Der Ausreißer
Unten im Tal läuteten die Glocken der Dorfkirche den Mittag ein. Oben auf der Almwiese tobte ein kleiner Junge mit seinem Hund. Für ihn war das Läuten gerade noch zu hören, sagte ihm an, sich schleunigst auf den Heimweg zu machen. Wie ein Wirbelwind rannte der Knabe über die Wiese hinunter ins Dorf, schnappte sich seinen Schulranzen, den er irgendwo abgelegt hatte, und begrüßte einige Minuten später seine Mutter: „ Hallo Mama, da bin ich!“ „Hallo Basti, mein Junge,“ antwortete die Mutter, „ komm‘ gleich an den Tisch, das Essen ist fertig.“
Basti Riezler war sieben Jahre alt und ein fröhlicher, aufgeweckter Junge. Sein strubbeliges, rotbraunes Haar verbarg er meistens unter einem lustigen Seppelhut. Darunter hervor lugte er mit wachen Augen, um seine kleine Vorwitznase tanzten hunderte kleiner Sommersprossen. Basti ging inzwischen in das zweite Schuljahr der Dorfschule, wenn er denn überhaupt dort erschien. Für den Jungen gab es nämlich nichts Wichtigeres als seinen Hund Rolf, einen pfiffigen Mischlingsrüden, die Almen und Wälder rund um das Tal, in dem das Dorf lag, und die Tiere, die dort oben lebten. Und so verbrachte Basti wenigstens einen Vormittag in der Woche in den Bergen, anstatt zur Schule zu gehen. Dort kannte er jeden Hügel, jeden Baum im Wald, bald jeden Grashalm auf den Wiesen. Er sprach mit den Kühen auf den Weiden, beobachtete die Eichkätzchen im Wald oder spielte mit den Murmeltieren. Oft saß er stundenlang vor dem Eingang eines Fuchsbaus, um einen Blick auf die Jungtiere zu erhaschen. Außer seinem Hund war einer der letzten Steinadler Basti’s bester Freund. Der majestätische Vogel kam stets geflogen, sobald er das Kind von weitem erspähte und ließ sich dann in seiner Nähe nieder. Hier oben war Basti’s Welt. In der freien Natur fühlte er sich wohl, dachte nicht an Schule oder Hausaufgaben.
Einige Zeit war niemandem aufgefallen, dass der Junge öfter in der Schule fehlte. Seine Mutter glaubte ihn an Ort und Stelle, während die Lehrerin sich mit der Erklärung Basti’s , er habe schlimmen Husten gehabt, zufrieden gab. Da Basti trotz der Schulschwänzerei ein guter Schüler war, kam auch niemand auf die Idee, dem Fehlen des jungen nachzugehen.
Eines Tages jedoch verhallte das Mittagsläuten im Dorf von Basti ungehört und er kam nicht zum Essen nach Hause. Frau Riezler ahnte schnell, dass etwas passiert sein musste, denn ihr Junge war sonst immer pünktlich. Sie wartete ungeduldig eine halbe Stunde lang und rief dann in der Schule an. Von der verwunderten Lehrerin erfuhr die Mutter, dass Basti gar nicht in der Schule gewesen war. Er habe doch sicher wieder seinen schlimmen Husten, meinte die Lehrerin dazu. Schnell war die Geschichte mit dem Husten geklärt und Basti‘s Mutter machte sich nun ernsthaft Sorgen. Sie war eine tüchtige Frau, die seit dem Tod ihres Mannes vor zwei Jahren den Hof allein bewirtschaftete. Zwar hatte die Mutter nicht viel Zeit für ihren Sohn, doch waren die beiden ein eingespieltes Team und es hatte bisher nie Anlass zur Sorge gegeben. Nun war Basti verschwunden. Es war allen klar, die das Kind kannten, dass man ihn in den Bergen suchen musste. Doch niemand hatte eine Vorstellung, wo genau sich der Junge am liebsten aufhielt, wo mit der Suche begonnen werden sollte. Eine große Hilfe hätte Basti’s Hund sein können. Aber der war wie gewöhnlich an des Jungen Seite. Frau Riezler zögerte nicht mehr lange, sondern verständigte die Bergwacht. Sie war sich sicher, dass sich ihr Junge in Gefahr befand.
Während im Dorf die Männer der Bergwacht, Nachbarn und Freunde des Riezler-Hofs die Suche nach Basti besprachen, kämpfte der Junge verzweifelt, seinen Hund zu befreien.
Die Beiden hatten wieder einmal stundenlang in der Nähe des Fuchsbaus auf der Lauer gelegen, als die Fähe (Füchsin) mit ihren vier Jungen zum Bau zurück kam. Basti bedeutet seinem Hund, ganz still zu sein, doch die Fähe hatte die beiden bereits gewittert. Sie verzog sich sofort sehr aufgeregt mit einem der Jungen im Maul zurück ins Unterholz. Die anderen Kleinen folgten ihr. So nah hatte Basti die Füchse noch nie gesehen und er wollte ihre Spur auf keinen Fall wieder verlieren. So flüsterte er: „Komm Rolf!“, und schlich den Tieren vorsichtig hinterher. Doch Rolf’s Jadgtrieb war stärker, als sein Gehorsam und er rannte der Fuchsfamilie nach. Kurze Zeit später hörte Basti ein lautes Aufjaulen, das in ein schmerzvolles Fiepen überging. „ Rooolf“, schrie Basti auf und schlug sich so schnell es ging durch das dichte Unterholz und Gestrüpp in die Richtung, aus der die Laute seines Hundes kamen,
Inzwischen waren im Dorf mehrere Gruppen eingeteilt worden, die sich auf die Suche nach Basti machten. Frau Riezler eilte mit zwei Bergführern zum 300 Meter höher gelegenen Wald, während die anderen die Almwiesen absuchen sollten. Im ganzen Tal hallten: „Basti, Basti“-Rufe, doch der Junge hörte sie nicht.
Basti hatte seinen Hund zwischenzeitlich erreicht und fand ihn stark blutend mit der rechten Vorderpfote in einer Fuchsfalle gefangen. Natürlich schaffte es der Junge nicht, die Falle zu öffnen. Er war nicht stark genug, aber er wollte Rolf auch nicht allein zurück lassen. Was sollte er tun? Da kam ihm die rettende Idee: der Steinadler! Basti wußte, dass der Vogel irgendwo in der Nähe sein würde. Er kroch aus dem Unterholz und ahmte den Ruf des Adlers nach. Und tatsächlich zeigte sich der Vogel. „Jetzt zeig‘, was ich dir beigebracht habe“, rief Basti seinem gefiederten Freund zu und warf seinen Seppelhut so hoch es ging in die Luft. Der Steinadler kannte das Spiel und erhob sich. Als Basti den Hut erneut warf, ergriff ihn der Vogel und flog damit in die Höhe. „Flieg, flieg!“, schrie Basti und ruderte auffordernd mit den Armen. Der Steinadler hielt den Hut in den Krallen und kreiste am Himmel, genau über der Stelle, wo sich der Junge nun wieder um seinen Hund kümmerte.
„Mein Gott, mein Junge! Da schaut!“, rief Frau Riezler. Sie hatte den Adler am Himmel entdeckt. Jetzt dauerte es nicht mehr lange und die Gruppe hatte den Jungen und seinen Hund gefunden. Die Mutter wußte nicht, ob sie schimpfen oder sich nur freuen sollte; ihr Junge war unversehrt. Rolf wurde befreit und die Wunde versorgt. Dann gingen alle ins Dorf zurück, Basti trug seinen Hund.
Am Abend saßen Frau Riezler und Basti zusammen in der Stube. Die Mutter erzählte, wie sehr sie sich gesorgt hatte und nahm dem Jungen das Versprechen ab, die Schule nicht mehr zu schwänzen. Basti versprach es hoch und heilig.
Zwei Tage später stand der Junge wieder früh am Morgen auf der Almwiese. Strahlend blickte er dem Steinadler nach, der mit Basti’s Hut in den Krallen seine Kreise zog. Rolf saß mit verbundener Pfote dicht neben dem Jungen.
Es war Sonntag. Schulfrei.
(Puh, meine erste Geschichte...ich freue mich auf eure Kritik)