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Der Automat
An einem Frühlingsnachmittag verließ ich den Zug schwebend auf dem Hochgefühl eines geplanten Videoabends. Das Bier äußerte seine Vorfreude darüber durch eifriges Schwappen in meinem Rucksack. Ich schritt rascher aus. Plötzlich rief mich auf dem Bahnsteig aus der Menge heraus eine weibliche Stimme. Hatte sie ›Hallo‹ zu mir gesagt? Oder nur jemand anderen gemeint? Ich war nicht sicher, sah aber nichts von ihr. Schon riss mich die Menschenmenge in die Unterführung fort. Natürlich hatte sie mich gemeint, ich hatte es doch deutlich gehört. Die Sache kam mir auf dem Nachhauseweg wiederholt in den Sinn. Lieblich erschien mir die Stimme in der Erinnerung. Unbekannt und doch im Innersten vertraut. Reizend und gleichzeitig mysteriös. Schade, dass ich sie nicht hatte kennenlernen dürfen. So grübelte ich, bis ich die Angelegenheit im Bier vergaß.
Am Tag darauf, ich war zeitiger dran als üblich, vernahm ich erneut den unbekannten Tonfall. An derselben Stelle. Ich hatte den Vormittag über darauf gehofft, obwohl ein erneutes Rufen überaus unwahrscheinlich schien. Der Bahnsteig gab sich überschaubarer als gestern, da zu dieser Stunde kaum Fahrgäste ausgestiegen waren. Der Feierabendverkehr lag noch in seiner potenziellen Zukunft. Doch da war auch diesmal kein Mädchen, keine Frau. Nichts.
»Komm doch heran«, lud mich die Stimme ein. Sie schien aus Richtung der Unterführung zu kommen. An einem Metallzaun darüber unweit der Treppe war ein Automat montiert. Ein schäbiger, einst prächtig rot lackierter Kaugummiautomat, so verbeult, verzogen und verdreckt, wie man es von einer solchen zweitrangigen Bahnhofsattraktion erwartete. Er war beklebt, bemalt und gewiss auch des Öfteren bespuckt worden. Das grausliche Ding wirkte unappetitlich, abgegriffen und verkratzt als hätte es die letzten Jahre in einem Punkrockschuppen zugebracht.
»Wie geht es dir heute?«, säuselte es in mir. Ich pirschte mich heran. Es sollte niemand mitbekommen, dass ich mich als Erwachsener für einen Kaugummiautomaten interessierte. Eine Bodybuilderin in Flecktarn und schwarzem T-Shirt auf dem Parkplatz gegenüber lugte bereits herüber. Es war die Pächterin des Bahnhofskiosks, die soeben begann, Nachschubkartons aus dem Hinterteil eines SUVs zu lupfen - ihr entspanntes Nachmittagstraining. »Du wirkst müde heute.«
Ja, kein Wunder, der gestrige Abend hängst mir noch in den Kleidern. »Meinst du mich?«, wagte ich die Frage, während ich mich behutsam an den Kasten zu lehnen begann, von dem sogleich etwas Farbe abplatzte.
»Ja«, flötete es in mir, »schmieg dich nur an mich. Ich mag das.«
Dann begann sie, zu erzählen. Sie sei 24, seit eben dieser Zeit an diesen Bahnhof gebunden, hatte immer nur gehetzte, bedrückte Menschen gesehen oder betrunkene. Garstige Blagen hätten an ihr herumgefingert. Sie war unter Druck gesetzt, beschmutzt und erpresst worden. Drei Überfälle hätte es in den Jahren gegeben + grausame Körperverletzungen. Und Folter, aggressive Taschenmesserbesitzer hatten Botschaften in ihre metallene Haut geritzt. Doch bei aller Unbill, bei allem Leid, war sie stets in gefesselter Treue an ihrem Platz verblieben. Sommer wie Winters hatte sie Ferien, Feiertage und Fußballspiele überstanden. Sie klang ehrlich. Sie wirkte so echt. Woran erinnerte mich ihre Stimme? An die Nachrichtenmarionette im Staatsfernsehen? An die Ansagerin der 3SAT Angelshow? An Frau Köhler, die niedliche Schwarze Witwe hinter der Supermarktkasse beim EDEKA, die ihrer Jugend zum Trotz einen ominösen Dutt trug? Dann begriff ich, dass es Doros Stimme war. Doro, einstmals schönster Hase der Welt, ehemals innig geliebt, dann davongeflogen. Die Lufthansa hatte meine geliebte Kollegin eingesaugt, entführt gleichsam in ihre luftige Düsenwelt. Und ich sah sie nie wieder. Hörte ihre Stimme nicht mehr, bis ... ja bis gestern. Der nächste Menschenschwall aus einem der Züge riss mich für einen Moment von meiner Gesprächspartnerin fort. Als ich zu zurückkehrte, erblickte ich ihn. Der Junge war um die 10 und er machte sich zuschaffen an dem verwitterten Kasten. Ich sah das in diesem Moment überhaupt nicht gern. Was trieb der rotzige Knabe da? Er bearbeitete den Knauf, der die Warenausgabe veranlasste. Er tat es derart vehement, dass ich befürchtete, er wolle den Automaten verletzen oder den Drehgriff abreißen. Ich konnte das nicht zulassen und schritt ein.
»Schön vorsichtig, Freundchen«, rief ich entschieden. »Wenn du zu heftig rüttelst, ramponierst du das Teil.« Ein Umstand, der unbedingt zu verhindern war. Der Junge glotzte zu mir auf. Sein Gesicht zeigte einen Ausdruck der Verachtung, bevor er es abwandte. Erneut begann er, den Automaten zu malträtieren. Ein Zwanzigcentstück schien er nicht zu besitzen, er versuchte auf andere Weise, nämlich mittels einer Metallscheibe an seine Beute zu kommen. »Lass das doch, bevor du noch was beschädigst«, appellierte ich. »Was willst ’n, du Opfer?«, schleuderte er mir entgegen. Wandte sich dann aber ab und verließ die Szene. Den Burschen hatte ich erfolgreich vertrieben.
»Du machst dir zu viele Sorgen«, meinte Doro.
»Tue ich das?«
»Aber ja, ich verfüge über ein eingebautes Durchfallmünzprüferaggregat. Du siehst, so leicht kann man mich nicht betrügen.«
Natürlich hatte sie recht, sie war überlegen konstruiert worden. Die Konsequenz aus dem Vorfall jedoch war, dass ich sofort misstrauisch wurde, sobald sich eine Person näherte; was öfter vorkam, als mir recht war, schließlich befanden wir uns auf einem Bahnhof. Ankommende Züge sorgten automatisch für Strapazen. Dabei hatte ich nachgerade dann nichts zu befürchten. Die Leute aus den Zügen suchten im Allgemeinen, so rasch sie konnten das Weite. Die strömende Masse verhinderte, dass jemand stehen blieb, um ein Kaugummi zu ziehen. Die Minuten zwischen den Bahnen waren die Gefährlicheren. Das frei stehende auffallende Gerät weckte immer wieder Begehrlichkeiten. Ich versuchte Doro abzuschirmen, lehnte ein aufgeweichtes Pappplakat an ihren Körper, das ihr darüber hinaus Schatten spenden sollte. Sah ich ein Einzelkind mit sinisteren Absichten heranschlendern, stellte ich mich vor den Automaten und verbarg ihn vollends. Dann gab es noch die Gören, die den Automaten kannten.
»Ey, was ist denn? Ich muss da mal ran.«
»Was denn, an DEN Automaten? Der ist im Eimer. Der ist gesperrt.« Oder auch: »Ich repariere ihn im Moment, such dir gefälligst nen anderen.«
»Haha, dann hätten Sie einen braunen Kittel an.« Erstaunlich, was mancher Strolch so alles wusste. Die meisten konnte ich abwehren, täuschen oder vertreiben. Auf das ich meine Zeit schließlich wieder ihr widmen konnte.
Doro und ich führten verschiedentlich Gespräche miteinander. Plaudereien im Lautlosen, die von niemandem sonst wahrzunehmen waren. Ich erlebte das hohe Glück ätherischer Dialoge. Ich musste nur in ihre Nähe gelangen, um glücklich zu sein.
»Ich wurde fabriziert. Aus Stahl geschmiedet«, gestand sie.
»Ich hingegen wurde biologisch erzeugt.«
»Was heißt das?«
»Nun, man folgt da keinem Plan, sondern zwei Wesen vereinigen sich, um die Grundlage für etwas zu legen, was sich nach einem bereits vorhandenen Bauplan dann selbst weiterentwickelt.«
»Fantastisch«, rief sie aus, aber glaubte mir kein Wort. Ich konnte ihr nichts beweisen. Wer würde mit einem Kaugummiautomaten ehrlich über Sex sprechen? Eben. Aber wir kamen doch immer wieder auf das Thema zurück. Doro meinte: »Du kannst dein Teil gern in mein Fach legen. Es wird dir nicht unangenehm sein. Ich bin wegen der Sonneneinstrahlung schon heiß geworden.
»Es geht nicht um Temperaturen«, klärte ich sie auf mit dem Rücken an das Geländer neben dem erhitzten Automatenkörper gelehnt, als plötzlich die Stadtreinigung vorfuhr und mich brüsk fortscheuchte. Die Laubblaslümmel mit den textmarkergrünen Sicherheitswesten trieben sich eine geräuschvolle Weile auf den Bahnsteigen herum. Ich wollte nicht wissen, was die taktlosen Herren von mir dachten. Sie würden mich für einen potenziellen Kaugummidieb, einen lauernden Automatenknacker oder eierlosen Suizidenten halten, der auch den nächsten ICE noch verpassen würde, weil er zu zögerlich war, zu entfernt stand und es nicht mehr gegen Fahrtwind schaffte an den Zug heranzukommen, um wie vorgesehen unter die Räder zu geraten. Doch riefen sie weder die Polizei noch gingen sie gegen mich vor. Sie lärmten woanders weiter.
Doro hatte offensichtlich bessere Zeiten erlebt. Noch in den Neunzehnhundertneunzigern waren Süßigkeiten keineswegs überall verfügbar gewesen, da hätte man Gerätschaften wie sie noch angehimmelt und zu schätzen gewusst. Sie war ein echtes Groschengrab gewesen, in Eurozeiten kannte man nicht einmal mehr den Ausdruck.
»Wenn man wie ich an einen Platz gebunden ist«, meinte sie, »dann beginnst du dich nach einiger Zeit wie der qualvolle Mittelpunkt des Universums zu fühlen, schließlich kreist alles um dich und zerrt mit seiner Schwerkraft an dir. Tag und Nacht, die Pendler, die Züge, der Regen. Stell dir vor, mein Ausblick auf die hektische Welt war immer derselbe. Damals fühlte ich mich beschwert all des Geldes wegen, das ich den Kindern im Tausch für zahnschädliche Substanzen abgenommen hatte. Heute sind meine Gefühle von eher windiger Art. Die Schwere weicht, wenn du auf niemanden Rücksicht mehr nehmen musst. Die Ignoranz jedoch ist schwer zu ertragen, wenn du so nutzlos bist, wie ich es inzwischen bin. Viele von uns dienen im Grunde anderen Zwecken. Du erkennst sie, sobald du mich nur betrachtest.« Und natürlich hatte sie recht. Automaten wie sie waren Blitzableiter für Aggressionen, Objekt der Wünsche von Verbrechern in Kinderschuhen, Katalysator für den Vandalismus aufstrebender Kleinkrimineller, Miniaturlitfaßsäule und Ersatz für nicht vorhandene Bäume, deren Rinde einen Liebesschwur hätte aufnehmen können. Ein zufällig dastehender Automat konnte durchaus die Grundlage einer Verbrecherkarriere bilden.
Ich begann, öfter am Bahnhof zu verweilen. Ich brachte Essen und Getränke mit. Stellte einen Campingstuhl auf. Lehnte den Kopf an SIE. Ich trank mein Bier, das ich nun nicht mehr bis nach Hause tragen musste. Dem Umsatz des Automatenaufstellers tat das aller Wahrscheinlichkeit nach nicht gut. Kinder trauten sich nur noch gelegentlich in meine Nähe, sie hielten mich für einen Penner oder Spinner. Denkt das nur, wenn ihr wollt, aber ich bin ein arbeitendes Mitglied der Bevölkerung. Sollte die Liebe nicht frei sein? Schloss das nicht automatisch SIE mit ein? Ich verzehre mich nach einem Automaten, Kinder. Und jetzt springt rasch davon, sonst verwandele ich auch euch in einen Kasten. Dann müsst ihr hier ewig hängen. Also verpisst euch! Eine Woche darauf raffte ich Herz und Mut zusammen. Und küsste ihre silbrige Klappe. Sie war von einer vitalen Wärme und leicht klebrig, was ich als Zeichen ihrer Zuneigung deutete. Meine Lippen hinterher schmeckten zuckerig. Engelein sangen in meinem Bauch. Irre! Totaler Wahnsinn! Die Sache wurde mir dann aber nachträglich noch peinlich, weil es Zeuginnen gegeben hatte. Zwei Teenies in rosa Sneakers hatte es just während des magischen Moments aus der Unterführung hochgedrückt. Das Backfischpack gluckste und versuchte mich mithilfe eines weißen Telefons abzulichten.
In Unkenntnis der Sache nahm ich an, die Automaten aufstellende Firma würde vom Gerät übers Internet gerufen, falls der Münzbehälter gefüllt wäre oder das Warenangebot zur Neige ginge. Doch das Aufstellergewerbe steckte massiv in vergangenen Zeiten. Man arbeite mit Karteikarten, fuhr festgelegte Strecken zu fixen Zeiten ab. Viel einzunehmen gab es ohnedies nicht, das hatte ich von IHR erfahren. Kaum 10 Euro erlöste sie pro Monat, anderen Automaten in der Umgebung sollte es gerüchteweise sogar wesentlich schlechter gehen. Der Aufsteller trat deshalb auch nur quartalsweise in Erscheinung. Sicherte sich das Münzgeld, riss Aufkleber ab, ersetzte die Füllware. Die Kerle kamen zu zweit in einem schäbigen Saab - das ist ein Fahrzeug. Sie waren hagere Gestalten, die braune Kittel trugen. Und sie rückten Doro mit Gewalt zu Leibe. Eigentlich ist ein Kaugummiautomat eine empfindliche, leichtgewichtige Mechanik. Ihr roter Body besteht aus Kunststoff, das Schauglas aus Acryl. Massiv und robust wird das alles erst durch das 1-Schacht-Gehäuse mit Frontplatte und Metallgitter. Die Apparaturen werden auf diese Weise gesichert. Zur Bearbeitung oder zum Austausch des Automaten wird die Frontplatte aufgeschlossen und nach unten geklappt. Ich konnte das an die Mauer des Bahnhofsgebäudes gedrückt mit dem zusammengeklappten Campingstuhl in der Hand gut beobachten. Die Bekittelten zwängten sie aus dem Schacht wie eine frisch gekeulte Robbe aus ihrem Fell; beglotzten sie mit ihren Profiaugen, kein Zuhälter dieser Welt hätte eine solche Handlung gefühlloser ausführen können. Man verfrachtete sie in den Kofferraum des Fahrzeugs, auf dass ich Schlimmstes befürchtete. Aber sie sollten sie dort nur oberflächlich reinigen, ihr sämtliches Geld abnehmen. Luden eben, was konnte man erwarten? Schließlich schoben die Kittelträger sie klappernd wieder ein. Ein Haken wurde auf einem Klemmbrett gemacht. Der schäbige Saab fuhr von dannen. Sie waren rasch mit ihr fertig gewesen. Der Vorgang hatte keine 10 Minuten beansprucht.
»Es tut mir Leid, Doro«, sagte ich. »Aber was hätte ich tun können?«
»Ist schon OK«, meinte sie, »ich kenne es ja nicht anders. So geht es seit Jahren. Der Saab, selbst die Kittel sind stets die gleichen geblieben. Ich fühle mich so benutzt.«
Unauffällig besah ich mir noch einmal das Schutzgehäuse. Es war mithilfe zweier länglicher Stahlplatten und durch vier Bolzen am Geländer befestigt. Ich könnte versuchen die Bolzen zu durchtrennen und die gesamte Konstruktion entführen. Alternativ galt es die Schlösser auf der Vorderseite zu knacken oder - vorausgesetzt ich hätte das Talent - zu öffnen, um den eigentlichen Automaten zu entnehmen. Ihn hätte ich schlicht in einer Plastiktüte vom Tatort forttragen können. Das für mich unverzichtbare Stahlgehäuse hingegen bedurfte robusterer Maßnahmen.
Ich entschloss mich, gegen den Automatenbetreiber vorzugehen. Wie konnte man diese Leute von ihrem rücksichtslosen Tun abhalten? Es stand fest, dass ausschließlich monetäre Interessen im Spiel waren. Aus Liebe zu abgewirtschafteten Apparaten tat niemand einen Handschlag. Doch was immer ich unternehmen würde, die Bekittelten würde nichts davon mitbekommen. Man würde stur der etablierten Routine folgen. Selbst für den Fall, das ein Irrer einen Automaten sprengen sollte, würden die Besitzer etwas davon vor der Frist mitbekommen? Ebenso wirkungslos würde es sein, den Kaugummiverkauf vollends auszutrocknen. Ab nachmittags konnte ich den Automaten bewachen, potenzielle Kunden verjagen. Die übrige Zeit könnten mechanische Sperren zum Einsatz kommen, ein Metallgitter, ein ekliger Besatz mit Insekten oder Schleim aus Plastik oder gelbschwarze Warnschilder mit Text:
• Gesperrt wegen akuter Verseuchung. Dein Gesundheitsamt.
• Automat verteilt Stromschläge bei unvorsichtiger Bedienung.
• Halte Abstand Kind oder stirb! Jetzt!
Wer würde es da noch wagen, ein Kaugummi gegen Geld ziehen zu wollen? Doch was könnte es mir nützen? Der Aufsteller würde seine Besuche deshalb nicht einstellen. Er könnte gar versucht sein, sobald er es bemerkte, den Ärger verursachenden Kasten abzumontieren und zu verschrotten. Eine furchtbare Vorstellung. In mir reifte ein kühner Plan. Amazon eilte zu meiner Rettung herbei. Ein UPS-Fahrer erschien bereits gegen 10 Uhr in der Früh - ich hatte mich kurzerhand krankgemeldet - und händigte mir meine Eilbestellung aus. Der Inhalt des Kartons: eine preiswerte Sackkarre, die ihren Zweck nur einmal erfüllen musste, ein robuster Bolzenschneider und ein brauner Kittel. Ich montierte die Karre, schraubte die Plastikgriffe an, schmiss mich in meine vorgetäuschte Arbeitskleidung und machte mich zum Bahnhof auf.
Der Zeitpunkt war bedacht gewählt. Der Berufsverkehr hatte sich vorerst erledigt, die Züge fuhren in einem ausgedünnten Takt, was bedeutete, es trieb sich niemand auf den Bahnsteigen herum. Fast niemand. Es gab einen winzigen Kiosk in dem angejahrten Gebäude, der Pendlerbedarf vorhielt, nämlich Lügenmedien aus getrocknetem Holzbrei, letale Rauchwaren, zuckerige Giftgetränke, maßlos belegte Brötchen, dickmachende Kuchen, SIM-Karten mit derer Hilfe sich auch Bomben fernzünden ließen, handliche Granatwerfer und Maschinenpistolen. Vor dem Gebäude war ein Panzer geparkt, der offensichtlich zum Verkauf stand. Ich überlegte, ob ich ihn erwerben sollte, um die unliebsame Zeugin zu beseitigen, denn um eine solche handelte es sich bei der anwesenden Pächterin des Kiosks, die zu dieser Zeit aus dem einzigen Fenster heraus auf die Gleise guckte, während sie sich in einem flotten Takt bewegte. Sie arbeitete sich an einer Hantel ab. Ich konnte sie hinter der Scheibe pumpen sehen. Sie winkte mir mit der freien Hand. Da hatten wir es, sie fiel auf die Maskerade mit dem Kittel herein, so wie ich es geplant hatte. Ich rückte Doro auf der Kehrseite zu Leibe, was mit vollendeter Zärtlichkeit geschah.
»Fürchte den Bolzenschneider nicht, Liebste«, machte ich ihr Mut. »Es sind nur vier Stifte, die ich durchtrennen muss. Du wirst nicht beschädigt werden. Ich passe gut auf.«
»Ich weiß«, sagte sie gefasst.
Leider gelangt es mir nicht, die Bolzen zu durchtrennen. Die matten Metallstifte sahen mir keinesfalls gewaltig aus, dennoch waren sie für mich nicht zu schaffen. Ich hätte es auch mit Hanteltraining probieren sollen. Konnte es sein, dass ich an vier winzigen Portionen Metall scheitern sollte? Ein Güterzug donnerte vorbei, ich presste meinen Kittel an mich gegen den Fahrtwind und blickte zu Boden. Als ich wieder aufsah, hatte sich die Bodybuilderin aus dem Kiosk vor mir aufgebaut. Verdammt!
»Na, meen Besta«, sprach sie mich an, nicht uninteressierten Blickes. »Kolleje außer Jefecht?« Ich nickte willenlos, meine Enttarnung schien unmittelbar bevorzustehen. »Hab ick mir schon jedacht, hast ja dein schäbijen Saab nich am Start. Sackkarre is aber ziemlich neunzehnhundertneunzjer, wa?«
»Ich habs nicht weit«, riskierte ich eine Antwort, »kriege bloß die Bolzen nicht durch.« Und fügte mutiger geworden an: »Der Kasten kommt hier nämlich weg, lohnt sich nicht mehr der Standort.« Ich beglückwünschte mich dazu niemals in ihrem Bahnhofsladen gekauft zu haben, die Preise schienen mir eh überhöht. Das kam mir jetzt zugute, denn sie erkannte mich nicht. Sie griff nach meinem Werkzeug. Die Frau besaß bemerkenswerte Oberarme. Ihre Muskeln bespielten das dunkle T-Shirt lebhaft, als sie zu exakt vier trockenen Bewegungen ansetzte und die jahrzehntealten Bolzen mühelos entzweischnitt.
»Sie verpetzen mich doch nicht, oder?«
»Ach wat, dit is ja keene Schande. Kann ja nicht jeder Muckis wie doof haben. Würd dir aber jut stehen, Meesta. Der Kolleje soll mal schön die Klappe halten. Gloob ick ja nich, aber du kommst wenstens zur Arbeit.«
Ich war ihr so verbunden, dass ich über das Du hinwegsah. Ich erfuhr von ihr, dass sie als Pächterin des Kiosks nicht unglücklich darüber war, den langjährigen Konkurrenten am Geländer zur Unterführung zu verlieren. Die Kids, die auf Kaugummi standen, würden ab sofort bei ihr vorstellig werden müssen. Sie sprintete in ihren Laden zurück, in welchen just Kundschaft eingedrungen war. »Danke noch mal«, rief ich ihr nach. Nette Frau, nur körperlich ein bisschen zu opulent.
»Tue ich dir weh?«, erkundigte ich mich, während ich die Stahlbleche an der Rückwand behutsam entfernte. »Nicht die Spur«, säuselte Doro erwartungsfroh. Schließlich hob ich den Automaten, samt seines Gehäuses, empor und setzte ihn vorsichtig auf der Ladefläche der Sackkarre ab. Doro surrte erleichtert. An ein Tuch, sie zu bedecken hatte ich nicht gedacht. Aber das war durchaus gut so. Ein Überzug hätte verdächtiger gewirkt als ein Aufsteller, der einen profanen Automaten durch die Gegend schob. Gewöhnliche Dinge nimmt der Mensch zwar wahr, doch er denkt über sie nicht nach. Das Alltägliche hinterfragt niemand.
Doro hatte ich in einen Kindersitz gesteckt, dort residierte sie, durchaus rot im Gesicht und wie frisch lackiert glänzend. Die Sonne beschien sie schräg durch das Fenster. Meine Nachbarn Melanie und Paul schauten in einer ähnlichen Weise, jedoch eher matt. Ich sagte geistesgegenwärtig und der Wahrheit entsprechend:
»Ihr werdet’s nicht glauben, aber ich liebe diesen Automaten.« Damit mussten die beiden nun klarkommen, was ihnen sichtlich schwerfiel.
»Ja, wie meinst du denn das?«, fragte Melanie und schnaufte, als ich begann, Teller und Besteck auch vor Doro auszubreiten. Vielleicht gefiel ihr auch die sanfte Weise nicht, mit der ich vorging. Melanie hatte sowieso immer schon diese blasierte Art gehabt, die ihre Stimme von kühler Arroganz rasch ins hysterisch Schrille steigerte.
»Was? Machst? Du?«
»Den Tisch decken?«, gab ich gleichmütig zurück. Ich fand wahrlich nichts dabei. Liebe ist eben Liebe, was soll einer da sagen? Doro besaß natürlich keine Wimper, um damit zu zucken, sie ließ sich etwas anderes einfallen. Freude darüber erfüllte mich. Der Griff, das sogenannte Aggregat, drehte sich umvermittelt und emittierte sein charakteristisches Geräusch. M & P erschraken, als hätte jemand einen Revolverhahn gespannt. O niedliche Doro, ich liebe deinen Humor, so wie ich deine schmucklose blecherne Rückseite verehre. Der Abend wurde ein kurzer und leider auch letzter. Die beiden grüßten tags darauf nicht mehr. Für sie war ich von diesem Zeitpunkt an der Automatenspinner.
Eine Frage stellte sich mir inzwischen drängend. War es nicht an der Zeit den Automaten meinen Eltern vorzustellen? Doch die würden unter Umständen Doros Farbe nicht mögen, sie könnte ihnen kühl und kantig vorkommen. Womöglich würden sie Anstoß nehmen an Schrammen und Verunstaltungen, an jenen Wunden, die schlechte Menschen Doros Leib über die Jahre hinweg beigebracht hatten. Nicht jeder vermochte den Liebreiz darin zu erkennen. Wären meine Eltern an ihren Inhalten interessiert? An bunter Kaumasse und Spielzeugen hinter einer Glasscheibe. Eine Türkin? Ja OK, Junge ... Eine schwarzafrikanische Ureinwohnerin? Kind, Kind, aber wenn es nicht anders geht ... Aber ein Automat? Man musste ärgste Zweifel haben als Eltern. Wirklich tolerant ist nur der Elefant. Der ist gewaltig genug, dass ihm die Anderen schlichtweg egal sein können - abgesehen natürlich von den Wilderern. Womit wir wieder in Afrika wären. Aber meine Eltern waren keine Elefanten. Und Doro war auch eher winzig im Vergleich. Ich schob die Sache auf.
Auf die Idee mit dem Kinderwagen kam ich, weil ein Kollege mir einmal erzählt hatte wie er und seine bessere Hälfte Baby + Buggy benutzt hatten, um Einkäufe aus Holland unbemerkt über die Grenze zu spedieren. Das Dope hatten sie in die vollgepissten Windeln gesteckt, diesen Schritt der Aktion aber anschließend aus Gründen des Geschmacks bereut - Frischhaltefolie kann überschätzt werden. Ich bestellte mir einen Wagen zu 149,- Euro im Internet.
»Ach das ist aber eine findige Weise einen Feuerlöscher zu transportieren«, meinte die alte Frau Schulz, als sie mich Doro spazieren fahren sah.
»Sie ist eckig, nicht rund«, rief ich ihr zu. Aber sie hörte nicht hin, sondern drehte ab in den Wald, um ihren Julius glücklich zu machen. Ein Dackel ist immer rund wie eine Wurst, Dackel können nicht eckig. Die alte Dackelfrau Schulz hatte keinen Sinn für Formen. Als Dackelbesitzerin hielt sie die Welt für eine Wurst. Aber Josefine hatte ihn, den Formensinn. Wir waren zusammen zur Schule gegangen. Ein dürres blondes Ding, ein Zustand, gegen den auch die Zeit bisher nichts hatte ausrichten können.
»Ach sieh mal einer an«, schnatterte sie mir wackelnd entgegen. »Hast du’s auch endlich gepackt.« Wovon sprach das Huhn? Dann begriff ich, sie musste natürlich denken, ich schob einen Braten feil. Und kaum hatte die Erkenntnis nach mir gegriffen, beugte sich Josefine auch schon über den Wagen. Ihre krallenbewehrte Scharrhand griff nach der Decke und zog sie zurück. Ihr Kopf auf dem drahtigen Hals zuckte jäh zurück und pendelte bedrohlich.
»Du bist so pervers«, gackerte sie in gespielter Verachtung. »Hab ich immer schon gewusst. Du hast schon damals komische Dinge in der Klasse gemacht. Aber das hier ist nur eklig.«
»Ach komm, Josefine, das ist doch nicht das, was du jetzt denkst.«
»Na, was denk ich denn?«
Josefine hatte durchaus ihre guten Seiten. Ihre Naivität zum Beispiel. Trug man eine Geschichte nur ernsthaft genug vor, sie würde sie glauben. Ich könnte ihr weismachen, dass ich mit diesem antiken Automaten zu einem Flohmarkt unterwegs war - irgendeiner würde schon in der Nähe stattfinden. Ich könnte sie gewiss davon überzeugen, dass dieses wertvolle Gerät ein Geschenk für den frohgemuten Frank war, an den sie sich doch bestimmt erinnern würde und zu dessen Geburtstagsparty ich just unterwegs war; oder dass ich dieses besondere Stück zu einem exzellenten Preis auf eBay vertickt hatte und auf dem Weg zum Käufer war, der, das Glück war mir hold, ein Sammler war, was den Preis in die Höhe getrieben hatte, und der zufällig in der Nachbarschaft lebte, was eine fette Menge Porto sparen half. All das hätte ich ihr gegenüber vorbringen können, Josefine hätte es geglaubt. Stattdessen sagte ich:
»Das Ding ist für die Feuerwehr, die stehen auf jeden rot lackierten Scheiß.« Josefine schien meine Antwort zu erwägen. Und sprang dabei von einem dürren Bein auf das andere.
»Und wozu der Kinderwagen?«
»Weil ich keine Sackkarre zu Hause habe und nicht Auto fahren kann!« Das stimmte zwar nicht, eine Karre besaß ich seit Kurzem ja de facto. Aber es klang glaubwürdig, denn - Hand aufs Herz - wer besitzt schon eine eigene Sackkarre - in einer Mietwohnung? Die naheliegende Frage, wieso ein kinderloses Nichts wie ich einen Buggy schob, stellte Josefine zum Glück nicht.
Auf den Küchentresen setzte ich sie sanft ab. Doch war dieser Platz IHR zu exponiert. Ich verstand, sie hatte in ihrem Leben schon zu oft auf dem Präsentierteller befunden, hatte allzu viele Menschen und Blicke ertragen müssen. Das ist so, wenn man auf einem Bahnhof lebt, aufgehängt, preisgegeben, alleinstehend. Also nahm ich den Automaten rasch wieder herunter und deponierte ihn auf der Couch, hüllte ihn in Decken. Von dort schauten wir Fußball miteinander. Ich spürte ihr Gewicht an meiner Seite, die Schwere eines langen entbehrungsreichen Lebens an meinen Körper gelehnt. Auf diese Weise vermittelte sie mir die Art von Geborgenheit, die man nirgendwo sonst finden kann.
»Du fühlst dich so heiß an.«
»Bitte rüttel noch mal.« Und wenn ich das tat, dann rollte es und schepperte die Füllware dumpf unter mir. Kaugummikugeln, Spielzeugkapseln und Münzen. Ein wunderbares Geräusch. Es erklang eine Automatensonate. Wenn man es nur rhythmisch genug erzeugt, dann produzierte man Melodien. Ekstatische Weisen waren das in meinem Fall. Die Liebe geht sowieso über Ecken. Und Kanten machen ihr nichts aus.
Wovor fürchtest du dich in deinen Träumen, Doro?
• Auftritte auf Kindergeburtstagen
• Währungsumstellungen
• Lebensmittelhygieniker
Ihre größte Angst ist immer gewesen, dass die Kinder eines Tages keine Münzen mehr bei sich haben könnten. Oder nur noch mit Plastikkarten oder Telefonen bezahlen wollten. Wäre das nicht grausam? Das Taschengeld würde spurlos aus der Tasche verschwinden und in ein Gerät wandern? Hatten wir davor nicht immer Angst gehabt, als wir selbst noch Kinder gewesen waren? Was verstand Doro wohl davon? Fragen wollte ich sie besser nicht, es galt, keine zusätzlichen Wunden aufzureißen. Ich hatte gelernt, ihr Schicksal zu akzeptieren.
In den glänzenden Fluren des Reviers roch es nach Reinigungsmitteln. Als ich weiterging, mischte sich eine leichte Urinnote hinzu, die schließlich in einen Kaffeeduft mit bitterem Unterton mündete. Ich hatte eine Vorladung erhalten, die ich artig präsentierte. Zudem hatte ich mich auszuweisen und auf einer Wartebank Platz zu nehmen, auf der ich meinen Gedanken nachhing. Die Sache hier hatte hoffentlich nichts mit meinem Automaten zu tun. Ich war mir sicher, dass niemandem etwas aufgefallen war. Vielleicht hatte mein Chef etwas mitbekommen, schließlich hatte ich krankgefeiert und mich dennoch in die Öffentlichkeit gewagt. Aber würde er mich deshalb anzeigen? In dem Fall würde ich behaupten auf dem Weg zur Apotheke gewesen zu sein, während ich in Wirklichkeit einen Automaten hatte mitgehen lassen. Dieser Automat allerdings, das wollte ich zu meiner Verteidigung vorbringen, war durchaus freiwillig mitgekommen. Würde daran jemand zweifeln? Ich wurde gerufen.
Den Herrn Kommissar drückten in diesem Fall andere Sorgen. Er kannte den Automatenaufsteller, er hatte dessen Anzeigen wegen Sachbeschädigung des Öfteren aufnehmen müssen. Nie war dabei etwas herausgekommen, der windige Unternehmer versuchte es dennoch immer wieder. Mal behauptete er, es sei Geld aus einer seiner Apparaturen gestohlen worden, um Hunderte Euro sollte es sich jedes Mal gehandelt haben. Dann wieder hätte jemand irgendwo eine Sichtscheibe eingeschlagen und das Gitter durchgekniffen und sich sämtlicher Ware bemächtigt, die von beträchtlichem Wert gewesen war. Könnte jemand daran zweifeln? Und was ihm und seinem Kompagnon noch einfiel. Der Kommissar stand kühl darüber. Auch dieser Fall, dachte er, würde sich als Windei entpuppen. Wer war so dämlich und stahl einen uralten Kaugummiautomaten? Eben. Und dann auch noch mitsamt des wuchtigen Metallgehäuses. Möglicherweise wollte der Aufsteller seine Versicherung betrügen oder auf Kosten eines Unschuldigen an ein fabrikneues Gerät kommen. Winkelzüge dieser Art halsten dem Kommissar Arbeit auf, über die er sich bei mir beklagte. Die Sache lief also nicht ungünstig für mich, rekapitulierte ich. Da war nur eine Frage. Wie man denn auf mich gekommen sei?
»Dazu nur so viel«, gab es zurück, der Tipp sei von einer Dame gekommen, die einen Dackel besäße. Der Aufsteller und sie seien miteinander verwandt. »Was sie nicht wissen können«, meinte er verschwörerisch und beugte sich in meine Richtung, »die alte Frau Schulz glaubt, dass ihr verstorbener Gatte Julius in dem Tier weiterlebt.« ›Ja‹, dachte ich, ›wer einen Dackel besitzt, dem spielen seine Sinne schon mal Streiche. Oder wie sonst ließe sich die Zuneigung zu einer derart verkorksten Kreatur erklären?‹ Die alte Frau Schulz also hatte mich gesehen. Und wer weiß, wer noch. Ich beschloss, der Wahrheit zur Hand zu gehen und auszupacken. In meiner Verliebtheit hielt ich es schlichtweg nicht mehr aus. Ich musste der Welt meine Gefühle offenbaren, und sei dieser Prozess auch schmerzhaft und hätte ich dafür auch nur einen Polizisten zur Verfügung. Ich sagte:
»Ich gestehe!«
Der Beamte blickte mich irritiert an, ich ahnte, er versuchte das Gehörte einzuordnen, was ihm jedoch nicht gelang.
»Was gestehen sie?«
»Den Automaten gestohlen zu haben.«
»Nun machen Sie mal keine Witze.«
»Keineswegs. Es müsste sogar andere Zeugen geben«, packte ich jetzt vollständig aus. »Die Kioskbesitzerin hat mir in konspirativer Absicht mit dem Werkzeug geholfen und zwei Teenager fotografierten mich kurz vor der Tat. Das Foto dürfte sicherlich inzwischen bei Facebook oder so hochgeladen worden sein. Wir können ja googeln.« Aber das wollte der Büttel nicht. Er kehrte zu einem betont nüchternen Dienstton zurück und begann etwas in seinen Computer zu tippen. Längst bekannter Polizistentrick, er tippte nicht; in Wahrheit versuchte er, Zeit zu gewinnen. Vielleicht telefonierte er über einen in seinen Schädel implementierten Handychip mit einer vorgesetzten Dienststelle oder las mit getunten Kontaktlinsen Gesetzestexte direkt im Internet. Seine nächste Frage - geraume Zeit danach - wies in Richtung meiner ersten Annahme.
»In welcher Beziehung standen sie zu dem Automaten?«, wollte er wissen, in einem Tonfall als wüsste er eh schon alles.
»Wir sind verlobt«, gestand ich wahrheitsgemäß.
Die Sache war damit nicht erledigt. In der Folge sah ich mich gezwungen einen Anwalt hinzuzuziehen, der die Sache für mich vertrat. Ach so ja, die Sache mit der Verlobung, die stimmte fürwahr. Es war total romantisch gewesen. Wir fuhren im Bus hinauf in die Berge. Sie auf dem Sitz neben mir, ich die Ringe in der schwitzenden Hand - gell, ich war schon ein bisserl nervös. Finger hatte sie nicht, das weiß jeder, deshalb band ich ihn ihr um. Den Ring. Er passte perfekt. Wir kauerten nebeneinander auf einer Gipfelbank, staunten über den Blick ins Land. Uns gings glücklich, denn wir waren jetzt ein Paar.
»Kann ich mal«, raunte ein Knirps neben mir. Ich wollte ihn verscheuchen. Doch Doro meinte nur:
»Lass ihn doch, ist ja mein Beruf.« Und der Kleine machte an ihr herum, schob ihr eine 20 Cent Münze rein, packte ihre Nase, drehte unwirsch daran und tat sich aus der Klappe heraus an ihrem Körperinhalt gütlich. Sonderlich wohl war mir nicht dabei. Och Mensch, Doro! Eifersucht? Ja, ich hatte sie bevorzugt für mich.
Auf anwaltliche Anfrage offerierte die Gegenseite, der nämliche Automatenaufsteller Müller, ein Kaufangebot. Obwohl ihn der Preis zweifellos in die Armut treiben würde, sei er bereit um des Friedens willen diese großzügige Offerte zu machen. Der unrechtmäßig angeeignete Automat könne für 2350,- Euro in meinen Besitz übergehen. Überdies würde das Unternehmen die Anzeige generös fallen lassen. Das war ein unverschämter Preis, geschuldet einer ausweglosen Situation, aus der man einen Profit zu schlagen versuchte. Längst hatte ich online recherchiert, ein handelsüblicher Automat war keine 200 Euro wert; und so gebraucht und geschunden, wie dieser, war er es erst recht nicht. Und wer fragte denn bitteschön den Automaten, zu wem er gehören wollte? Sollte dieser rechtlos sein? Ich fürchte, genau das war der Fall. Geräte, Apparaturen und Maschinen sind in unserer Gesellschaft vollkommen ungeschützt, jede seichte Smartphone App hat weitergehende Rechte. Für die Liebe ist da schon gar kein Platz. Ohnehin kennen Juristen die Liebe nur aus der Theorie. Es gibt Abhandlungen über die Liebe, aus denen sie sich informieren und ihre winkeligen Schlüsse ziehen. So beklagenswert es ist, aber auch das Grundgesetz schweigt sich zu diesem Thema aus. In der Welt von Melanie, Paul, des Huhns Josefine, der Firma Müller und der alten Dackelfrau Schulz oder des fantasielosen Polizisten würden wir nicht leben können. Auch wollte ich kein Pendler mehr sein. Und Doro ihr Leben nicht an ein Geländer geschlagen verbringen. Doro und ich wollten fliegen.
Kein Horizont kann entfernt genug sein, als das man dahinter nicht Intoleranz den Dingen gegenüber finden könnte. Pluto war uns deshalb nicht genug. Doro und ich wussten, wir würden darüber hinaus fliegen müssen. Zu den Sternen. Denn, Nachwuchs war auf dem Weg. Die Geliebte hatte es mir versichert. Ich hatte keinerlei Ahnung, wie das gelingen sollte, doch ich war guten Mutes. Die 2350,- Euro an die Firma Müller würden wir auch sparen. Doch wie von hier fort kommen? Diesmal hatte Doro die Lösung parat.
»Du hast nicht zufällig ein Zwanzigcentstück zur Hand?«, fragte sie. Ich entnahm die gewünschte Münze meinem Portemonnaie und drückte sie behutsam, von IHR dazu ermuntert, in den Schlitz unter ihrer Sichtscheibe.
»Zweimal drehen«, gab sie mir auf. Ohne nennenswerte Geräuschentwicklung landete eine Plastikkapsel im Ausgabeschacht. Ich griff zu und öffnete sie. Plötzlich hielt ich ein Raumschiff in der Hand.
»Siehst du«, sagte sie und strahlte mich an, »da haben wir unsere Reisemöglichkeit.«