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Der Bär
Er kommt nicht! Das wäre ja auch verrückt! Das hier ist ein Wohngebiet. Hier spielen Kinder! Aber sie sind ja eingezäunt, die Spielplätze. Schwere, eiserne Gitter mit Stacheln obenauf, falls er drüberklettern will. Das ist sicher. Sonst würden sie ihn ja gar nicht hierher lassen.
Er wird niemanden anfallen, sonst wäre das verboten. Es hat ja auch gekostet. Man bezahlt kein Geld, um gefressen zu werden.
Naja, zugegeben, abgesperrt ist dieser Verschlag für den Müll nicht. Und hintendran ist direkt der Wald. Wenn der da jetzt rauskommt, ist man keine zehn Meter entfernt. Die sind schnell. Viel schneller als ein Mensch. Aber der will ja den Müll, dem schmeckt man ja gar nicht. Im Müll ist Honig versteckt und Marmelade, das ist viel süßer.
Und man ist auch nicht gefährlich. Die kleine, nette Koreanerin will dem bestimmt nichts anhaben. Sie ist sehr freundlich. Volunteering macht sie hier und ist jetzt für ein paar Tage in der Stadt. Das wollte sie sich nicht entgehen lassen. So was sieht man ja normalerweise nicht. Die Kamera hat sie auch dabei. Überhaupt haben alle Kameras. Einen Fotoladen könnt man mit der Sammlung hier aufmachen. Große, kleine, breite, schmale, billige, teure, pinke, blaue, alte, neue, mit und ohne Zoom. Also, wenn er kommt, wird er zum Star, so viel steht mal fest. Blitze haben die auch alle. Ob das so klug ist?
Da gibt es ja diese Geschichte von den Amerikanern, die in den Bergen einen getroffen haben.
Alle tot, in Stücke gerissen. Aber die Situation ist nicht zu vergleichen. Das war ja ein wirklich wilder, mitten im Nirgendwo, nicht in einem Vorort. Der hiesige ist ja städtisch, zivilisiert gewissermaßen.
Außerdem hatten die Amerikaner mit Steinen geschmissen.
Hier wird ja keiner mit Steinen werfen. Oder?
Naja, dieser Australier sieht schon ein bisschen blöde aus. Obendrein recht besoffen. Vier Bier hat er vorhin getrunken. Ob man ihn streicheln kann, hat er ernstlich gefragt. Er kommt aus Sydney. Alle Australier kommen aus Sydney oder vom Strand. Der hat so eine coole Handykamera. Die haben ja heutzutage immer bessere Qualität. Das wird ein Spitzenfoto werden.
Wenn er denn kommt. Aber er kommt ja nicht. Das wäre völlig hirnrissig. Gerade kommt ein Anwohner und stopft seinen Wochenmüll in den Container. Völlig entspannt ist der und tut so, als wäre niemand hier. Die Französinnen machen Bilder von ihm und eine kichert. Vielleicht gefällt er ihr. Jung, diese slawischen Züge, durchtrainiert. Naja. Jetzt geht er wieder. Den Französinnen lächelt er dann doch noch kurz von der Haustür aus zu. Dann ist er weg. Wer fehlt, ist der eigentliche Hauptdarsteller. Vom Fahrer gibt es auch keine Spur. Wie vom Erdboden verschluckt. Oder nein, da an der Straßenecke ist der Minibus und auch der Fahrer und eine Frau. Hübsch, schwarze Haare, ein bisschen was von Zigeuner. Sie schäkern.
Was die wohl von ihm wolle, will die Koreanerin wissen. Beide werden was voneinander wollen, allerdings verschiedenes. Der Australier macht ein Bild. Ob das wohl ins Poesiealbum kommt?
Jetzt ist es dunkel, bis auf die gelbe Straßenbeleuchtung. Aber im Wohngebiet geht’s noch immer hoch her. Irgendwo ist Disco und in der Nähe läuft ein Actionfilm. Rambo vielleicht, so ungefähr hört es sich an.
Er kommt nicht, nie im Leben. Völliger Unsinn. Ein Rentnerpärchen spaziert vorbei. Auch die tun so, als gäbe es keine Zuschauer. Von denen macht das Schweizer Pärchen ein Bild. Die Schweizer sind auch interessant. Die finden das alles ungeheuerlich. Ein Skandal, dass so was angeboten wird. Unverantwortlich sei das, die Meisterschaft des Idiotentourismus, sagen sie.
Die glauben auch nicht, dass er kommt und wenn er käme, wäre das ganz entsetzlich.
Man müsse eigentlich Greenpeace informieren.
Die können sich ja dann an den Container ketten.
Der Bußfahrer lacht laut auf. Die Zigeunerin muss wirklich was furchtbar Komisches gesagt haben.
Bei dem Lärm kommt der nie. Jetzt fährt ein Minibus vorbei. Da hocken mindestens neun Leute drin. Wo die wohl hinwollen? Wahrscheinlich gibt es noch mehr Müllverschläge. Ist ja auch klar, das ist ja ein Wohngebiet und diese Verschläge ganz normale Müllsammelstellen. Keine Deponie oder so. Nichts mit Feldstecher und ihn von 100 Metern Entfernung beobachten. Wie gesagt, vielleicht zehn Meter. Die springt der, wenn er muss. Aber warum sollte er?
Diese 20 Euro hätte man auch versaufen können oder in Zigeunerinnen investieren. 20 Lei kostet eine, wenn man es im Stehen in der Gasse mag.
Wobei das gewiss nicht sicher ist. Diese Zigeuner rauben einen bestimmt aus. Da steht man dann in dieser Gasse, sie rafft den Rock und noch bevor man seinen Hosenstall richtig auf hat, bekommt man einen Knüppel an den Hinterkopf. Da darf man nicht leichtsinnig sein, nur weil man im Urlaub ist.
Aber eigentlich muss er ja kommen. Die machen das jeden Tag und im Sommer haben sie gesagt, ist noch nie keiner gekommen.
Die Französinnen drehen jetzt ein Video. Eine hat eine richtige Kamera dabei und nimmt die ganze Reise auf. So zum Spaß. Die eine hampelt vor dem Müllcontainer rum und macht ein Peacezeichen. Davon macht jetzt auch die Koreanerin ein Bild. Und dann muss der Australier eins machen, auf dem die Koreanerin und die Französinnen gemeinsam vor dem Container stehen und ein Peacezeichen machen.
Die Schweizer regen sich darüber auf. Idiotentourismus!
Der Australier muss mal, weil er so viel Bier getrunken hat. Aber hier gibt es natürlich keine öffentliche Toilette und bei einer der Wohnungen zu fragen, gehört sich nicht. Die sprechen da auch bestimmt kein Englisch. Aber es gibt ja noch den Wald. Der ist ganz schön dunkel so vom Bürgersteig aus betrachtet. Er ist unschlüssig, der Australier. Was, wenn da wirklich einer ist. Hier ist jedenfalls keiner. Und es kommt auch keiner. Der Australier kann getrost in den Wald gehen, was soll schon passieren. Aber das ist wirklich ein verdammt dunkler Wald.
Die Französin filmt, wie der Australier mit den Schweizern darüber diskutiert, ob es vernünftig ist, im Wald aufs Klo zu gehen, und die Koreanerin macht ein Bild vom Mond.
Den sieht man kaum, weil er hinter Wolken ist, aber ein wenig schaut er heraus. Sehr romantisch.
Schließlich geht der Australier tatsächlich. Die Natur verlangt ihre Opfer.
Alle warten. Das ist wahnsinnig spannend. Die Französin kommentiert für die Kamera.
Sie erzählt diese Geschichte, von der man gehört hat. Vor einiger Zeit ist ein Mann auf einer Parkbank in der Innenstadt gerissen worden. Auf einer Parkbank, wo er ein Nickerchen gemacht hatte. „Ripped to shreds“ hatte die Schlagzeile gelautet. So was stimuliert die Phantasie. Die Koreanerin fragt, ob das wirklich wahr sei und alle nicken. Sie bekommt große Augen. Aber das Ganze ist ja in der Innenstadt passiert, nicht hier beim Wald.
Die drei Norweger haben die ganze Zeit Karten gespielt, einer von ihnen mischt sich jetzt ein. Es sei sowieso großer Unsinn. Solche Angriffe gäbe es gar nicht. Das würden die gar nicht machen. Das einzige Gefährliche hier seien die Menschen. Er lächelt tiefgründig und steckt sich einen Joint an. Die anderen Norweger und eine Französin rauchen mit.
Ein bisschen Entspannung kann jetzt wirklich nicht schaden.
Das regt die Schweizer so richtig auf. Absoluter Idiotentourismus, eine Klasse für sich!
Es wird schon wieder diskutiert und fast vergessen, dass der Australier immer noch im Wald ist. Ripped to shreds, möglicherweise oder er hat eine sehr, sehr große Blase. Die Koreanerin schaut entsetzt und macht ein Bild vom Joint.
Der Fahrer ist übrigens weggefahren und die Zigeunerin ist auch nicht mehr zu sehen. Naja, er hat ja einen Bus. Da kann man ja abschließen.
Da ist er! Der Australier, er ist zurück, ein seliges Grinsen auf den Lippen und eine Bierdose in der Hand. Die hatte er noch im Rucksack. Nervennahrung. Er will auch was vom Joint.
Und da kommt auch der Fahrer angebraust. Das ging aber schnell, oder ist da was im Busch? Er gestikuliert in eine Richtung, wendet und braust wieder fort. Einer der Norweger hat verstanden, was los ist. Bei einem anderen Müllverschlag, die Straße hinauf, ist wohl einer gesehen worden. Tatsächlich! Jetzt geht’s wirklich los! Er ist da, er ist wirklich und wahrhaftig da. Keine Zeit zu verlieren! Alle rennen los.
Ein bisschen ist das jetzt wie Blair Witsch Projekt. Eine verlassene, schwefelgelb beleuchtete Straße, auf der einen Seite triste Plattenbauten, auf der anderen Seite der tiefe, dunkle Wald, eine Gruppe junger Leute und sogar eine Kamera. Naja, die Plattenbauten passen nicht gerade zu Blair Witsch Projekt, aber das ist hier ja nicht Hollywood. Man muss Abstriche machen. Stylish ist es in jedem Fall. Man rennt wie der Teufel, hört neben sich das Keuchen der Anderen und die aufgeregten Rufe derer vor einem. Hier steppt jetzt der sie wissen schon oder zumindest soll er das gleich, was ja der Grund für das ganze Theater ist.
Da ist ein weiterer Verschlag, aber er ist ganz und gar verlassen. Keine Zuschauer, kein gar nichts, nicht mal besonders viel Müll. Weiter! Diese Straße ist wahnsinnig lang. Die Koreanerin ist nicht so gut zu Fuß und fällt zurück. Der Australier hat Mitleid oder was anderes und fällt ebenfalls zurück. Die Schweizer führen, aber die haben ja auch nicht gekifft.
Und dann kommt Woodstock, oder Spring Breack, je nachdem ob man da Unterschiede erkennen kann.
Um den nächsten Müllverschlag stehen mindestens 40 Leute, zwei Taxis kommen gerade an und von der anderen Seite der Straße rennen noch mehr Leute zum Sammelplatz. Das ist eine Party, und wenn gleich Koks und Kondome verkauft werden, wundert sich auch niemand.
Alle sind da: die beiden amerikanischen Mr. Hollywoods, die mörderscharfen Schwedinnen, der komische Belgier und der Thailänder, der immer so erstaunt guckt. Sie alle hat man schon mal getroffen. Ein älterer Herr ist auch vertreten. Der steigt gerade aus dem Taxi und beginnt sofort, sein Stativ aufzubauen. Das dauert seine Zeit und dann gilt es noch zu überlegen, welches Kameraobjektiv auf drei Meter Entfernung am besten geeignet ist.
Die Mr. Hollywoods sind eifrig damit beschäftig die Schwedinnen anzubaggern. Besonders erfolgreich wirken sie nicht. Die eine guckt gelangweilt und stumpfsinnig ins Nichts, die andere gespannt zum Müllverschlag. Jetzt kann man sich überlegen, dass die armen Amerikaner auf verlorenem Posten stehen. Die beiden Schwedinnen sind ganz bestimmt lesbisch oder sodomistisch veranlagt oder beides und außerdem ist die Koreanerin spurlos verschwunden. Er ist auch nicht da, der Australier.
Der komische Belgier hat Schlaftabletten gefressen. Er hat die Show gestern schon gesehen und will sich jetzt den Kick geben, in dem er sie völlig betäubt und besoffen anschaut. Morgen früh will er dann Paragliden. Zum Glück stehen die Schweizer auf der anderen Seite des Halbkreises. Die sehen ganz schön muffig und verschwitzt aus. Die Arme verschränkt, die Kamera in der Faust. So demonstriert man Ablehnung. Der Thailänder guckt erstaunt.
Einer der Mr. Hollywoods entdeckt Frankreich oder besser gesagt die Französinnen für sich. Ohne große Vorreden erzählt er von seinem coolen Mountainbikeabenteuer in den Bergen. Da habe er nämlich schon einen gesehen, aber man müsse sich keine Gedanken machen, wichtig sei, dass man die Ruhe bewahre. Er kenne sich da aus, er fahre auch manchmal Mountainbike in Kanada und da gäbe es die ja wie Sand am Meer.
Er kommt gut an, wird sofort gefilmt und mit Fragen gelöchert. Scheinbar haben sich die Französinnen ein wenig einsam gefühlt.
Und da sind die Koreanerin und der Australier. Ein wenig zerzaust, könnte man meinen. Vielleicht auch nicht. Er hat schon wieder eine neue Bierdose in der Hand, sie fotografiert den leeren Verschlag.
Dann hören es alle. Das Geräusch, tief und kehlig. Ganz bestimmt ein Brummen.
Alles ist still, keiner regt sich. Klick, klick, klick. Das ist der alte Mann, der seine Kamera aufwärmt. Sonst herrscht Stille.
Ja, da! Nein, doch nicht, es ist nur ein Zug, der in der Ferne vorbei rattert.
Man entspannt sich und macht Scherze. Der französophile Mr. Hollywood erzählt einen Witz über Belgier in wirklich schlechtem Französisch, der Belgier erzählt einen Witz über Amerikaner auf Spanisch. Spanier sind gar nicht da und keiner versteht ihn. Wie gesagt, er ist ein komischer Belgier.
Halt! Da ist was, diesmal wirklich. Ein Brummen! Ein Laster, aber nein, da ist noch ein Brummen! Ganz sicher. Er!
Es raschelt im Wald und die Koreanerin stöhnt auf. Das ist sexy, aber jetzt nicht Thema. Er ist das Thema und er kommt. Alles starrt, niemand atmet. Eine Schnauze ragt aus dem Blätterwald, ein massiger Körper trottet Richtung Müllverschlag. Ein Hund!
Aber ein schöner, das muss man sagen.
Aber halt! Noch ein Brummen, der Hund rennt wie von der Tarantel gestochen los, durch die Beine der einen Schwedin, die Straße entlang und in einen Hauseingang. Alle schreien auf und springen einen Schritt zurück. Er ist wirklich gekommen. Er trottet zum Müll. Steigt in einen der Container, reißt gemächlich an den Tüten herum, kaut eine Weile, klettert heraus und geht.
Die Koreanerin und der Australier fangen sicher eine wilde Liebesbeziehung an, der Belgier wird sich morgen das Bein brechen, die Schwedinnen vergnügen sich diese Nacht noch gemeinsam im Stockbett, der französophile Mr. Hollywood treibt`s mit halb Frankreich, die Schweizer schreiben einen entsetzten Brief an Greenpeace, die Norweger kiffen, der schwedophile Mr. Hollywood lässt sich volllaufen und geht anschließend in den Puff und der Thailänder guckt erstaunt. Der alte Mann hat 1000 Bilder. Die kommen mit ins Grab, wenn er nächste Woche an Hirnschlag stirbt.
Tolle Show, der Bär war nett!