wie sie in Tränen ausbrach. Sein Auto ließ er vor der noch immer offenstehenden Garage zurück.
Er lief ziellos durch die Stadt. Immer wieder rissen ihn Geisterstimmen, die über ihn lästerten, aus seinen Gedanken. Manchmal konnte er diese sogar mit vorbeilaufenden Menschen assoziieren, die ihm finstere Blicke zuwarfen. Hielt er sich die Ohren zu, konnte er den Spott und die Vorwürfe nur noch deutlicher hören:
“Brenn’ in der Hölle, Baumann!”
“Der hat meine Familie zerstört!”
“Wegen dem haben wir alles verloren!”
“Du hast mein Leben zerstört, du Schwein!”
Sie wirkten so bedrohlich, dass er Angst bekam. Er wollte fliehen, doch er wusste nicht, wohin. In seiner Verzweiflung lief er in Richtung seines Büros im Rathaus, des einzigen Ortes, an dem er sich sicher fühlte.
Sein Weg führte ihn am Abenteuerspielplatz vor dem Krankenhaus vorbei. Dort saß ein Mann im selben Bärenkostüm, das der selbsternannte Teufel getragen hatte, jedoch ohne die Maske. Trotz seiner Furcht hoffte er, endlich eine Erklärung zu finden. Doch als der Mann ihn sah, sprang er auf und rannte wütend auf ihn zu: “Ich bring’ dich um! Du Mörder! Ich werd’ dich kaltmachen!”
“Bitte warten Sie!” Larg versuchte, den Mann mit Gestiken zu beschwichtigen, doch es half nicht. Sein Angreifer stolperte und flog in den Matsch. Nur noch wenige Meter trennten sie voneinander. “Lassen Sie uns bitte reden!” Der Mann schrie auf und stützte sich ab. Larg erkannte, dass es zwecklos war und flüchtete in Richtung Rathaus.
Er öffnete hastig die Glastüre, sprang in die Eingangshalle und verschloss sie in letzter Sekunde. Sein Verfolger prallte von der Scheibe ab. Er stand steif vor der Türe, während der Mann brüllend dagegenhämmerte. Die Stimme des Mannes schrie ihm ins Ohr: “Du bezahlst für Jana! Ich werde dir das heimzahlen! Ich werde deinen Schädel zertrümmern!”
Larg setzte sich auf den Boden und verbarg sein Gesicht in den Händen. Inzwischen glitt der kostümierte Mann schluchzend an der Türe herab. Er hatte so energisch gegen die Scheibe geschlagen, dass er dabei eine Blutspur hinterließ. Larg sah auf und betrachtete den leidenden Mann auf der anderen Seite. Er sah Schmerz und Hilflosigkeit. Nach einigen Minuten verstummte der Mann. Larg stand auf und stieg in den Aufzug.
Er schritt nachdenklich durch die verlassenen Büroräume und sah Frau Graus Platz an. Der Lichtkegel, den der Aufzug ins Büro warf, wurde schmaler, bis er schließlich ganz erlosch. Er setzte sich auf ihren Stuhl und starrte in die Dunkelheit. “Was ist hier nur los?” “Das weißt du nicht?” Larg erkannte die Stimme, die aus seinem Büro kam.
Der vollkostümierte Teufel saß mit verschränkten Beinen auf seinem Schreibtisch und musterte Larg durch die Knöpfchenaugen seiner Maske. Der stand im Türrahmen und blickte zurück.
“Na los, mein Lieber, komm her! Setz’ dich auf deinen gemütlichen Ledersessel!”
Er gehorchte. Der Teufel rückte Largs Krawatte zurecht und glättete sein Hemd. Dann blickte er ihn prüfend an.
“Wunderschön. Und jetzt wirf einen Blick aus dem Fenster. Was siehst du?”
“Meine Stadt.”
Der Teufel lachte leise: “‘Deine’ Stadt? Dreh’ dich zum Tisch!”
“Was wollen Sie von mir? Was habe ich getan?”
“Weißt du, was das Tolle an deinem Büro ist? Der Abstand.”
“Wovon reden Sie?”
“Na, der Abstand – zwischen dir und ‘deiner’ Stadt.” Der Teufel streckte ihm eine Akte ins Gesicht: “Schon mal gelesen?”
“Natürlich.”
“Ach ja? Hier ist deine Unterschrift. Mit ihr hast du deiner Natalie das einzige weggenommen, was sie glücklich machte und ihr ein Gefühl von Unabhängigkeit gab: ihren Kindergarten.”
Larg schwieg.
“Hehe, oder guck mal hier.” Eine weitere Akte. “Hier hast du eine Demonstration gegen dich gewaltsam aufgelöst. Fand ich entzückend! Und hier hast du die Hälfte der Krankenschwestern vom Stadthospital entlassen. Und jetzt kommt meine Lieblingsakte. Weißt du, wie man die in ‘deiner’ Stadt nennt?”
Larg schwieg weiterhin.
“Der Klang ist Musik in meinen Ohren: die ‘Baumann-Euthanasie’. Aber ich schätze, Anton findet den Namen nicht ganz so amüsant wie ich.”
“Anton?”
“Na, mein Kostümvetter, den du heute kennengelernt hast. Guck mal hier: deine Unterschrift. Seine Tochter Jana ist an diesem unförmigen Kringel gestorben, weil er sich die Medikamente nicht leisten konnte.”
Der Teufel warf die Akte auf seinen Tisch und zog die Maske aus. Larg blickte in eine blutverschmierte, lächelnde Version von Antons Gesicht. “Uhh, gleich ist es so weit!” Der Teufel schloss die Augen und zählte mit den Fingern von fünf abwärts, bis er bei null ankam: “Anton ist jetzt erlöst. Er hat sich soeben umgebracht.” Er atmete tief ein und lächelte dann wieder. “Aber ich fürchte, um die anderen musst du dich selber kümmern, mein Bester!” Er lachte.
Larg sprang auf und schrie ihn an: “Was fällt Ihnen eigentlich ein?! Was mischen Sie sich in mein Leben und meine Entscheidungen ein? Glauben Sie, ich wüsste nicht, was gut für meine Stadt ist? Das ist meine Stadt, und ich sage, wo’s langgeht! Lassen Sie mich gefälligst in Ruhe und machen Sie den Schaden rückgängig, den Sie angerichtet haben!”
Der Teufel lächelte. “Ich? Oh, mein Lieber, ich mache das alles nicht. Ich habe dir nur die Gedanken deiner Mitmenschen offengelegt. Gern geschehen. Und wenn dir gefallen hat, was du heute erlebt hast, dann wirst du lieben, was als Nächstes kommt!” Sein Lächeln wurde zu einem finsteren Grinsen. Er streckte die Arme aus und löste sich langsam in Luft auf, während er rief: “Willkommen in der Hölle!”
Plötzlich hörte Larg einen fürchterlichen Krach aus dem Erdgeschoss. Durch das Fenster sah er eine gewaltige Menschenmenge, die das Rathaus stürmte. Eine Träne floss seine Wange herab. Er ließ sich in seinen Sessel fallen und wartete.