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Der Ausnahmezustand
Der Ausnahmezustand
„Guten Morgen, meine Damen und Herren. Es ist 8.00 Uhr, sie hören die Nachrichten“.
Inga atmete erleichtert auf, ihre erstarrte Körperhaltung entspannte sich ein wenig. Seit der Dämmerung schon war sie wach und lauschte angespannt den Geräuschen der Nacht, wartete auf schnelle Schritte, die sich ihrem Haus näherten, auf den sogenannten „Zugriff“. Manchmal, so wie an diesem Morgen, trieb die Angst sie aus dem Bett. Dann ging sie nach unten und setzte sich an den großen Tisch. Ohne die kalte Nachtluft zu spüren, wie in Trance, den Blick nach innen gerichtet, kämpfte sie mit ihrer Verzweiflung.
Sie kamen immer im Morgengrauen, das wusste Inga von den anderen Müttern.
Für heute war die Gefahr also vorüber. Sie konnte sich in Ruhe ihrem Alltag zuwenden, der ihr so willkommen war in den letzten Tagen. Diese eintönigen Arbeiten, die sie mit ungewöhnlichem Eifer und nie gekannter Überzeugung ihrer Rolle erledigte, gaben ihr das Gefühl, etwas wirklich gut zu machen, ihr Versagen zu mindern. Manchmal hörte sie eine Stimme in ihrem Inneren sagen: „Ich kann nicht mehr, lasst mich in Ruhe“. Dann sehnte sie sich nach Einsamkeit, dem kühlen Wind und dem Meer. Niemand würde sie kennen und mit dem Finger auf ihre Familie zeigen, niemand Entscheidungen von ihr verlangen. Entschlossen erhob sich Inga von ihrem Stuhl, auf dem sie so lange bewegungslos ausgeharrt hatte, schaltete das Radio ein und plante den kommenden Tag. Es gab viel zu tun, sie wollte einen gesunden Eintopf zubereiten, dazu noch eine aufwändige Nachspeise. Sie würde keine Mühen scheuen, denn die gemeinsamen Mahlzeiten waren zum wichtigsten Tagespunkt geworden. Sonst eher nebenbei erledigt, glichen sie jetzt in dieser schwierigen Zeit einer Art geheimen Zusammenkunft, die peinlich genau von jedem Familienmitglied eingehalten wurde.
Die Morgensonne schien bereits verlockend warm durch das Fenster. Inga holte das Gemüse aus dem Kühlschrank und ließ sich auf der Terrasse nieder. Sie war dankbar für diese seltenen Minuten, die nur ihr gehörten. Niemand rührte sich im Haus, nur der Hund seufzte zufrieden. Früher hatte sie diese Gelegenheiten genutzt, um ganz in ihre eigene Welt abzutauchen, aus dem Haus zu laufen... unerreichbar zu sein und sich genauso zu fühlen, wie damals als Kind, unbeschwert und sorglos....
Während Inga widerspenstige Bohnen in Stücke schnitt, ließ sie ihre Blicke schweifen. Die ersten Tau überzogenen Spinnweben erzählten vom Ende des Sommers, der Geruch von frischem Heu lag in der milden Augustluft. Wie schön der Garten doch geworden war in diesem Jahr. Viele Stunden hatte sie darin zugebracht, sie liebte diese Beschäftigung. Versunken, die Hände in der feuchten Erde, pflanzte und jätete sie. Manchmal sprach sie sogar leise mit den Pflanzen, rettete scheinbar hoffnungslose Fälle.
Ihrem Sohn hatte Inga nicht helfen können, vielleicht hatte sie es auch einfach nicht genügend versucht.
Es war ein Morgen wie dieser gewesen vor genau zwei Jahren, vollkommen, sonnig, hellblau. Inga hatte mit ihrem Mann Enno an dem großen Tisch in der Küche gesessen, als Sven herunterkam. Sie mußte nichts erklären. In seinen Augen konnte sie erkennen, dass er wusste, was geschehen war.
Niemals würde Inga diese Minuten vergessen können...
Sven tat so, als bemerke er die stumme Verzweiflung nicht in Ingas Gesicht. Er fragte auch nicht, warum sie schon so früh aufgestanden waren an diesem Samstag Morgen, zu gefährlich wäre die Antwort gewesen.
„Ich habe Dein Auto gestern geputzt“, sagte er stattdessen zu Enno. “So wie Du es wolltest, schau ihn Dir mal an, der ist fast wie neu, innen und außen.“ Umständlich schlüpfte er dabei in seine Schuhe, wobei er sie heimlich aus den Augenwinkeln beobachtete. Inga sah, wie seine Mundwinkel zuckten. Schnell drehte er den Kopf zur Seite und mit einer kurzen Bewegung seiner Hand wischte er sich verstohlen die Tränen aus den Augen.
„Oh ja, danke, die versprochenen 25 Euro gebe ich Dir später“, antwortete Enno, so als wäre nichts geschehen, als hätte er nicht vor einer Stunde seinen Ehering abgestreift und auf das Fensterbrett in ihren Schlafzimmer gelegt, um plötzlich und unerwartet für immer zu gehen.
Inga wollte aufspringen und schreien: „Neeeiin....!!!“ Bitte nicht! Das hält er nicht noch einmal aus! Verdammt noch mal! Er ist doch noch so jung!“ Ihr Herz krampfte sich zusammen, der Schmerz war so unsagbar stark..., sie konnte nicht helfen...., es nicht verhindern.
Irgendetwas in ihr starb genau in dieser Sekunde.... Statt dessen blieb sie einfach sitzen, ihre Fingernägel gruben sich tief in ihre Handballen; sie versuchte zu lächeln, aber ihre Augen verrieten sie.
Warum quälte sie diese alte Geschichte immer wieder in den vergangenen Tagen? Inga verscheuchte die verwirrenden Bilder und zwang ihre Aufmerksamkeit zurück in die Gegenwart. Sie musste sich konzentrieren, sonst machte sie unverzeihliche Fehler. So wie gestern..., als sie unvorsichtig früh mit einem Stapel frischer Wäsche in das Zimmer ihres Sohnes gegangen war.
Sven erwachte beinahe sofort, hob seine Arme abwehrend vor das Gesicht, jeden einzelnen Muskel seines Körpers angespannt wie ein Raubtier vor dem Sprung, starrte er sie mit weit aufgerissenen Augen an. Als er sie plötzlich erkannte, seufzte er ärgerlich und erleichtert zugleich :“ Mama, wie kannst Du so früh hier hereinplatzen, willst Du, dass ich einen Herzinfarkt kriege?“ Dann drehte er sich träge um und vergrub seinen blonden Schopf wieder zwischen den Kissen des riesigen Doppelbettes. Ingas Augen ruhten für eine kurze Weile auf dem schon fast erwachsenen Körper, Bilder schossen durch ihren Kopf, Sven mit fünf Monaten in seinem Gitterbett, friedlich schlafend in der gleichen Stellung und für Sekundenbruchteile verschmolzen Vergangenheit und Gegenwart.
“Ich wollte Dir nur Deine Wäsche bringen“, murmelte sie entschuldigend und ging durch das Zimmer, vorbei an dem überquellenden Aschenbecher und lose verstreuten Kleidungsstücken, um ihren Stapel auf einem freien Platz abzulegen. Bemüht locker setzte sie hinzu: “Ich habe frische Brötchen gekauft und wenn Du willst, kannst Du später mit Peer Motorrad fahren“, und ließ die Tür viel zu laut hinter sich ins Schloß fallen.
„Verdammt“, fluchte Inga und schnippelte mit schnellen, ärgerlichen Bewegungen orangerote Möhrenscheiben zu den Bohnen in ihrer Schüssel. Vergeblich versuchte sie den Ausdruck in Svens Augen zu verdrängen..., diese stumme, panische Angst.
Sie mußte einen Weg finden..., es durfte nicht geschehen....
Er habe gegen geltendes Recht verstoßen, hatte man ihr mitgeteilt, die Staatsanwaltschaft ermittle gegen ihn in Zusammenhang mit sogenannten "weichen Drogen." Einige seiner Freunde hatten sie schon abgeholt. In Ingas Gedanken tauchten Bilder auf von Polizisten mit Hunden, die ihr Haus durchstreiften, sie anblafften, in intimen Dingen wühlten. Viele werden es sein, mindestens zehn Mann, mit Waffen und Handschellen, dass hatten ihr die anderen Mütter erzählt. Welch ein Aufwand für einen 17-jährigen, dessen einziges Verbrechen darin bestand, im Stich gelassen worden zu sein...
Er konnte nichts dafür, dass es so weit gekommen war, davon war Inga überzeugt. Sie hätte stark sein müssen, stattdessen hatte sie sich davon geschlichen, weg von den Erinnerungen, die überall lauerten.
Wütend warf sie die Kartoffeln in das Sieb und stellte sich vor wie schön es wäre, alle Anschuldigungen von Sven abwaschen zu können wie die Erde von diesen schmutzigen Schalen. Aber das war unmöglich..., sie würden kommen..., das wusste sie. Nur wann, konnte ihr niemand sagen. Sie würden weiter warten müssen. Jeden Morgen nach 8.00 Uhr konnten sie aufatmen, bis es klingeln würde, eines Tages ziemlich früh....