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Der Aufstand
Der Aufstand
Über dem Altersheim Seeblick lag an jenem Tag ein besonderer Frieden, fand Anne-Kathrin, als sie dieses Erlebnis ihrer besten Freundin erzählte.
Doch der Schein trog, die Pensionäre führten etwas im Schilde. In der ersten Juliwoche hatten sie alles ganz genau besprochen. Ihre Aktion sollte in der Nacht vom achten auf den neunten Juli starten, abends um zweiundzwanzig Uhr dreißig, nachdem die Nachtschwester Anne-Kathrin ihren Dienst angetreten hatte.
“Revolution im Altersheim! Das wäre doch gelacht, wenn uns der Aufstand nicht gelingen würde,” bemerkte Karl Gärtner, ein alter Mann hoch in den Achtzigern, der Rädelsführer dieses Aufstandes. Schließlich hatte er als junger Mann einschlägige Erfahrungen gesammelt. Sie würden Anne-Kathrin an Händen und Füßen fesseln, auf ihrem Stuhl festbinden, und wenn sie ihren Mund nicht halten würde, eine Einlage hineinstopfen. Bis zum nächsten Morgen um sechs hätten sie genug Zeit, um die Eingangstür und die Fenster im Erdgeschoß zu vernageln.
Um sechs, wenn die Oberschwester käme, würde sie einen Brief vor dem Eingang finden. Auf seinem Umschlag würde ‚persönlich’ und ‚sofort öffnen’ stehen. Spätestens, wenn sie bemerken würde, daß ihr Schlüssel die Tür nicht öffnet, würde sie den Brief lesen und erfahren, daß es eine Revolution gegeben hätte. “Sie solle bitte zum nächsten Telefon gehen, um weitere Anweisungen entgegenzunehmen,” würde die Anweisung lauten.
Am Heimtelefon würde Arthur sitzen, um ihr die Bedingungen vorzulesen, unter denen er und seine Leidensgenossen bereit wären, miteinander zu verhandeln: Sie wünschten, ihre Finanzen selber zu verwalten, die Hausordnung zu bestimmen und das Personal auszuwählen. Kurzum, sie wollten ihre Angelegenheit in die eigenen Hände nehmen und ihre Zukunft selbst gestalten. Das war das Ergebnis ihrer Überlegungen, die sie gemacht hatten, als sie darüber nachdachten, ob sie lieber tot oder lebendig begraben werden wollten. Einige bekamen feuchte Augen und erinnerten sich an ihre Jugend. Sie schrien: “Nieder mit der Bourgeoisie!” Karl meinte sich zu erinnern, daß dieser Schlachtruf zur Französischen Revolution gehörte. Doch schließlich war es egal, was sie riefen, Hauptsache, sie waren gemeinsam stark.
Bis zum Fesseln der Nachtschwester verlief alles reibungslos, doch dann passierte allerlei Unerwartetes. Erna schien verwirrt und wollte wissen, wann ihr Sohn endlich käme. Henry hatte vergessen, warum er aufstehen sollte und weigerte sich, sein warmes und gemütliches Bett zu verlassen. Elsbeth hatte Durchfall. Die halbblinde Lieselotte und die ängstliche Margarete versuchten, das Mißgeschick wegzuputzen. Herbert hielt den Gestank nicht aus und rief: “Ich verlasse mein Zimmer erst, wenn die Luft rein ist.”
Um fünf Uhr dreissig waren alle wach und einige ziemlich durcheinander. Zum Türen- und Fenstervernageln blieb keine Zeit mehr. Karl und Arthur befreiten schweren Herzens Anne-Kathrin. Sie schämten sich und fühlten sich ganz erbärmlich in ihrer Rolle als Aufständische, denen kein leibhaftiger Feind begegnet war. Sie hatten ihre Revolution selbst niedergeschlagen. Anne-Kathrin war empört und fand dieses Erlebnis gar nicht komisch. Eine gefesselte Nacht hinterläßt Spuren. Doch die Nachtschwester hatte ein großes Herz. Nachdem der erste Ärger verflogen war, verstand sie den Kummer der Pensionäre und versprach, der Oberschwester nichts von der ereignisreichen Nacht zu berichten.
“Bist du verrückt!” Unterbrach ihre beste Freundin die Erzählung, “das kannst du doch nicht machen. Die Alten müssen bestraft werden.”
“Ich bin ganz und gar nicht verrückt,” lächelte Anne-Kathrin ihre Freundin an. “Abgesehen davon, daß die Angelegenheit schon ein Jahr zurückliegt und Karl, der Anführer, längst gestorben ist, meine ich, in dieser Nacht etwas verstanden zu haben.”
Seit dieser Nacht nämlich hatten sich die Pensionäre und Anne-Kathrin viel zu erzählen. Es waren Geschichten vom Leben, von der Liebe, vom Schmerz, von der Hoffnung und vom Abschied.