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- 04.08.2001
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Der Auftrag
»Hallo?«
»Fischer? Ist da Fischer?«
»Wer ist da?«
»Jonas Fischer? Jonas?« Lachen. »Erkennst mich nicht, was? Schon so lange her, Käpt’n Fischer?«
»Andreas?«
Lachen.
»Verdammt, Andreas! Bist du das? Andreas Glawe?«
»Das is ‘ne Überraschung, was?«
»Jonas, du musst mir einen Gefallen tun. Nichts Großes, wahrscheinlich findest du Gefallen dran.«
»Das hört sich an, als wär’s gefährlich.«
Lachen. »Nein, ganz und gar nicht. Im Gegenteil. Ich fürchte, es wird eher langweilig werden.«
»Was ist es? Um der alten Zeiten willen?«
»Glaubst du an Geister, Jonas?«
»Was? Nein. Was soll die Frage?«
»Also nicht. Gut, durch und durch atheistisch, was?«
»Was meinst du mit Geister? Wie bei Bill Murray?«
»Nein, nein. Ich meine, hast du schon mal ‘nen Geist gesehen? Oder gehört. Spuk, paranormale Vorgänge, so ’n Zeugs. Du weißt schon.«
»Nein. Nein, weiß nicht. Ich bin kein Kind mehr, Andreas. Früher vielleicht, aber doch jetzt nicht mehr. Wie kommst du überhaupt darauf?«
»Junge, du wirst es nicht glauben! Wir haben alle unsere Dinger gemacht, nicht wahr? Kannst du dich noch an Schönbaum erinnern? Schönbaum, der Schöne. Hat ein Theater eröffnet, in Frankfurt. Ganz klein zwar, aber hör dir das an! Ein Theater!«
»Ja, ich hab davon gehört.«
»Und du, du hast eine Zeitung herausgegeben.«
»Ich war Chefredakteur. Und nur für zweieinhalb Jahre.«
»Na ja, aber immerhin. Eine eigene Zeitung!«
»Außerdem hat das Ganze kein gutes Ende genommen.«
»Ja, hab ich mitgekriegt. Aber du warst der Saubere in dem Spiel, oder?«
»Vielleicht, letzten Endes war ich aber der Chef. Und als solcher muss ich für meine Mitarbeiter gradestehen.«
»Ach, du bist überall gut weggekommen. Ich habe sämtliche Artikel über dich gelesen, nicht einer hat ein schlechtes Wort gebracht.«
»Was willst du, Andreas?«
»Tja, mein Lieber. So wie du deine Zeitung hast und der Schönbaum sein Theater, so hab ich mein Hotel.«
»Na, herzlichen Glückwunsch! Wie läuft es denn?«
»Gar nicht. Das ist ja das Problem. Es läuft noch gar nicht. Wir haben noch nicht eröffnet.«
»Das ist sehr mutig von dir, Andreas. Was kann ich nun für dich tun?«
»Ja, das ist es gerade. Das Hotel ist alt, weißt du. Alt, aber beileibe nicht baufällig. Na gut, ein paar kleine Umbauarbeiten mussten schon sein, aber im Grunde hätte es gleich in Betrieb gehen können.«
»Steht es leer?«
»Ja, es steht seit zwanzig Jahren leer. Keine Gäste, kein Betrieb. Aber eine wundervolle Anlage, sag ich dir. Das musst du gesehen haben!«
»Warum stand das Hotel zwanzig Jahre leer?«
»Pleite, mein Lieber. Die Leute erzählen sich dies und das über die Gebäude. Alles Unsinn natürlich, aber du weißt ja, wie die Menschen sind. Lass mal ein Haus ‘n paar Monate ohne Bewohner sein, dann gehen die dollsten Geschichten rum, nicht?«
»Was für Geschichten, Andreas?«
»Ja, jetzt kommst du ins Spiel. Die Leute sind so dumm. Wenn die Märchen über das Hotel weiterhin kursieren, ich glaube, dass es nicht gut ankommen wird. Die Schauerstorys werden bleiben, und keiner wird einchecken. Verstehst du, Negativ-Publicity.«
»Was denn für Schauergeschichten?«
»Na, wie gesagt, die Menschen halt. Keine Woche, nachdem das Hotel damals dichtgemacht hatte, ging die Runde, dass ein Mann zu Tode gekommen ist. Ganz schlimm, Blut und noch mehr. Keiner wusste, wer und niemand konnte sagen, wie.«
»Blut und noch mehr? Was soll das?«
»Und weil er keine Ruhe findet, geht er seitdem in den Häusern um. So ne billige Geistersache halt.«
»Andreas. Was habe ich mit der ganzen Sache zu tun?«
»Du bist Journalist, der Wahrheit verpflichtet.«
»Das ist nicht dein Ernst. Du weißt, was passiert ist. Da sprichst du von der Wahrheit?«
»Du warst der Gute in dem Spiel, Jonas. Zumindest für alle anderen, und das ist das Wichtigste! Du warst der Gute.«
»Das ist deine Ansicht, Andreas. Aber Tatsache ist, es gibt keinen Guten in dieser Sache, alle sind irgendwie schuldig. Was ist mit der Lügenpresse. Du weißt, die Stimmung ist aufgeheizt. Da kann so eine Angelegenheit nach hinten losgehen. Bist du dir dessen im Klaren?«
»Du scheinst kein Interesse zu haben. Hast du keine Zeit oder was? Zu viel zu tun, jede Menge Projekte?«
»Nein, weiß Gott nicht.«
»Na also, was hindert dich?«
»Was verlangst du?«
»Na also. Du sollst lediglich einige Tage in dem Hotel wohnen. Danach einen kleinen Artikel, was dir zugestoßen ist. Oder eben nicht. Die Leute lesen ihn und sehen ein, dass alles Humbug ist, das mit dem Geist und so.«
»Ich mache also für dich die Werbearbeit? Kann ich denn im Hotel übernachten?«
»Es ist fix und fertig eingerichtet, die Vorräte aufgefüllt, die Heizung und das Wasser sind angestellt. Du kannst sofort einziehen. Wir wollen spätestens nächsten Monat eröffnen. Darum wäre es schön, wenn der Artikel bald erscheinen kann.«
»Ich weiß nicht, das klingt alles ziemlich trivial …«
»Sehr gut! Pass auf: Ich kann nicht da sein, hab eine Konferenz in Venedig. Aber spätestens morgen Vormittag kann ich vorbeikommen und dir die Schlüssel langbringen.«
»Was denn, so schnell schon?«
Die Anlage war atemberaubend, Andreas hatte nicht übertrieben.
Ich erwischte auf Anhieb den richtigen Schlüssel und die schwere Eingangstür öffnete sich nur für mich.
So trat ich mit einem gewissen Hochgefühl in die Halle, und als ich auf die Rezeption zuging, klackerten meine Schuhe auf dem gewienerten Marmorfußboden.
Es war tatsächlich bestens eingerichtet, ein Augenblinzeln und die Lobby wäre angefüllt mit Gästen und zuvorkommendem Personal. Schwere Ledermöbel im vorderen Bereich, in der Höhe der Rezeption Wandverkleidungen aus gedunkeltem Kirschholz, in demselben Farbton der Arbeitsbereich des Concierge.
Ich stellte meinen einsamen Koffer vor den Tresen ab, und ich weiß nicht, welcher Teufel mich ritt. Ich sagte über das Pult hinweg: »Fischer, ich hatte reserviert.«
Albern, ohne Zweifel. Aber es gab mir das Gefühl, alles im Griff zu haben.
Eine Stimme sagte aus dem Hinterzimmer: »Werr sssind Sie?«, und ein alter Mann kam durch die Tür. Seine winzigen Augen blitzten über dem wüsten Bart und die Stiefel knarrten bei jedem Schritt.
Als er den Tresen erreicht hatte, sah ich, dass er abnorm klein war, um ein Maß zu sagen: vielleicht 1,60 Meter. Ich ging zwei Schritte zurück, weil der Zorn in seinen Augen mir keine Wahl ließ.
»Werr ssind Sie?«, fragte er noch einmal mit doppelter Wut in der Stimme. Ich hatte Angst, er könnte im nächsten Moment explodieren.
»Ich hatte nicht erwartet, jemanden hier anzutreffen«, sagte ich und kam wieder etwas näher. Mit möglichst ruhiger Stimme erklärte ich ihm, was ich hier suchte, und jeder Satz ließ sein Gesicht etwas freundlicher werden. Schließlich zeigten sich richtige Lachfalten um die Augen und der kleine bärtige Mann hinter der Rezeption konnte einem sogar etwas sympathisch sein.
Er kam hinter dem Tresen hervor, wie eine Gestalt aus einem Fantasyfilm.
Sein Name war Sergej und er war Russe. Zumindest erzählte er mir das. Ich hatte den Verdacht, der absurde Akzent und sein Name wären einzig ein Reklamegag und nur gut fürs Geschäft. Er führte mich in eine der Luxussuiten in der ersten Etage.
Das gesamte Hotel schien auf den großen Ansturm zu warten. So standen die Möbel lediglich abgedeckt durch saubere Laken, die Schilder waren angebracht und sogar das Schlummerlicht der Lichtschalter glomm vor sich hin.
»Hausmeistärrr«, erklärte der kleine Mann. »Nurrr Hausmeistärrr.« Und lächelte wieder. »Hausmeister in solch einem großen Hotel?«, fragte ich, während ich die paar Sachen aus meinem Koffer räumte. »Doch nicht der Einzige, oder?«
Er hatte einen Rollwagen vollgestopft mit Handtüchern und Waschlappen mitgebracht und bestückte die einzelnen Zimmer damit.
»Alläss nach und naaach«, quäkte er aus dem Bad. »Hatte genuug Zeit.«
Ich zog vorsichtig die Lade des klobigen Schreibtisches auf und strich mit trockenen Händen über die Bibel darin. Eine schlichte Ausgabe des Weltbestsellers.
Ich setzte mich aufs Bett.
»Wohnen Sie auch hier in der Anlage?«
Er streckte den Kopf aus dem Bad und grinste. »Nee, nee. Hab Wohnung in Stadt.«
Damit verschwand er wieder, bevor er mit dem Wagen herauskam und die Tür sanft schloss. Er drehte sich zu mir um und sagte: »Dafürrr bin ich nicht da.« Während ich noch überlegte, was er meinte, verließ er den Raum; ein Rad des Wägelchens quietschte.
Da war ich in dem Hotel angekommen, hatte eingecheckt und im Grunde wusste ich nicht, was ich hier sollte. Der Russe hatte nicht auf dem Plan gestanden, eigentlich hatte gar nichts auf dem Plan gestanden.
Ich hatte mir Arbeit mit hergenommen, von dem Bisschen, was mir noch geblieben war. Die Journalistengeschäfte liefen nicht gut, besonders, nachdem es die Redaktion unserer kleinen Zeitung erwischt hatte.
Glaubte ich an Geister? An Spuk, den ganzen Hokuspokus?
Natürlich nicht, hatte ich mir antworten wollen. Doch je länger ich nachdachte, musste ich zugeben, dass ich es nicht wusste. Ich hatte mir nie Gedanken gemacht.
Als ich nach unten kam, befand sich der kleine Russe schon im Aufbruch. »Wollen Sie schon nach Hause?« Es klang beklommener als ich mich fühlte.
Er wies auf die Uhr über der Theke, in der Tat, es war kurz vor acht.
»Aber wo bekomme ich jetzt etwas zu essen her?«
Er hatte etwas vorbereitet, eine Kleinigkeit nur, die in der Küche warmgestellt stand.
So saß ich zwanzig Minuten später allein inmitten der Stille, aß ein paar belegte Brote und trank in kleinen Schlucken Bier dazu.
Allmählich wurde es dunkel.
Ich hatte keine Angst, es war Neugier, vielleicht Unbehagen. Angst hat man, wenn etwas existiert.
Die Stille war allumfassend. In den vergangenen Monaten hatte ich Ruhe bis zum Überdruss gehabt. Doch diese hier war wohltuend und legte sich wie eine Watteschicht auf die Sinne.
Als ich durch die Gänge zu meinem Zimmer lief, sprangen die Schatten hinter Ecken hervor, verschwanden und tauchten hinter mir wieder auf, als das Licht automatisch erlosch. Ich schaltete den Fernseher ein, ausgerechnet der war zumindest in meiner Suite noch nicht angeschlossen. So blieb mir nichts anderes, als mich mit mir selbst zu beschäftigen. Ich nahm einige Texte vor, mit denen ich mich auf der journalistischen Bühne zurückmelden wollte. Ich versuchte, sie zu redigieren, scheiterte aber schon an den ersten Zeilen.
So wollte ich in Artikeln von Kollegen lesen. Es klappte nicht, ich konnte mich einfach nicht konzentrieren.
Was erwartete ich hier? Was erwartete mich?
Andreas hatte von einem Fluch erzählt, einer blutigen Geschichte, die so weit im Vagen blieb, dass sich der Zuhörer seine eigene Geschichte zusammenreimen konnte. Wie es immer ist bei derartigen Geschehnissen.
Das Hotel selbst war als Sanatorium erbaut worden und bestand schon über 100 Jahre. Eine wechselvolle Geschichte, mehrere Besitzer, dazu Vorkommnisse, die leicht aufgebauscht werden konnten. Voilà, fertig war das Schauermärchen.
Wenigstens einen plakativen Mord hatte es gegeben in diesen Mauern. Im Jahre 1945, kurz nach dem Krieg, fungierte der Komplex als Lazarett für Kriegsgeschädigte. Einer der Verletzten rammte seinem Arzt oder Pfleger eine Schere ins Gesicht. Blutrünstig genug, damit der Volksmund eine Rachestory daraus basteln konnte.
Weiß Gott, welche Geister den armen Teufel geritten hatten, seinen Helfer niederzustrecken. Darüber war nichts zu finden in der Bibliothek, die ich tags zuvor aufgesucht hatte. Auch nicht, was aus den beiden Protagonisten geworden war.
Ich nahm mir noch ein Bier aus der Zimmerbar. Dankenswerterweise hatte Andreas dafür gesorgt, dass sie gefüllt war. »Nimm dir, was du brauchst«, hatte er gesagt. »Ist genug da.«
Er musste es wichtig haben, dass ich eine Entlastung schrieb für sein Hotel, eine Entlastung von paranormalen Aktivitäten.
Ich duschte, putzte mir die Zähne und zog den mitgebrachten Pyjama an. Das alles tat ich schweigend und von Schweigen umgeben. Dann zog ich die Vorhänge zu, stieg in das große, bequeme Bett und löschte die Nachttischlampe.
Ich hatte nicht erwartet, schlafen zu können. Doch es dauerte keine fünf Minuten, in denen meine Gedanken umherirrten wie Ameisen, bis ich wegdämmerte.
Eine Szene im Kopf schlief ich ein: Als Kind hatte ich furchtbare Angst vor Monstern, vor Geistern und Gespenstern. Ein Ritual vor dem Einschlafen war es daher für mich, alle Mutationen und Ungeheuer in meinem Zimmer zu bitten, mit dem Erscheinen und Erschrecken zu warten, bis ich eingeschlafen war. Danke für das Verständnis!
Ich erwachte von einem Geräusch, das ich im ersten Moment nicht deuten konnte. Es war halb drei, der gleichmäßige Ton war der Regen, der aufs Fensterbrett schlug.
Ich schlief wieder ein.
Nach dem Frühstück am Morgen (der kleine Russe Sergej hatte tatsächlich daran gedacht und abends schon welches vorbereitet), ging ich auf Wanderschaft durch das Objekt. Die Anlage bestand aus vier Häusern inmitten eines schön angelegten Parks. Sie waren nach und nach vor über einem Jahrhundert innerhalb von 12 Jahren erbaut, sahen jedes einzelne wie die Villa eines Industriellen aus und mit ihren efeuberankten Fassaden, den halb geschlossenen riesigen Fenstern und der Stille, abgelegen von jeder Verkehrsader, schien das gesamte Objekt zu schlafen. Ich fragte mich, wie es wohl gesichert sei, als ich die Kieswege entlangschlenderte. Doch da sah ich schon den riesigen Zaun mit aufgesetztem Stacheldraht, der an manchen Stellen zu sehen war. Er störte ein bisschen das Bild und brachte Rohheit in die Szenerie.
Nur von Ferne war Straßenlärm zu hören, gerade so laut, dass er die Stille unterstrich.
Als ich unter dem Fenster meines Zimmers vorbeikam, fiel mir auf, dass der Boden trocken war, nichts deutete darauf hin, dass es in der Nacht geregnet hatte.
Für drei der vier Häuser waren Schlüssel an dem Bund, den Andreas mir gegeben hatte. Das fand ich heraus durch das Prinzip Versuch und Irrtum. Alle drei waren Bettenhäuser, edel eingerichtet, bis auf das letzte Laken mit dem Besten ausgestattet und in der Erwartung der Gäste begriffen.
Natürlich interessierte mich das vierte, das verschlossene Haus. Das Geheimnis, das Tabu.
Es war kleiner als seine drei Kollegen, stand im Hintergrund, umrahmt von hohen Tannen und im Gegensatz zu den anderen waren seine Fenster verriegelt und mit Gittern geschützt.
Oha, dachte ich bei mir, was hat er hier zu verbergen?
Ich fragte Sergej danach, als er gegen Mittag auftauchte. Hatte er bis dahin gute Laune gehabt, verdunkelte sich sein Gesicht in dem Moment und er wurde abweisend.
»Nix wiessen«, kam es aus seinem Bart.
Wir aßen zu Mittag (aufgewärmte Suppe, sehr köstlich!) und danach besserte sich seine Stimmung wieder, sodass ich ihn zu fragen wagte, was es mit dem Spuk auf sich habe.
Er räumte das Geschirr in eine kleine Spüle. Gedankenverloren begann er abzuwaschen – zwei Teller, eine Kelle, zwei Löffel.
Um das Bild komplett zu machen, stellte ich mich neben ihn und trocknete das Geschirr ab.
»Nun?«, fragte ich lächelnd.
Er schüttelte die Hände trocken und krempelte seine Ärmel herunter. »Nix wiessen«, sagte er, als ob ich das noch nicht kannte.
Am Nachmittag rief Andreas auf meinem Handy an. Aufgeräumt, wie ich ihn kannte und um keine Antwort verlegen.
»Du hast mir nicht erzählt, dass ich in dem Hotel erwartet werden würde«, meinte ich nach dem Statusbericht nebenbei.
Ein Schweigen aus dem Hörer. Dann sagte er: »Was meinst du?«
»Den kleinen Russen meine ich. Der hier sauber macht und auf alles aufpasst.«
Er lachte. »Ach, Sergej. Den hatte ich wirklich total vergessen.« Und er lachte noch einmal. »Der schaut ein bisschen nach dem Rechten, ja.«
Als das Gespräch beendet war, fiel mir das vierte Haus wieder ein, nach dem ich ihn hatte fragen wollen. Ich überlegte, ob ich ihn noch einmal anrufen sollte, doch er hatte gehetzt gewirkt und die Sache würde warten können.
Das Haus, in dem ich untergebracht war - ein Koloss mit zwölf Zimmern, nein Suiten - war am imposantesten und stand direkt hinter dem Eingang zum Gelände. Ich machte mich auf einen Erkundungsgang. Sergej werkelte im Keller, also war ich ungestört.
Drei Etagen hatte das Haus, in jeder der beiden oberen befanden sich fünf und im Erdgeschoss zwei Zimmer. Unten waren noch der Empfang, der Frühstücksraum, dazu diverse Konferenzräume und eine exquisite Bar. Alle vollständig ausgestattet.
Das musste seinen Preis haben, Andreas hatte ganz sicher finanzkräftige Partner. Wie er vor denen rechtfertigte, das Hotel so lange geschlossen zu halten, bis ich meinen Bericht geschrieben hatte, war mir schleierhaft. Jeder Tag war ein verlorener und musste Unsummen kosten.
Auf der anderen Seite war es natürlich auch möglich, dass das negative Image der Gemäuer ein ebenso großer Risikofaktor war.
Gut vorstellbar, diese Mauern hier als Heimstatt eines Geistes zu sehen. Die gesamte Einrichtung atmete Dekadenz und Alter, das Ambiente war mit Absicht morbide gehalten, trotz der Exklusivität. Oder gerade deswegen.
Auf dem Flur der dritten Etage – mit Langflorteppich und dezenter Beleuchtung – hingen Porträts dreier Persönlichkeiten an der Wand. In unterschiedlichen Stilen waren Bilder von einer Frau und zwei Männern dort aufgehängt. Sie schienen aus der Gründerzeit des Sanatoriums zu stammen.
Ich stand vor den Gemälden und betrachtete sie eingehend. Sie wurden indirekt angestrahlt, das dezente Licht hob sie hervor, sodass sie beinahe lebendig schienen.
Die Frau hatte es mir angetan. Ihr Blick durchdrang mich, ihr spöttisches Lächeln meinte mich, in diesem Moment und in dieser Welt. Sie mochte zwanzig sein auf diesem Bild; das Haar hochtoupiert, kaum Schmuck und eine Miene, die es gewöhnt war, andere herabzusetzen. Ich trat einen Schritt zurück, ihr Blick verfolgte mich. Ich kam näher und sie schien es geahnt zu haben. Als ich mich den anderen Porträts zuwenden wollte, spürte ich ihre Augen in meiner Seite.
Endlich löste ich mich von den Bildern, ging den Gang zurück, die ausladende Treppe hinab in das Erdgeschoss. Eine volle Stunde hatte ich auf dem Flur zugebracht.
Gegen Abend setzte ich mich probehalber in die dunkle Bar. Ein kleiner, uriger Raum, der direkt an die Lobby anschloss.
Gedimmtes Licht schwebte auf mich zu, Sergej erschien hinter dem Tresen. Er war wirklich der gute Geist des Hauses.
»Wass wolen Ssie trinken?«, fragte er.
Ich setzte mich gerade auf und antwortete lächelnd: »Dasselbe, was Sie trinken, mein Freund.«
Durch seinen Bart hindurch meinte ich ein Grinsen zu erkennen, er drehte sich um und begann etwas einzuschenken.
Schließlich knallte er zwei Wodkagläser auf den Tresen und ließ seine Hände auf dem Holz liegen.
»Wodka?«, fragte ich.
»Wässsserjän«, antwortete er. »Kaalt, aber nicht eissig. Wie es ssein muus.«
Wir tranken. Auf ex. Und es schmeckte gar nicht widerlich, obwohl ich im Normalen wenig Alkohol trinke. Mir wurde warm, Sergej nahm die Gläser und füllte sie erneut.
»Haben Sie Familie, Sergej?« Mir war nach Reden zumute, nach Trinken vielleicht. Auf keinen Fall nach der Einsamkeit eines leeren Hotels.
Er schüttelte traurig den Kopf. Er machte Anstalten, das Glas zu erheben, doch ich wehrte ab. »Langsam«, sagte ich. »Wie sind Sie an diesen Job hier gekommen?«
Er stellte das Glas zurück und sah mich an. »Anzeige. In der Zeitung.«
»Kennen Sie Andreas … Herr Glawe schon länger?«
Noch ein Blick, intensiv, für wenigstens eine Minute. Dabei verzog sich die Miene hinter seinem Bart kein bisschen, es war, als starre er ins Leere.
»Mirrr ging es nicht guuut, damals. Ich war gerade angekoomen, abgehauen aus Russland.«
»Wann war das?«
»2008. Man hatte geglaubt, dass sich etwas ändern würde. Ich kam hierher und mir ging es schleeecht.«
Er nahm das Glas, betrachtete es, dann trank er es aus.
»Er warrr der Einzige, der mich ernst nahm, der mich ernst nimmt.«
Man kennt das, dachte ich. Der Freak ist dem der treueste Begleiter, der ihm das Gefühl gibt, gleichwertig zu sein.
Ich nippte an meinem Glas und auf eine Geste Sergejs trank ich es leer. Als er es erneut füllen wollte, hielt ich meine Hand darüber.
Er setzte die Flasche ab und nörgelte: »Bei unss sagt man, wenn man die Flasche ööffnet, muss man sie austrinken.«
»Ja, das kenne ich. Aber ihr sagt auch, wer Wodka in einer Runde trinkt mit weniger als drei Leuten, ist ein Säufer.«
Er lachte. Dabei fiel mir auf, dass seine Zähne nicht schlecht waren, zumindest die paar, die er noch hatte.
»Guuut gesssagt.«
Ich lachte ein bisschen mit, dann sagte ich: »Was hat es mit dem Spuk hier auf sich, Sergej. Sie wissen darüber doch Bescheid?«
Er schwieg.
»Sind Sie hier aus dem Ort?«
Sein Nicken war kaum zu erkennen. »Uunten, nahe der Hauptstraße.«
»So, so. Da erzählt man sich doch dies und jenes über das Gelände hier. Und Sie haben davon gehört.«
Ich schob ihm mein Glas hin, er nahm die Flasche und goss ein. Dann erzählte er.
»Seit ich hier wohne, seit fassst ssehn Jahren, höre ich davon. Ein ruheloser Geist soll hier umgehen, der Rache üben will. Wem er erscheint, iiist des Todes.«
»Rache? Wofür?«
»Ich weiß njicht. Die einen sagen so, andere so. Früher war das alles ein Sanatorium, dann ein Lazarett; nach dem Krieg gab es eine Menge Leichen. Viel Unrecht geschehen, viel Leiden.«
»Stammt die Legende aus dieser Zeit, als hier Soldaten behandelt wurden?«
»Chlaube schon. Es waren schlimme Zeiten, in denen schlimme Dinge geschahen.«
Er wischte mit der Hand auf der Theke herum. »Wie chaben Ssie Ihren Job verloren?« Unschuldig trank er sein Glas aus, seufzte zufrieden und blickte mich wieder an. »Chlawe sagt, Sie hätten Mist gebaut? Also, nicht direkt Ssie, Ihre Leute. Er sagt, er glaubt an Sie.«
Ich stöhnte. Da war es wieder, das Thema. Ich hatte sofort gewusst, dass es mich nie loslassen würde.
»Ja«, antwortete ich und rieb mir die Augen. »Herr Glawe hat recht. Ich hab Mist gebaut, auch wenn ich rechtlich unschuldig bin.«
»Was iiist passiiert?«
Ich versuchte ein Lächeln. »Ich war Chefredakteur einer kleinen Zeitung, damals. Provinzblatt, sozusagen. Aber für viele in der Bevölkerung ein Identitätsstifter. Die Dorfpostille.« Seinen fragenden Blick ignorierte ich. »Zwei Redakteure unter mir, aber eigentlich machten wir alle dieselbe Arbeit. Es gab da eine Rubrik, die war ziemlich beliebt: Nachgefragt. Wir fuhren über Land, interviewten die einfachen Leute. Jede Woche einen anderen. Fragten nach seiner Meinung über die absurdesten Themen und erhielten so ein recht stimmiges Bild der jeweiligen Person. Jede Woche eine andere.«
Ich nippte wieder an meinem Drink, stürzte ihn dann in einem Zug hinab. »Wir waren damit schließlich so beliebt, dass wir die Rubrik auf zweimal wöchentlich ausweiteten. Zweimal in der Woche fuhr einer von uns nach draußen und griff sich irgendjemanden von der Straße und fragte ihn aus. Oft wussten wir nicht mal seinen Namen. Er machte uns nur deutlich, was er von den gefragten Sachen hielt und das war meist nicht fein. Wir druckten alles, verschwiegen nichts. Und wurden damit immer bekannter, immer beliebter.«
Sergej hatte seinen Kopf in die Hand gestützt und sah mich verträumt an. »Was iiist schiefgelaufen?«
»Durch einen simplen Zufall kam raus, dass sich meine Redakteure viele der Interviews nur ausgedacht hatten. Sie waren gar nicht rausgegangen, sondern hatten die Gespräche mit den Leuten erfunden. Sie haben gelogen.«
Für Momente herrschte Schweigen. Sergej blickte auf den Tresen und dachte nach.
»Was iist so schlimm daran?«, fragte er schließlich.
Ich musste lachen. »Was ist los, Sergej? Haben Sie die letzten fünf Jahre hier verschlafen? Nichts mitbekommen von wegen Lügenpresse auf die Fresse?«
»Aber die Leute wollten unterhalten werden«, erwiderte er. »Und sie wurden unterhalten, nicht wahr?«
»Sie wollten informiert werden. Und sie wurden belogen.«
Ich schob ihm mein Glas rüber und er füllte beide noch einmal.
»Jedenfalls nahm ich meinen Hut. Die gesamte Redaktion wurde ausgetauscht, ich habe seitdem keinen Job mehr gehabt.«
»Hat Sie keiner genommen?«
»Ich habe mich nicht getraut, Sergej. Ich wusste nicht, ob ich es überhaupt wert war, zu schreiben, zu veröffentlichen. Vielleicht ist ja wirklich etwas dran an dem Vorwurf. Alles gelogen.«
Wir tranken. Ich merkte, dass der Zustand der seligen Trunkenheit langsam kippte. Ich wurde besoffen, und das konnte ich mir nicht leisten. Also brach ich den Abend ab und ging ins Bett.
Ich schreckte um 1 Uhr 14 aus dem Schlaf und wusste im ersten Moment nicht, was mich geweckt hatte. Sergej war nach Hause gegangen, er hatte mir für alle Fälle seine Handynummer dagelassen.
Sekunden später erfuhr ich, was mich gestört hatte. Ein hartes Klopfen ertönte, kurz und abgehackt, als schlüge jemand mit einem Hammer auf Holz.
Ich setzte mich im Dunkeln auf und lauschte. Nach einer kurzen Weile derselbe Schlag, lakonisch und wie herausgerissen aus jedem Geschehen.
Ich knipste das Licht an und versuchte mich zu orientieren. Allein, mindestens noch für sieben Stunden, die Nacht würde etwa bis halb fünf dauern, dann ging die Sonne auf.
Wieder ein Pochen, mir schien, als erklängen die Schläge in regelmäßigen Abständen. Also wartete ich den Nächsten ab und zählte die Sekunden. Nach sechsundzwanzig Sekunden klopfte es erneut. Ich zählte weiter und kam wieder auf sechsundzwanzig, bevor der nächste Schlag erscholl.
Ich versuchte es noch zwei Mal, jedes Mal kam ich bis sechsundzwanzig.
Jetzt hatte ich etwas herausgefunden, allerdings wusste ich nicht, was es bedeutete. Sechsundzwanzig Sekunden, ein regelmäßiges Schlagen. Die Ursachen konnten vielfältig sein, es gab nicht den geringsten Grund, anzunehmen, hier wären übernatürliche Kräfte am Werk.
Ein neues Klopfen, ohne jedes Echo. Ein Ton, ohne Botschaft.
Ich stand auf, und indem ich wie ein Hund den Kopf schief hielt, versuchte ich herauszufinden, woher das Geräusch stammte.
Es schien von überall zu tönen. Zunächst war ich der Meinung, es käme von oben, doch als ich mich darauf konzentrierte, hatte es die Richtung geändert und klang vom Fußboden aus.
Als ich die Tür öffnete und barfuß auf den Gang tappte, wurde der Ton nicht leiser oder änderte seine Herkunft.
Ich ging weiter. In der Lobby dasselbe, ebenso in der verwaisten, dunklen Bar. Überall ertönte das Klopfen. In derselben Lautstärke, immer im Abstand von sechsundzwanzig Sekunden.
Als ich mich am Tresen niederließ und überlegte, ob ich mir ein Glas einschenken sollte, schien das Schlagen leiser zu werden. Doch ich irrte, das stellte ich schnell fest.
Schließlich zog ich mir einen Kaffee aus der Maschine und zwang mich, analytisch an das Problem heranzugehen.
Was hatte ich? Ein mir unbekanntes Haus, eine vage Legende und ein Klopfen, das ich noch nicht lokalisieren konnte.
Die Fox-Schwestern hatten um die Hälfte des 19. Jahrhunderts den großen Boom der paranormalen Bewegung ausgelöst, indem sie mit einem Geist in ihrem Haus via Klopfen kommuniziert hatten. Sie hatten Fragen gestellt und die Erscheinung hatte ihnen geantwortet, indem sie in unterschiedlichen Folgen ein Klopfen hatte ertönen lassen.
Die ganze Welt wurde verrückt damals, zumindest die amerikanische. Die drei Schwestern wurden herumgereicht, mussten auf unzähligen Séancen ihre Künste darbieten und gelten noch heute in der Fachwelt als jene, die mit paranormalen Aktivitäten als Erste Geld verdienen konnten.
Das ging sehr lange gut, doch Ende des Jahrhunderts mussten sie zugeben, die Geräusche selbst erzeugt zu haben. Mit den Zehenknochen!
Ich konnte nicht ausschließen, dass es sich in meinem Fall um einen Poltergeist handelte, das konnte niemand. Doch ich hielt diese Möglichkeit für extrem unwahrscheinlich. Was kam außerdem in Betracht? Arbeitendes Gebäude? Dazu schienen mir die Geräusche zu regelmäßig und ohne Abweichung.
Irgendetwas war in Bewegung geraten und schlug gegeneinander? Das war schon eher denkbar. Allerdings müsste in diesem Falle eine Energiequelle anliegen, die den Gegenstand in der Bewegung hielt und in immer denselben Abständen schwingen ließ.
Ich war nicht sicher, doch auch diese Möglichkeit kam mir nicht allzu wahrscheinlich vor.
Sinnestäuschung?
Ich zog mein Handy heraus, schaltete den Sprachrekorder ein und hielt es in die Höhe. Damit nahm ich innerhalb von drei Minuten wenigstens fünfmal das Klopfen auf. Zufrieden steckte ich das Telefon wieder ein, räumte die leere Tasse weg und verließ die Bar.
In meinem Zimmer, begleitet von den halbminütlichen Schlägen, kam mir eine andere Idee.
Auch wenn ich mir dumm vorkam, musste ich es probieren.
Ich setzte mich in den Sessel am Schreibtisch und wartete ab.
Ein Schlag, dann rief ich: »Wer bist du?«
Ohne Hoffnung wartete ich auf das nächste Klopfen, doch es blieb aus. Erst nach weiteren sechsundzwanzig Sekunden ertönte ein Neues.
Ich war verblüfft. Das konnte Zufall sein, doch es war nicht anders erklärbar. Ich musste es weiter probieren.
Ich ließ die Schläge vergehen. Eine halbe Minute, noch einer, wieder eine halbe Minute, ein weiterer.
»Bist du ein Geist?«
In dem Moment war ich froh, dass ich allein war.
Das Klopfen blieb aus. Dafür schlug es nach zweiundfünfzig Sekunden zweimal direkt hintereinander.
Zwei Schläge, die mir den Atem raubten. Unglaublich, ich konnte es nicht fassen. Sollte ich mich tatsächlich mit einer unsichtbaren Wesenheit unterhalten?
Ich zwang mich ruhig zu bleiben, das war blanker Unsinn. Doch, nachdem es wieder gepoltert hatte, versuchte ich es erneut.
»Woher kommst du?«
Eine dumme Frage, zumindest, wenn man bedachte, dass der Geist nur mit Ja oder Nein antworten konnte. Das sah ich in dem Moment ein, als das Klopfen nach einer Pause normal ertönte.
»Kommst du von hier?«
Zweimaliges Pochen.
»Bist du schon lange hier?«
Zweimaliges Pochen.
»Warst du im Lazarett, als du hier warst?«
Wieder doppeltes Klopfen für ein Ja.
Damit hatte ich einiges herausgefunden.
Mir kamen wieder Zweifel. Bildete ich mir das Ganze ein? Hatte ich Halluzinationen, Bewusstseinsstörungen, die mit Sinnestäuschungen einhergingen? Das Ganze hier widersprach vollkommen meinen bisherigen Ansichten, meiner Überzeugung, ja meiner skeptischen Grundeinstellung. Ich hatte innerhalb von wenigen Minuten so ziemlich alles über Bord geworfen, was ich in meinem vormaligen Leben für richtig gehalten hatte.
Das Klopfen setzte sich fort. Immer schön nach sechsundzwanzig Sekunden
Ich setzte alles auf eine Karte: »Wurdest du getötet von jemandem, der in diesem Sanatorium behandelt wurde?«
Ein Aussetzer. Stille, kein Klopfen. Das war ein Ausbruch. Es dauerte zwei Minuten, bis endlich ein erneuter Schlag ertönte. Doch dieses Mal folgte ein weiterer und noch einer.
Plötzlich prasselte auf mich eine Salve herab wie ein Maschinengewehrfeuer. Immer lauter, immer schneller.
Peng-Peng-Peng-Peng … Immer weiter, als wollte er mich persönlich treffen. Ich hielt mir die Ohren zu, doch die Laute drangen unnachgiebig hindurch.
Und dann – Stille. Ein leichter Nachhall in meinen Ohren, doch sonst Grabesruhe.
Am Morgen fühlte ich mich zerschlagen, und mein nächtliches Erlebnis kam mir unwirklich vor. Hatte ich an einen Geist geglaubt?
Sergej sah genauso aus, wie ich mich fühlte. Er hatte offensichtlich zu Hause weitergefeiert; jetzt war er mürrisch und kurz angebunden.
»Wer sind die Personen auf den Bildern oben im Gang?«, wollte ich von ihm wissen, nachdem ich gut gefrühstückt hatte.
Er sah mich fragend an, schließlich stiegen wir die Treppen hinauf in die oberste Etage. Dort starrten uns die drei Personen an, doch nur die Dame hatte einen durchdringenden, lebhaften Blick.
Sergej machte eine Bewegung, die wohl bedeuten sollte: Ach, die meinen Sie.
»Frau Schönlieb«, schnarrte er. »Von.«
»Frau von Schönlieb?« Er nickte. »Wer ist sie? Warum hängt ihr Bild auf diesem Flur?«
Die Frau schien uns direkt zu betrachten und darauf zu warten, dass Sergej antwortete.
»Sssie chaat gegründet Sanatorium.«
Also stammte das Bild von der Wende zum Zwanzigsten Jahrhundert.
»Und die anderen beiden?«
»Die Sssöhne.«
Ich machte einen Bummel durch die Stadt vor den Toren des Hotels
Die Anlage befand sich abseits des Ortes, sodass ich einen strammen Fußmarsch hinlegen musste, doch er tat mir gut und ich bekam den Kopf frei.
Die Ortschaft war nicht groß. Ein Bäcker in der Innenstadt, daneben ein Fleischer. Die Kirche in Blickweite, das Rathaus zu dessen Füßen. Damit waren die Sehenswürdigkeiten aufgezählt.
Alles atmete Ruhe und Gelassenheit.
Im Bäcker ließ ich mir eine Tasse Kaffee geben und beobachtete die Leute.
Ich konnte mir gut vorstellen, dass in diesem Städtchen Gerüchte über einen Geist schnell Verbreitung finden und zu einer Schauermär aufgeblasen würden. Die Leute würden tuscheln, die Köpfe zusammenstecken und sich schließlich zurückziehen und den Komplex meiden. Gewiss keine gute Werbung.
Als ich auf dem Rückweg war, rief Andreas auf meinem Handy an. Ich bat ihn, es später zu versuchen, und als ich das Telefon wegstecken wollte, fiel mir die Aufnahme von gestern Nacht ein.
Ich ging ohne ein Wort an Sergej vorbei auf mein Zimmer und holte mit zitternden Händen das Telefon hervor.
Die Aufnahme war da, es war das Klopfen zu hören, wie ich es in Erinnerung hatte.
Ich hatte mich nicht getäuscht, doch es musste eine rationale Begründung für die Phänomene geben.
In meine Gedanken hinein klingelte das Handy. Andreas.
»Und, was Neues?«, fragte er aufgeräumt, als wüsste er Bescheid.
Ich erzählte ihm von den Bildern im Gang, Frau von Schönlieb.
»Ah«, sagte er. »Faszinierend nicht? Die Frau hat praktisch im Alleingang die Gründung des Heilsanatoriums auf den Weg gebracht. Ihr Mann war Vorstand eines Eisen- und Walzwerkes mit Sitz im Ruhrgebiet, und seine Gattin hatte es sich in den Kopf gesetzt, Verbesserungen für den einfachen Arbeiter zu schaffen. Sie gründete das Lungensanatorium in der Stadt, es wurde wohl an die zehn Jahre daran gebaut. Ich glaube, das letzte Gebäude wurde 1910 fertiggestellt.«
Er machte eine Pause, ich spürte, dass das noch nicht alles war.
»Sie war die gute Seele im Krankenheim. Ich habe Berichte gelesen, in denen sie wie eine Heilige dargestellt wurde. Hat sich gekümmert und so. Na ja, kannst dir ja vorstellen, dass sie ziemlich hoch angesehen war.«
»Auf dem Gemälde guckt sie nicht besonders glücklich.«
»Ja. Sie wurde krank, irgendeine Lähmung, die sie zeitweise sogar ans Bett fesselte. Das hatte zur Folge, dass sie sich nicht mehr um das Krankenhaus kümmern konnte. Als sie sich dann erholt hatte und vielleicht drei, vier Jahre später einen Besuch im Sanatorium machte, musste sie feststellen, dass ihre ursprüngliche Idee, dem einfachen Arbeiter einen Ausgleich zu bieten, nicht mehr ernst genommen wurde. Man nutzte das Gelände als Luxuskurheim für leitende Angestellte. Treibende Kraft war – du ahnst es – ihr Mann dabei.«
Er lachte leise, als hätte er einen Witz gemacht.
»Wann ist sie verstorben?«
»Oh, sie hat alle überlebt. Die Arbeiter, die Angestellten und auch ihr Mann waren schon tot, als sie 1966 ziemlich betagt starb. Sie hat noch miterlebt, wie aus zweien der Häuser ein Hotel geformt wurde. Damals lief das Geschäft noch ziemlich gut.«
Ich konnte sie mir vorstellen, wie sie im Rollstuhl saß, eingefallen und faltig, doch mit wachem Blick und demselben strengen Ausdruck, wie auf dem Gemälde.
»War sie vor Ort?«
»Ich denke ja. Sie hat nie von dem Objekt lassen können, war immer wieder wenigstens auf Besuch dort. Zum Schluss gehörten ihrer Familie nicht einmal mehr Anteile der Anlage.«
Eine starke Frau, die die Fäden in der Hand hatte. Hatte sie etwas mit den Vorgängen hier zu tun? Mit dem angeblichen Fluch?
Mit dem nächtlichen Klopfen?
Meine Überlegungen nahmen mich sosehr gefangen, dass ich versäumte, Andreas nach dem verschlossenen Gebäude zu fragen. Er brachte selbst das Gespräch drauf.
»Du wolltest wissen, was in dem hinteren Haus ist, nicht wahr?«
Ich schwieg. »Sergej hat mir davon erzählt. Wir stehen auch in ständigem Kontakt:«
Absurderweise kam ich mir betrogen vor. »Ja«, sagte ich tonlos.
»Schau dich selbst um! Sergej wird dir den Schlüssel geben. Aber erwarte nicht zu viel, keine Geheimnisse.« Er lachte.
Der Russe war schon fort, er hatte Abendbrot vorbereitet und war, ohne sich zu verabschieden, gegangen.
Auf dem Tresen lag einsam ein Schlüsselbund.
Ich versuchte zu arbeiten, nachdem ich gegessen hatte. Irgendwie musste es möglich sein, einen Artikel zu verfassen, der meine Reputation wiederherstellte. Er sollte einnehmend sein, spannend, ehrlich und sich, wenn möglich, mit Wahrheit und Betrug beschäftigen.
Ich hatte schon vor Tagen beschlossen, dass dies hier mein Thema sein sollte; Geisterglauben, Spuk und Scharlatanerie.
Doch wie sollte ich die Klopfzeichen darin unterbringen?
Es war schon dunkel, als ich mich entschloss, einen Abstecher ins verschlossene Haus zu machen.
Angenommen, nur angenommen, wir hatten es hier tatsächlich mit einem Geist zu tun, einem Geist in klassischem Sinne. Einer verlorenen Seele aus dem Jenseits, Überbleibsel eines Verstorbenen, der keine Ruhe findet und deshalb den Lebenden auf die Nerven geht.
Mir war klar, dass es andere Erklärungsansätze für Poltergeistphänomene gab.
Psychokinese. Das unbewusste Auslösen von mechanischen Effekten durch eine Person mit paranormalen Fähigkeiten. Die meist selbst davon gar nichts wusste.
Der Spuk von Rosenheim 1967 war wohl eines der bekanntesten Beispiele, zumindest scheinbar. Denn auch wenn alle Zutaten stimmten – Poltergeistphänomene wie Klopfen, unerklärliche Geräusche in der Telefonleitung, zum Schluss sogar das spontane Drehen von Bildern an der Wand und dazu ein frustrierter, latent wütender Jugendlicher in Person der Anwaltsgehilfin Annemarie Schaberl – erwies sich der Fall in rückwärtiger Betrachtung als Manipulation. Auch wenn das öffentlich nie so gesagt wurde, fanden sich in betreffender Anwaltspraxis doch entsprechende Utensilien.
Psychokinese? Das Hotel hier stand leer, und wenn ich mich selbst rausnahm, kam nur noch Sergej in Betracht als Medium. Unwahrscheinlich.
Andere natürliche Ursachen waren möglich.
Pareidolie ist ein Wesenszug des Menschen, der ihn in allen, auch zufälligen, Mustern nach einem Sinn suchen lässt. Eine Wolkenformation wird zu einem Walfisch, ein Gebüsch ist Hort für ein Gesicht und ein zufälliges Klopfen wird zu einer Art Morsecode.
Doch ich hatte die Zeit zwischen den Schlägen gemessen, ein unabhängiger Richter sozusagen. Ich hatte das Geräusch aufgenommen und konnte es jederzeit abspielen. Ich hatte das gesamte Gebäude durchsucht, um die Ursache des Phänomens zu finden. Ich hatte nichts gefunden, ich hatte mich vielmehr mit demjenigen unterhalten, der das Klopfen gesendet hatte. Auch wenn es eine primitive Unterhaltung gewesen war.
Die Nacht war klar und warm. Mücken begleiteten mich auf dem Weg zwischen den Häusern, zwei Fledermäuse zogen ihre flattrige Bahnen durch die Bäume.
Ich musste einige Male probieren, bis ich den richtigen Schlüssel gefunden hatte. Die Tür ging leicht und geräuschlos auf, das Licht flammte an, als ich den Schalter betätigte.
Jetzt, da ich den Schlüssel besaß, der Zugang für mich frei war, hatte das Geheimnis seinen Reiz verloren. Ich ging durchs Haus wie bei einem Museumsbesuch.
Und wie ein Museum zeigten sich die drei Stockwerke auch; überall war Krimskrams abgestellt, allerlei Inventar, Utensilien, Werkzeug und Schriftkram – eine große Rumpelkammer. Es war eine Enttäuschung.
Die oberste Etage erwies sich als die aufgeräumteste. In weiten Reihen standen Regale mit Akten, Schränken und Ablagen.
Kurz stöberte ich in einer Schublade herum, doch fand ich nichts Aufregendes.
Wie gesagt, eine Enttäuschung, doch was hatte ich erwartet?
Mit einem bitteren Gefühl ging ich zu Bett. Ich las ein Weilchen, im Inneren wartete ich auf ein Klopfen, doch nichts geschah.
Also knipste ich die Nachttischlampe aus und versuchte zu schlafen.
Ich schreckte hoch und sah im selben Moment die Gestalt am Fußende meines Bettes im Mondlicht sitzen. Ein Mann, übernatürlich groß, blickte mich an und lächelte stumm.
Als ich das Licht einschaltete, war er verschwunden. Dafür klopfte es. Einmal, nach sechsundzwanzig Sekunden ein nächstes Mal und in demselben Abstand immer weiter.
Hastig verließ ich das Bett und in atemlosem Tempo durchsuchte ich wieder alle Etagen des Gebäudes. Besonders das Zimmer über dem meinen, die angrenzenden und das, welches darunter lag.
Ich fand nichts; dafür begleitete das Klopfen mich durchs Gebäude.
Ich stürzte in mein Zimmer, warf mich in das Bett und verkroch mich unter die Decke. Wie ein Kind, das Angst hat vorm bösen Geist.
Doch das Klopfen kam hinterher, bis unter die Daunen.
Nach Augenblicken der Panik schlug ich die Bettdecke zurück und zwang mich, ruhig zu atmen. Was sollte mir passieren?
Es klopfte wieder. Ich fragte mit fester Stimme: »Hast du etwas mit dem Mord im Lazarett zu tun? Nach dem Krieg?«
Das Klopfen blieb aus, nicht nur für eine Minute, es schlug gar nicht mehr, als hätte der Geist sich verzogen.
Während ich in dem Bett saß und nachdachte, fiel mir ein, wie ich weiter vorgehen könnte, auf welchem Wege ich zu Informationen gelangen konnte.
Das verschlossene Haus! Die Registratur in der obersten Etage, dort sollte ich Daten, Namen und Fakten finden, die mich weiterführen könnten.
Ich suchte mir eine Taschenlampe (ich war nicht sicher, wofür, ich war ja kein Einbrecher), zog mich an und machte mich zum zweiten Mal in dieser Nacht auf den Weg. Es war kurz nach zwei, totenstill und das Haus am Ende des Weges schien auf mich zu warten.
Ich wurde fündig. In einem Maße, das ich nicht erwartet hatte.
Hier lagerten Krankenakten von fast hundert Jahren, Fallblätter aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und sogar Aufzeichnungen aus den Jahrzehnten, als die Anlage ein Hotel war.
Frau von Schönlieb schien tatsächlich von Beginn an die gute Mutter zu sein. Überall tauchte ihr Name auf, sie kümmerte sich um jeden schwierigen Fall. Sogar bei der Einstellung von Personal fand ich ihre schwungvolle Unterschrift und gelegentlich kurze Randbemerkungen von ihr.
So ging das einige Jahre, bis ihr Name abrupt verschwand. Ich blätterte Papiere vom Reichsministerium für Volksgesundheit durch, Notizen von Fachärzten und Schreiben von ehemaligen Patienten. Nichts.
Dann, während des Krieges, 1943, als aus dem Objekt ein rückwärtiges Lazarett für Offiziere gemacht worden war, tauchte sie unvermittelt wieder auf. Sie unterschrieb Krankenakten neben den Ärzten, machte Notizen und legte sogar selbstständig Memos an.
Als sei sie nie weg gewesen. Ich vermutete, dass der Tod ihres Gatten damit zusammenhing, und nach kurzer, intensiver Suche fand ich einen Zeitungsausschnitt mit der großflächigen Todesanzeige des Industriellen.
Mich interessierte der Vorfall, von dem ich in meiner kurzen Recherche vor der Reise hierher erfahren hatte. In den Krankenakten wurde ich fündig: Ein Gisbert Walls, geboren 1925, lag wegen glatten Schulterdurchschusses seit Ende 1944 im Heim. Er machte Fortschritte in Mitte 45, doch plötzlich kamen Unstimmigkeiten auf. Der Arzt schrieb von Vorwürfen, die der junge Mann gegen einen Sanitäter erhob. Frau von Schönlieb schrieb dagegen, sie hielt diese Vorwürfe für ungerechtfertigt und attestierte Walls eine ausgewachsene Paranoia. Krankhaft, nicht behandelbar.
Die Vorwürfe, die der Junge erhob, waren nebelhaft und etwas unkonkret, wenn man die damalige Zeit aber beachtete, waren sie eindeutig. Es ging um sexuellen Missbrauch durch den Sanitäter. Wenn man Gisbert Walls nur die Hälfte von dem glaubte, was er zu Protokoll gegeben hatte, dann musste er furchtbar gelitten haben unter den Nötigungen.
Schließlich stach er den Pfleger mit einer Schere nieder. Das Überraschende war, dass der Pfleger überlebte, seine Spur verlor sich in den Akten. Wie es schien, wurde er, nachdem er genesen war, aus dem Lazarett entfernt, und tauchte zumindest in diesen Akten nicht mehr auf.
Gisbert Walls starb drei Monate nach seinem Angriff auf den Sanitäter an einer zu spät erkannten Blutvergiftung. Keine weiteren Akten, keine Angehörigen, wenn ich alles richtig las, war er anonym beerdigt worden.
Hier lagerte ein Schatz, das wusste sicher auch Andreas, er musste die gesamten Akten, die Papiere, alten Zeitungsausschnitte und Dokumente mit dem Objekt übernommen haben.
Mit dem guten Gefühl, etwas herausgefunden zu haben, kehrte ich in das Hauptgebäude zurück. Ich konnte nicht anders, ich musste in der Bar anhalten. Ohne groß Licht zu machen, setzte ich mich an den Tresen und goss mir einen Wodka ein. Als ich das Glas ansetzte, sah ich im Spiegel direkt vor mir eine Gestalt vorbeihuschen. Jemand schlüpfte am erleuchteten Ausgang zur Lobby vorbei. Ein kleiner Mann und der Gegenstand, der aus seinem Gesicht ragte, den er mit beiden Händen umschloss, schien eine Schere zu sein.
Ganz kurz wandte er sich mir zu und ich schaute in das entsetzte Auge Sergejs.
Ich schnellte herum, das Glas fiel zu Boden, doch der Russe war fort.
Ich lief ihm hinterher, meine Rufe hallten von den Wänden, sonst war es totenstill.
Ich durchsuchte wieder einmal das Gebäude, rief im obersten Flur und auf den anderen Etagen, der Russe war nicht auffindbar.
Mit zitternden Händen holte ich mein Handy hervor, wählte Sergejs Nummer und hörte nur das einsame Klingeln aus dem Hörer.
Ich legte auf, wählte Andreas an. Obgleich es halb vier Uhr früh war, ging er sofort dran.
Ich schaffte es, ihm halbwegs verständlich zu machen, was passiert war. Schweigen auf der anderen Seite. Dann: »Du täuschst dich.«
»Nein, Andreas. Ich habe ihn deutlich gesehen. Er irrt hier irgendwo durch das Gelände mit einer Schere im Auge. Er geht nicht an sein Telefon.«
»Warte.«
Er legte auf, der Ton aus dem Hörer war nervtötend.
Ich setzte mich an die dunkle Bar zurück.
Andreas war im Unrecht, die Gestalt des Russen war deutlich erkennbar gewesen. Ich hatte sogar den schmerzverzerrten Ausdruck in dem einen Auge erkannt. Das konnte keine Täuschung gewesen sein.
Das Handy klingelte mich aus meine Gedanken.
»Was du nur hast?« Sein Ton war leicht spöttisch, dass ich mir dumm vorkam. »Sergej liegt brav in seinem Bett und fragt, was hier vorgeht.« Er lachte.
»Ich habe versucht, ihn zu erreichen. Das Telefon hat Dutzende Male geklingelt.«
»Jonas, du hast dich geirrt.« Eine Pause, die wohl zur Beruhigung sein sollte, doch mich regte sie um so mehr auf. »Es ist ganz normal, dass du überspannt bist, allein in einer fremden Umgebung.«
Jack Torrance fiel mir ein, Kings Protagonist aus »Shining«, dem Bestseller aus den siebziger Jahren. Der war in ähnlicher Situation gewesen, hatte durchgedreht und versucht, seine Familie zu töten, mit der er in dem eingeschneiten Overlook-Hotel überwinterte. Drohte mir solch ein Schicksal? »Komm, leg dich hin, schlaf noch eine Runde. Ich werd dasselbe tun.«
Ich hörte ihn nur am Rande, im Zentrum meiner Aufmerksamkeit stand das Klopfen, das soeben wieder begonnen hatte. Sechsundzwanzig Sekunden lang Stille, dann wieder ein Schlag.
»Ich muss auflegen«, sagte ich, so ruhig ich konnte. Das »Schlaf gut« von ihm vermischte sich mit dem Piepen der Taste, als ich auflegte. Das Telefon legte ich auf den Tresen, ich trank den Wodka aus und stand auf, als ginge ich zu einem Rendezvous.
»Du bist tot?«, rief ich in die Stille hinein und der Geist antwortete mir mit einem zweifachen Klopfen. »Wurdest du ermordet?«
Das Klopfen blieb aus. Stille, die sich ausbreitete.
Warum hatte ich Andreas dieses Geräusch nicht vorgeführt, er hätte es am Telefon hören können, er hätte damit zugeben müssen, dass ich mich nicht täuschte.
Als Sergej am nächsten Morgen ins Hotel kam, sah er mich ebenso schief an, wie ich ihn. Wir verharrten in der Pose, versuchten herauszufinden, was der andere dachte.
Dann lächelte er breit. »Albtrrräume?«, fragte er freundlich und ich musste ebenfalls grinsen.
Beim Frühstück sagte er nebenbei: »Fürrrr mich gibt’s hier nicht mähr viel ssu tuun.« Als Andreas anrief, wurde mir diese Bemerkung etwas klarer. »Alles in Ordnung?«, fragte er. »Du hast nicht gut geklungen in der Nacht.«
»Es geht mir gut.«
»Hör zu, bist du so weit, deinen Artikel zu schreiben, Jonas? Die Zeit drängt, ich habe Leute, die mir im Nacken sitzen. Die Bank, und so, du weißt.«
Ich hätte es ahnen müssen, ich war nicht zum Vergnügen hier, die Gegenleistung fiel mir ein.
»Eine Nacht noch«, sagte ich. »Ich will … noch etwas überprüfen. Morgen überarbeite ich den Artikel und maile ihn dir. Morgen.«
Er wirkte unschlüssig. Sicher, ich konnte ihn verstehen, aber nach meinem jetzigen Erkenntnisstand würde ihm nicht gefallen, was ich zu schreiben hatte. Eigentlich war das der Todesstoß fürs Hotel, doch ich war fest entschlossen nur das zu berichten, wovon ich wirklich überzeugt war. Keine Lügen mehr.
»Brauchst du noch etwas? Soll ich Sergej Bescheid sagen, dass er sich um dich kümmert?«
»Nein, Andreas. Gib mir nur noch diese Nacht Zeit, dann sollst du deinen Artikel bekommen.«
»Also gut.« Ein Aufschub, ich war erleichtert. »Dann sprechen wir uns morgen wieder, und Jonas …«
»Ja?«
»Du musst mir den Artikel nicht schicken, du kannst ihn, wie vereinbart gleich veröffentlichen.«
»Aber …«
»Ich vertraue dir, Jonas.« Er legte die Betonung auf das »ich«.
Gisbert Walls hieß der Offizier, der 44 ins Lazarett gekommen war, sich erholte und schließlich von einem Sanitäter sexuell belästigt, wahrscheinlich sogar vergewaltigt worden war. Was dann folgte, war nicht eindeutig. Walls hatte dem Pfleger ins Gesicht gestochen, der überlebte. Soweit, so gut. Doch wie ging es weiter? Was wurde aus dem Sanitäter? Wie konnte sich Walls so schnell eine Blutvergiftung zuziehen, obwohl er doch auf dem Weg der Genesung war?
Und vor allen Dingen: Wie hieß der Vergewaltiger?
Ich suchte den ganzen Tag. Dabei musste ich aufpassen, nicht von einem Hundert ins Tausendste zu gelangen, so reichhaltig erwies sich das Archiv. Es war, als würde man über eine Suchmaschine im Internet eine Anfrage starten und immer neue Facetten desselben Problems zutage fördern.
Aus allen Zeitabschnitten fand ich Belege. Patientenakten, Mitarbeiterakten, Papiere der Architekten, der Baugeschäfte, Belege der Zulieferbetriebe, persönliche Notizen. Und immer wieder Ausschnitte, mitunter sogar ganze Zeitungen, in den späteren Jahren auch Zeitschriften. Die Geschichte des Hotels, Sanatoriums, Lazaretts lag ungeordnet auf drei Etagen vor mir und ich versuchte, in diesem Heuhaufen einen Namen zu finden.
Ich fand ihn, es war schon Abend. Sergej war hereingeschlichen und hatte sich verabschiedet. Ihm musste ich vorkommen wie ein Bergarbeiter.
Ich kriegte nicht mit, wie es dunkel wurde, automatisch knipste ich die Lampen an und hatte den Blick weiter auf das Papier gerichtet.
Ein Zeitungsausschnitt berichtete über den Vorfall mit Gisbert Wall. Es wurden keine Namen genannt, der Offizier war »ein Patient«, sein Rivale, der verletzt wurde, hieß »der Arzt«. Es ging um die hervorragende Pflege für die Verwundeten, die umfassende medizinische Versorgung und – unterschwellig – um die hin und wieder vorkommende Undankbarkeit der Genesenden. Das war der Wind, der vorgegeben wurde. Es wurde spekuliert, dass der »Patient« delirierte, unter Wahnvorstellungen litt oder sich einfach nur irrte. Schließlich war der Beschuldigte – der »Arzt« – der Sohn unserer überall beliebten Frau Mutter. Das allein machte ihn für den Verfasser der Zeilen unverdächtig. Gut, dachte ich bei mir, das war im Jahre 45 gewesen, siebzig Jahre in der Vergangenheit. Trotzdem konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich seitdem in puncto Meinungsbildung nicht viel geändert hatte.
Der Arzt wurde protektioniert, weil er Sohn einer hochgestellten Persönlichkeit war.
Frau Mutter, wer aber war diese Frau? Eine Ahnung hatte ich und sie wurde nach kurzem Suchen in demselben Karton zur Gewissheit.
Ein Artikel in eben jener Zeitung, etwas früher datiert, sprach in ein und demselben Satz von unserer geliebten Frau Mutter und Frau von Schönlieb.
Ich sortierte mir die Artikel und Akten heraus, die ich benötigte, um meine Theorien zu untermauern. Wo ich die Papiere nicht entnehmen konnte, machte ich Fotos mit meinem Handy.
Schließlich verließ ich das Gebäude. Die Nacht war mild und sehr dunkel, eine Grille zirpte auf dem Gelände, als ginge es um ihr Leben.
Während ich den Kiesweg hinaufging, dachte ich über meine Vermutung nach. Klar, dass sich jeder seine eigene Wahrheit konstruiert, das liegt in der Natur unseres Wahrnehmungsapparates. Niemand kann mit unerschütterlicher Sicherheit sagen, wie es da draußen, außerhalb seines Körpers, jenseits der Grenze seiner Haut, zugeht. Alle Nachrichten nach drinnen sind gefiltert. Und sind wir Herr über diese Filter, immer, zu jeder Zeit?
Natürlich nicht, aber man kann die Filter so durchlässig wie möglich machen. Die Dokumente, die ich mitgenommen oder fotografiert hatte, konnte ich jederzeit anschauen, sie waren real. Sicher konnten sie manipuliert sein, doch ich hatte mehrere Papiere, die auf dieselbe Wahrheit hinwiesen und dieselbe Geschichte erzählten.
Und ich hatte meine Beobachtungen.
Als ich an der Bar vorüberging, erfasst mich ein Schauder, die Kopfhaut kribbelte und mir wurde schlecht. Ich erwartete das Klopfen zu hören, als empfange mich ein alter Freund. Doch die Stille, die im Haus herrschte, war ebenso beredt. Ich musste mich an den Rechner machen, der Artikel sollte morgen früh fertig sein, sodass ich im Laufe des Tages noch einmal drüber gehen konnte.
In meinem Zimmer war Licht, in dem Bett lag jemand.
Meinen Impuls, mich umzudrehen und davonzulaufen, unterdrückte ich. Ich konnte mich zwingen, stehen zu bleiben und zum Bett zu schauen. Doch einen Schritt über die Schwelle zu tun, auf den Mann da zu, den Kranken offensichtlich, der in meinen Laken lag, das vermochte ich nicht. Ich stand nur da, starrte ihn an und war geblendet von der Nachttischleuchte, dem einzigen Licht im Zimmer.
Der Mann war blass, die wässrigen Augen leuchteten mich an. Er lächelte, doch er hatte keine Freude dabei. Es war hübsch, und doch war mir sein Gesicht völlig unbekannt.
Plötzlich streckte er mir die dünnen Arme entgegen. »Oh Gott, nein«, entfuhr es mir und ich zuckte nach hinten.
Er öffnete den Mund zu einem dunklen Loch, aber kein Ton war zu hören. Stattdessen begannen seine Hände zu zittern. Sie flatterten hin und her, wie zwei Täubchen im Käfig.
Ein Stöhnen kam von ihm, ganz so, als würde er sich anstrengen.
Und schließlich traten – zaghaft zunächst – zwei Gewächse aus seinen Fingern hervor. Anders kann ich es nicht beschreiben, aus jeder seiner Hände wuchs ein zusätzlicher Finger, zwei kleine, blinde Schlangen, die sich unaufhaltsam in meine Richtung arbeiteten. Sie wurden länger, wuchsen durch den Raum, immer weiter auf mich zu.
Und ich konnte sie nur reglos anstarren.
Die zwei Nattern wuchsen schnell und schließlich verharrten sie vor meinen Augen, leicht schwankend, als warteten sie auf etwas. Oder auf einen Befehl.
Plötzlich schossen sie nach vorn, trafen auf mein Gesicht und warfen mich um.
Ich lag, war nicht bewegungsfähig, allem und jedem ausgeliefert. Der Arzt kam, der nur Sanitäter war, von allen gefürchtet und doch in gehobener Stellung. Das Grinsen zeigte, was er vorhatte. Wieder einmal.
Er tat es, ich war wehrlos, mein Stöhnen verschluckte das Kissen.
Als der Druck zu groß wird, als ich es nicht aushalte, ziehe ich meine Hand unter der Matratze hervor.
Das entsetzte Gesicht – vielleicht hat er mir diese Bewegung nicht zugetraut, vielleicht scheint ihm die Schere bedrohlich – das Gesicht, vor das er die Hände schlägt, das Metall, das aus dem Auge ragt.
Die Schreie, als sie ihn wegzerren, die Mühe, die es mir bereitet, meine Blöße zu bedecken.
Gleich, nachdem der Sanitäter verschwunden war, kam die feine Dame in ihrem Rollstuhl hereingerollt. Mit unbeweglicher Miene musterte sie mich, betrachtete interessiert die Träne, die meine Wange hinabrann, schließlich verließ sie ebenso stumm das Zimmer.
Und die Ärzte, wie sie vor mir standen und über mich sprachen, als sei ich nicht da. Sie schüttelten die Köpfe, einer grinste. Und ich wurde schwach und schwächer.
Als ich erwachte, stand ich immer noch wie gelähmt mit diesen beiden langen Fingern auf meinem Gesicht. Sie pulsierten und fühlten sich warm an.
Ich begann zu schreien. Hastig zogen sich die Gewächse zurück, der Mann ließ die Arme sinken und fiel zurück in das Bett.
Ich war erschöpft, die Sinne drohten, mich zu verlassen. Mit beiden Händen hielt ich mich an der Tür fest.
Als ich aufblickte, war der Mann verschwunden, das Bett war leer und unberührt.
Wie schafft man es, in einem Bericht, die absolute Wahrheit darzustellen? Die Einzige, die jeden überzeugt? Ist es wichtig für den Inhalt einer Botschaft, die Einstellungen des Boten zu kennen? Die reine Wahrheit, gibt es sie?
Scheint es nicht möglich, dass es eine Art Energie gibt, die die Zeiten überdauert? Etwas Externes, das weiter existiert, wenn der Mensch zerfällt. Und das sich uns Lebenden bemerkbar macht, das wir erkennen können, sehen oder hören? Vielleicht auch nur erahnen.
So muss es sein, ich dachte an Gisbert Wall, seine Qualen, Demütigungen, der er erlitten hatte, seinen Tod.
War es möglich?
Ich versuchte, so gut und so objektiv es ging, meinen Bericht abzufassen. Dabei dachte ich nicht daran, wie er bei Andreas ankommen oder was er für sein Hotel bedeuten würde.
Ich schrieb alles auf.
Ich saß den ganzen Tag in meinem Zimmer, Sergej schaute zweimal herein und stellte das Essen auf den kleinen Tisch.
Gegen Mittag hatte ich die Rohfassung fertig, ich ließ sie liegen und ging einige Runden um den Block. Dann aß ich eine Kleinigkeit und danach nahm ich mir den Bericht noch einmal vor. Ich las ihn möglichst unvoreingenommen, anschließend ein zweites Mal. Dabei machte ich mir Notizen.
Die Überarbeitung des Artikels brauchte bis zum späten Abend, irgendwann sagte ich mir, dass weitere Korrekturen unnötig und vermutlich sogar schädlich wären. Und schloss das Dokument.
Ich verschickte es sofort, ich wollte nichts mehr damit zu tun haben. Eine Version an die Zeitung, eine an Andreas und eine Dritte schließlich an mich selbst.
In dem Moment, in dem ich das letzte Mal die Senden-Taste drückte, ging die Tür auf. Sergej schaute herein, um mir mitzuteilen, dass er jetzt nach Hause ginge.
Ich stand auf und nahm meinen gepackten Koffer in die Hand.
»Es ist vorbei«, sagte ich. Ich fühlte mich müde. »Es tut mir Leid.«
Er sah nicht so aus, als verstünde er.
Als ich das Hotel verließ, drehte ich mich nicht um. Ich wusste, dass ich nie mehr hierher kehren würde, obwohl mich eine Art Wehmut erfasste.
Ich meinte, alles richtig gemacht zu haben. Trotzdem der Bericht der Todesstoß für das Hotel sein würde, hatte ich ihn so verfasst, dass er der Wahrheit am nächsten kam. Ich war ehrlich gewesen, ohne auf den Preis zu achten.
»Auf Wiederrrsähn«, rief Sergej aus der Tür heraus.
Ohne zurückzuschauen winkte ich ihm über die Schulter zu.
»Jonas?«
»…«
»Hallo, Jonas. Ich wollte mich nur noch einmal bei dir bedanken, für die Ehrlichkeit in deinem Artikel und so. Na, du weißt schon.«
»Ich sollte nicht mehr mit dir sprechen, Andreas!«
»Ach, komm …«
»Du hast mich hintergangen.«
»Jonas, ich glaube nicht, …«
»Ausgenutzt! Meinst du, dass ich jetzt noch irgendwo einen Fuß auf den Boden kriege? Ich bin unmöglich gemacht worden. Durch dich und deine … Geldgeber.«
»Jonas, deshalb rufe ich an. Du könntest anfangen bei uns. Einen Job in der PR-Abteilung, gute Aufstiegschancen, anständiges Gehalt. Genau das Richtige für dich.«
»Was soll das Andreas? Ist das der nachträgliche Lohn für das Schauspiel, das du mir geboten hast?«
»Schauspiel? Ich habe dich lediglich gebeten, einen ehrlichen Bericht zu schreiben, mehr nicht. Das, was du erlebst im Hotel, solltest du festhalten, du bist Journalist. Du sollst aufschreiben, was du siehst.«
»Ja, da ist was dran. Aber wenn ich etwas aufschreibe, wenn ich Zuschauer bei etwas bin, dann muss ich sicher sein, dass mit ungezinkten Karten gespielt wird, dass man mir keine Komödie darbietet.«
»Komödie würde ich das nun nicht gerade nen …«
»Nein? Schmierentheater vielleicht? Betrug? Wie einem dummen Jungen habt ihr mir die Details vor die Nase gesetzt und darauf gewartet, dass ich das richtige für euch aufschreibe. So, siehst du, sagen sie, der Fischer hat geschrieben, in dem Hotel spukt es, ein Geist geht da um. Das dürfen wir uns nicht entgehen lassen, da müssen wir einchecken. Wie laufen die Geschäfte, Andreas? Ich denke, die Bücher sind voll, was? Buchungen ohne Ende? Und nur, weil der doofe Journalist das aufschrieb, was ihr ihm diktiert habt.«
»Jonas, alles was du aufgeschrieben hast, hast du erlebt, und du hast die Zeichen gedeutet.«
»Ich hätte rechtzeitig merken müssen, dass ihr von Anfang an geplant hattet, das Hotel so zu vermarkten. Ein Geist geht um in den Hallen, ein Geist mit Geschichte. Pah, alles erstunken« Die Akten, die Zeitungsausschnitte, alles habt ihr manipuliert und für mich zurechtgelegt.«
»Niemand hat dich gezwungen.«
»Und ich habe gedacht, ich wäre dem großen Geheimnis auf der Spur. Oh, Mann, ich kann froh sein, dass uns beiden daran liegt, dass niemand von dem Betrug erfährt.«
»Ich freue mich, dass du das so siehst.«
»Wie habt ihr die finale Szene hingekriegt?«
»Was?«
»Ich meine, ich habe deutlich vor mir gesehen, wie die Finger auf mich zukamen. Und dann lief alles wie ein Film vor meinen Augen ab, wie ein verdammter Film.«
»Oh, Jonas, mein Lieber. Du bist doch Journalist, ein Mann der Kreativität. Du unterschätzt noch immer die Macht der Fantasie. Das Entscheidende, das alles Verändernde ist die menschliche Fantasie!«
»Andreas, ruf mich bitte nie wieder an.«
»Jonas, überleg dir mein Angebot, die Türen stehen offen.«
»Lösch diese Nummer aus deinem Verzeichnis! Bitte.«