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Der Aufstand des Schattens

Beitritt
05.03.2013
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Der Aufstand des Schattens

„I de hede Lande, der kan rigtignok solen brænde.“
(Hans Christian Andersen: Skyggen)
Die Hitze in südlichen Ländern kann Menschen aus dem Norden großen Schaden zufügen. Dies widerfuhr einem jungen Wissenschaftler beim Aufenthalt im Sommer in Venedig. Im milden Klima des Südens wollte der Lektor für theoretische Physik an der „Syddansk Universitet“ in Odense Kraft fürs neue Buch zu sammeln, das ihn mit einem Schlag weltberühmt machen sollte.
Er mietete ein Zimmer in der bescheidenen „Casa delle Favole“ mit Blick auf eine schmale Gasse, am Rande der Stadt gelegen, weit weg von den üblichen Touristenherbergen. Nach der Ankunft am frühen Nachmittag wanderte er voller Erwartungen auf südliche Lebenslust durch die Gassen. Plötzliche Schwindelanfälle und kurze Ohnmachten zwangen ihn, sich ins Bett zu legen. Er schrieb den Schwächeanfall der langen Reise zu. Nach einigen Stunden der Erholung trat er auf den Balkon hinaus. Die Leute flanierten durch die Gasse, diskutierten in Gruppen mit großer Theatralik, holten Stühle und Tische heraus und tranken in lustiger Runde Wein. Kinder jagten schreiend einem Ball nach, an einer Ecke sang eine kleine Gruppe neapolitanische Lieder, Kirchenglocken läuteten, aus offenen Fenstern drang Stimmengewirr von Fernsehfilmen: ein lautstarkes, ein fröhliches, ein wirkliches Leben! Wie viel freier und froher als in seiner kalten Heimat!
Als der junge Mann am nächsten Tag nun endlich die Stadt erkunden wollte, hinderten ihn Schwindel und Ohnmachtsanfälle wiederum daran. Er schleppte sich ins Zimmerchen zurück und verbrachte den Tag im Bett. Diesmal hielt er die Hitze für die Ursache seiner Schwäche. Schwitzend und vor sich hindämmernd lag er hinter verdunkelten Fenstern im Bett und wartete auf die abendliche Abkühlung. Abends auf dem Balkon freute er sich über die Lebenslust der Venezianer. Nur das Haus gegenüber erzeugte ein leichtes Unbehagen, dunkel und düster, wie es ihn anstarrte. „Eine unbewohnte Ruine“, beantwortete der Wirt die Frage nach dem gespenstischen Bauwerk.
Am nächsten Tag zwang die Hitze den Physiker nach einem kurzen Spaziergang ins Bett zurück. Dort überdachte er seine wissenschaftliche Absicht, hinter dem Chaos der Welt die Ordnungsprinzipien der Natur zu entdecken. Davon handelt die Doktorarbeit: „Geometrische Formen der Selbstorganisation in Natur und Gesellschaft“.
Eine Mädchenstimme begann, Märchen aus seiner Kinderzeit vorzutragen: „Lille Klaus og store Klaus“, „Snedronningen“, „Hyldemor“. Der sanfte, heimatliche Klang versetzte ihn in einen schwerelosen Zustand.
Deutlich sah er die Vorleserin neben dem Bett sitzen und aus einem Büchlein vortragen. Mit einem Händedruck wollte er sich bedanken. Seine Hand griff ins Leere.
Mit der Kühle der Nacht verschwand der Spuk. Das vage Gefühl, irgendetwas Wichtiges zu übersehen, beschäftigte ihn, als er die Stufen hinunterstieg, um in einer Trattoria zu essen. Nach dem Espresso mischte er sich unter die Flanierenden. Neidvoll beobachtete er diese Leichtlebigkeit und Lebensfreude.
Als er um Mitternacht auf den Balkon trat, schimmerte aus den Räumen des gegenüberliegenden Hauses Licht und es erklang leise Musik. Ein menschlicher Schatten wanderte durch die Zimmer und trat auf den Balkon. Mit freudigem Erstaunen erkannte der Physiker die Vorleserin. Er bewunderte im Dämmerlicht ihre makellose Figur, die ebenmäßigen Gesichtszüge und das tiefschwarze Haar. Sie winkte ihm. Er winkte zurück. Schlagartig brauste wilde Musik auf. Mit großartigen Sprüngen stürmte das Mädchen durch die beleuchteten Zimmer, drehte Pirouetten, reckte und streckte sich, als hätte sie die Gesetze der Schwerkraft überwunden. Mit wachsender Begierde verfiel der Mann aus dem Norden ihrer Schönheit. Sein Körper bebte, der Leib schüttelte sich und er sank besinnungslos zu Boden.
Die Sonnenstrahlen weckten ihn am frühen Morgen. Die Glieder schmerzten, der Kopf dröhnte und die Augen verdoppelten die Welt. Ermattet schleppte er sich zum Bett und verschlief die Hitze des Tages, ohne eine Geschichte gehört oder die Vorleserin gesehen zu haben. Sein Körper fühlte sich an, als wäre ein großes Stück aus ihm geschnitten worden.
Als er abends auf den Balkon trat, starrte ihn das Mädchen aus einem geöffneten Fenster der hell erleuchteten Wohnung regungslos an. Im Hintergrund dröhnte ein Potpourri bekannter Opernmelodien im Tanzrhythmus.
„Wirst du tanzen?“
Mit einem Ruck machte sie kehrt und setzte die Musik in wundervoll getanzte Figuren um. Alle Gefühlsregungen, zu denen Menschen fähig sind, drückte ihr Körper aus. Den Physiker packte eine gewaltige Sehnsucht. Er wollte die Tänzerin fest an sich drücken. Aus Leibeskräften schrie er ihr zu: „Ich komme!“ Kaum hatte er dies gerufen, verlosch das Licht. Die Musik verstummte. Die Tänzerin war nicht mehr zu sehen. Er durchsuchte das Haus. Es war leer.
Ermattet ging er zu Bett und schlief drei Tage lang, ohne das Mädchen gesehen oder eine Geschichte gehört zu haben.
*
Vorzeitig brach er den Aufenthalt in Venedig ab und flog in die heimatliche Kühle nach Odense zurück. Bei der Ankunft atmete er erleichtert auf. Die Hitze war ihm nicht zuträglich gewesen. Ihr schrieb er die Erschöpfung, die Ohnmachten und die Visionen von einer Vorleserin und Tänzerin zu. Der Süden macht mich krank, zog er das Resümee der Reise.
Noch am Abend der Rückkehr schrieb er die erste Seite des neuen Buches über die „Eleganz, Rationalität und Destruktivität nichtlinearer Verhaltensweisen von Körpern in unterschiedlichen Wärmezonen“. Zufriedenheit, sogar Glück, fand er in den festen Ordnungsgefügen wissenschaftlichen Arbeitens. Für ihn war die Welt ein Ort des Eindeutigen, Eleganten und Wahren, der in geometrischen Formen vorbildhaft präfiguriert ist.
*
Viele Jahre nach dem Aufenthalt in Venedig – er war mittlerweile Professor geworden, aber nicht weltberühmt - klingelte es an der Tür zu seinem Junggesellen-Appartement. Eine gut aussehende Dame stand davor.
„Hallo, da bin ich endlich!“
Sie schob ihn beiseite, rauschte durch den Korridor zum Wohnzimmer und ließ sich auf dem „Denksessel”, dem Ort seines Philosophierens, nieder.
Durch die Gefühlswallungen, die der Anblick ausgelöst hatte, bahnte sich ein schüchternes „Hallo“ den Weg. Er tapste ihr nach.
„Ich wollte sehen, wie es dir geht. Siehst blass aus und du bist zu mager.“
Sie war es, die Vorleserin, die Tänzerin! Im eleganten Kostüm, mit Goldschmuck beladen, strotzend vor Selbstbewusstsein.
„Erinnerst du dich an die heißen Tage in Venedig? Als ich dir Geschichten vorlas? Das war das erste Mal, dass du mir zugehört hast. Sonst hattest du nur für Physik Interesse. Du warst in der Rationalität gefangen, hast überall nach geometrischen Figuren gesucht, das Leben nach mathematischen Formeln geführt und mich übersehen. In dieser Nacht bin ich dir entkommen.“
„Wer sind Sie?“
„Ich bin deine poetische Ader, Fantasie, emotionale Intelligenz; kurz: deine Muse. Nie hast du mich früher beachtet. Als du krank im Bett lagst, musstest du mir zuhören. Mir kam aber zu Bewusstsein, dass es mit dir keinen Sinn hat. Die südliche Lebensfreude hatte mich ermutigt, mich von dir zu lösen und ein eigener Mensch zu werden.“
„Weshalb haben Sie dann vor mir getanzt?“
„Um die Kraft aus dir zu saugen, die ich zu meiner Umwandlung zum Menschen brauchte.“
„So ein Quatsch. Sie drängen sich hier herein und erzählen mir ein Märchen von einer Inkarnation. Was wollen Sie von mir?“
„Sehen, wie es dir geht.“
„Gut. Das haben Sie. Auf Wiedersehen!“
Die Muse rekelte sich im „Denksessel“. „So schnell wirst du mich nicht los! Du bist mir etwas schuldig. Jahrelang hast du mich ignoriert, vernachlässigt und missachtet. Dafür musst du bezahlen.“
„Sie hatten doch den Vorteil, ein Mensch zu werden!“
„Vorteil nennst du das? Bevor ich bei dir völlig ausgetrocknet wäre, wollte ich leben. Damals wusste ich nicht, was Menschsein bedeutet. Ich war zu poetisch, romantisch, idealistisch. Jetzt weiß ich: Die Welt ist böse und blöde. Die Menschen fallen auf Lüge, Gemeinheit und Anbiederung herein. Durch Hinterhältigkeit bin ich reich geworden. In meinen Gesellschaftsreportagen in der BuntBild umschmeichele ich die, die mir Geld geben, den Sparsamen hänge ich Skandale an, bis sie zahlen oder in der Versenkung verschwinden.“
„Sie wollen eine Muse sein? Musen zeigen einem die Schönheit des Denkens.“
„Naiver Naturwissenschaftler. Geometrischen Figuren – ja, ich habe alle Arbeiten von dir gelesen – sind eine Seite des Lebens. Auf der anderen Seite spielt das Chaos aus Lieben, Hassen, Begehren und Befriedigung von Lust die bestimmende Rolle. Denk darüber nach. Du wirst von mir hören.“ Sie stand auf und verschwand.
Der Professor für theoretische Physik prüfte nach diesem Streit seine Lebenseinstellung mit dem Ergebnis, dass die Wahrheit, seine Wahrheit, letztlich siege. Eine Änderung der Lebensweise sei nicht notwendig.
*
Jahrelang hatte er an dem Buch geschrieben, das die physikalischen Grundlagen des Eindeutigen, Eleganten und Wahren darstellt. Es wurden davon 123 Stück verkauft. Die restlichen 1877 Exemplare verschwanden in einer Verbrennungsanlage. Sein Ruhm blieb unerheblich.
Nach dieser Niederlage erschien die Dame wieder; rundlicher geworden, mit noch mehr Schmuck behangen, in einem exquisit teuren Hosenanzug.
Er solle sie nach Marienbad begleiten. Den Aufenthalt zahle sie. Sie bräuchte eine Abmagerungskur, und er hätte, seinem Aussehen nach zu urteilen, Erholung nötig.
Der Physiker willigte ein. Er war mit seinen Fähigkeiten am Ende: der Misserfolg des Buches, die beinahe leeren Vorlesungen, die Missachtung durch die Kollegen.
„Eine Bedingung stelle ich: Du bist mein Chauffeur.“ Dem Gelehrten war alles egal. Autofahren war seine Leidenschaft. Im vornehmsten Hotel am Platze bekam er das billigste Zimmer. Tagelang chauffierte er die Frau durch die Landschaft.
Eines Tages kam ein russischer Oligarch ins Hotel. Auf den ersten Blick erkannte er in der Dame eine verwandte Seele. Da er nicht verheiratet war und er die Dame attraktiv fand, machte er sich an sie heran. Nach dem Dinner am ersten Abend bat er sie um einen Tanz. Sie tanzten wunderbar miteinander. Ein Gespräch an der Bar über Geld zeigte gleiche Interessen. Der Russe wollte wissen, wie intelligent sie sei. Deshalb stellte er ihr eine Frage, die er selber nicht beantworten konnte. „Wie kann man mathematisch genau berechnen, ob zwei Menschen zusammenpassen?“
Da lächelte die Dame ihn an: „Für so einfache Fragen ist mein Chauffeur besser geeignet. Dort an der Tür steht er. Fragen Sie ihn.“
Der Heiratswillige ging zu dem gelehrten Mann. Angeregt unterhielten sie sich über Wirtschaft, Gesellschaft, Politik, Kultur und über den äußeren und inneren Menschen. Der Physiker entwickelte aus dem Stegreif eine „Theorie der geometrischen Passung in Familien.“
„Was ist das für eine kluge Frau, die einen so gelehrten Chauffeur hat“, dachte der Russe, „es wäre für meine Geschäfte vorteilhaft, wenn ich sie heiraten würde.“ Seinen Heiratsantrag nahm die Dame gerne an. Mit ihm konnte sie einen guten Schnitt machen. Geschäft war ihr alles.
Am Abend vor der Hochzeit rief die Muse den Chauffeur zu sich.
„Morgen heirate ich. Ich brauche dich nicht mehr. Als Lohn für die Dienste bekommst du ein eigenes Haus und eine jährliche Rente von 100 000 Euro. Dieses Angebot gilt unter einer Voraussetzung.“
Die Gelehrte, der sehr unter Misserfolgen litt, schöpfte Hoffnung.
„Welche Voraussetzung?“
„Die Bedingung ist, dass du allen Leuten erzählst, du hättest nur vier Klassen Volksschule besucht. Ich hätte dich auf der Straße aufgelesen und erzogen. Von mir hättest du deine Bildung empfangen.“
„Nein. Das mach ich nicht. Ich lüge nicht. Die Wahrheit ist, dass ich Professor bin und du ein Ableger von mir, nur meine Muse, wie du behauptest. Das sage ich dem Russen. Dann ist es aus mit der Hochzeit.“
„Das glaubt dir niemand! Sei vernünftig!“
„Nein! Ich gehe jetzt zu ihm.“
In diesem Augenblick begann sein ganzer Körper zu beben, bis er ohnmächtig zu Boden sank wie in dem Moment, als er die Muse zum ersten Mal tanzen gesehen hatte. Der Körper löste sich schnell auf. Nach wenigen Minuten sah man nichts mehr von ihm.
„Du Rationalist! Ich habe mir deinen Körper und Geist einverleibt. Mit Wissenschaft allein warst du eine kümmerliche Person. Deine Rationalität und meine Gefühle machen uns, machen mich zu einem vollkommenen Menschen.“
Kurz vor der Trauungszeremonie berichtete die Braut ihrem Bräutigam, dass der Chauffeur sich selbst verbrannt hätte. Nur ein Häufchen Asche sei von ihm übrig geblieben: „Er konnte nicht ertragen, dass ein anderer Mann in meiner Nähe ist. Er war ein guter Chauffeur und ein treuer Freund. Wir wollen ihn feierlich begraben.“
„Das ist sehr anständig. Wie froh bin ich, dich gefunden zu haben.“
Drei Tage nach der opulenten Hochzeit fand eine Beerdigung eines Häufchens Asche statt, die die Muse dem offenen Kamin des Hotels entnommen hatte. Der Physiker, jetzt Teil der Muse, sah seiner eigenen Beerdigung zu und war gerührt.
Die Vollkommenheit der Muse, die ein Mensch geworden war, zeigte sich am Bankkonto.

 

Die Vollkommenheit der Muse, die ein Mensch geworden war, zeigte sich an ihrem Bankkonto,

lieber Wilhelm,

in der Vervielfältigung eines Menschen, der vorgeblich Wissenschaftler (Physiker/Mathematiker) ist, aber wie alle Schaffenden auch der Phantasie bedarf

„Ich bin deine poetische Ader, deine Fantasie, deine emotionale Intelligenz; kurz: deine Muse. … Die südliche Lebensfreude hatte mich ermutigt, mich von dir zu lösen und ein eigener Mensch zu werden“,
die – wie weiland Ärzte zu Taxifahrern wurden, um über die Runden zu kommen – ihre rationale Seite zu niederen Diensten (Chauffeur) erniedrigt. Und spätestens mit dem Oligarchen betritt die Welte der Reichen und Schönen die Welt des chauffierenden Mathematicus, schmuggelt sich die Wirklichkeit mit einem märchenhaft Reichen in die märchenhafte Welt des Phantastischen ein, und ein Schatten seinerselbst sich selbst erhöht mit dem Geldsack und zugleich selbst erniedrigt, wie es jede Darbietung und Anbiederung auf dem Markt bewirkt und Geld die Seele aufkauft.

Flüchtigkeit/Verwechselung eines Buchstabens

… wie in dem Moment, als er die Muße zum ersten Mal tanzen gesehen hatte.

Wenigstens zweimal schnappt die Fälle-Falle zu

Abends auf den Balkon freute er sich über die Lebenslust der Venezianer.
… dem Balkon …

hier wäre zudem ein Komma nachzutragen

Der sanfte[,] heimatliche Klang versetzte ihn in einen schwerelosen Zustand, der ih[m] das Glück seiner Kindheit ins Gedächtnis rief.

Hier ist mehr als ein nackter Aussagesatz
„Wie kann man mathematisch genau berechnen, ob zwei Menschen zusammenpassen.“
besser „?“, statt „.“

Einiges könnte einfacher sein, so etwa

aufwändige Formulierungen wie hier

… Kräfte zum Schreiben seines neuen Buches sammeln, das ihn mit einem Schlag weltberühmt machen sollte.
Als wenn es nicht reichte,
… [Kraft fürs neue Buch zu] sammeln, das ihn mit einem Schlag weltberühmt machen sollte.
Weiter unten dann eine unnötige Vervielfachung
…, ohne eine Geschichte gehört und ohne die Vorleserin gesehen zu haben.
einfacher
…, ohne eine Geschichte gehört [oder] die Vorleserin gesehen zu haben
oder hier
Ermattet ging er zu Bett und schlief drei Tage lang, ohne das Mädchen zu sehen und ohne ihre Geschichten zu hören.
einfacher
…, ohne das Mädchen zu sehen [oder seine] Geschichten zu hören.

Pronomen (insbesondere Possessivp.) werden inflationär gebraucht, hier noch eher unauffällig
Nach seiner Ankunft am frühen Nachmittag wanderte er voller Erwartungen …
„seiner … er …“ („nach der Ankunft …“ tät’s doch schon …)Hier gleich das anderthalb-fache
Plötzliche Schwindelanfälle und kurze Ohnmachten zwangen ihn, in sein Zimmerchen zurückzukehren und sich ins Bett zu legen.
„… ihn, … sein … sich …“, zumindest das „Zimmerchen“ könnte ohne Besitzanspruch verwendet werden …
wie auch hier:
Er schleppte sich in sein Zimmerchen zurück

Er bewunderte im Dämmerlicht ihre makellose Figur, ihre ebenmäßigen Gesichtszüge und ihr tiefschwarzes Haar.
„Er … ihre …, ihre … und ihr …“, bis auf die ersten beiden P. doch eher ersetzbar durch Artikel.
Und (ein letztes, aber nicht das letzte, Beispiel)
Mit wachsender Begierde folgte der Mann aus dem Norden ihren Bewegungen, bewunderte ihre Leichtigkeit und verfiel ihrer Schönheit.
„… ihren …, … ihre … ihrer …

Gleichwohl gelesen und, dafür hab ich zu danken, mal wieder ein Grund, H. C. Andersen zur Hand zu nehmen.

Gruß

Friedel,
der noch ein schönes Wochenende wünscht!

 

Das Adlerauge - dein will ich nicht schreiben, um keine Besitzanzeige zu inflationieren - erspäht jeden Fehler in bewunderswerter Weise: Oh, wäre mir solches auch gegeben.
Dank dir,
Friedel,
für die Reinigung von Besitzanzeigen und anderen Unarten, die den Text verschmutzt haben.

Gleichwohl gelesen und, dafür hab ich zu danken, mal wieder ein Grund, H. C. Andersen zur Hand zu nehmen.

Immerhin Reklame für HCA.
Mange tak for at du har læst teksten
siger
Wilhelm

 

Hallo Wilhelm

Der einleitende Absatz zu Beginn wirkte mir trocken beschreibend. Hättest du nicht Odense erwähnt, wäre ich da vielleicht ausgestiegen – um bei Gelegenheit wieder vorbeizuschauen. Aber da erschien Kirsten in meiner Erinnerung, nach einem halben Jahrhundert, - sie war aus Odense.
Doch nicht genug damit, was du da in mir wecktest. Dein Protagonist will ein Werk zu theoretischer Physik abfassen, einem Gebiet, zu dem viele Theorien geschrieben wurden, seriöse und frisierte. Paul Feyerabend, ein Wissenschaftstheoretiker, hatte in seinem Buch „Wider den Methodenzwang. Skizze einer Anarchistischen Erkenntnistheorie.“, sich auf unterhaltsame Art darüber ausgelassen. Die Assoziation daran verstärkte mein Zögern, mich vorerst abzuwenden.
Doch aller guten Dinge sind drei. Es entlockte mir zwar ein mildes Lächeln, das Donna-Leon-Bild welches du von Venedig entwarfst, aber da war ich an der Angel.

Als er um Mitternacht auf seinen Balkon trat, schimmerte aus den Räumen des gegenüberliegenden Hauses Licht und es erklang leise Musik.

Ab hier gewann mir die Geschichte dann zunehmend an Charme, vermengte sich mit meinen Erinnerungen an die Lagunenstadt, und gebannt folgte ich dem weiteren Geschehen. Zum Glück sagte ich mir am Schluss, denn es entblätterte eine Handlung, die ich sehr gerne las.

Mit großartigen Sprüngen stürmte das Mädchen durch die beleuchteten Zimmer, drehte Pirouetten, reckte und streckte sich, als hätte sie die Gesetze der Schwerkraft überwunden.

Widerspruch regte sich mir erheblich, als du zu einem Ballettstück eilendes Schweben mit großartigen Sprüngen stürmte und reckte und streckte, umschriebst. Aber das innere Bild, welches ich mir machte, reflektierte es mir angemessen und verdrängte die formulierte Rohheit. So blieb die Szene herrlich, die Pirouette vollendet.

Sie schob ihn beiseite, rauschte durch den Korridor zum Wohnzimmer und ließ sich auf seinem „Denksessel”, dem Ort seines Philosophierens, nieder.

Köstlich, die Vorstellung eines Denksessels.

Die geteilte Identität deines Physikers, der letztlich ganz in den Leib der Muse übergeht, war mir sehr vergnüglich. Für mich war‘s, als hätte Feyerabend seinen Schalk posthum nochmals aufblitzen lassen, es dir fantastisch eingegeben und dir überlassen es in Worte zu fassen. Aber nein, es war Andersens Geist, der dir Inspiration gab. Meine Subjektivität als Leser, die da mitschwang, minderte mir das Original in keiner Weise, doch vertiefte es mir das Erleben.

Womit ich mich nach dem Lesen der Geschichte nicht so recht anfreundete, ist der Titel. Natürlich war der Schatten in den Mythologien vieler Kulturen eine Spiegelung der Person und bei C. G. Jung das archetypische Gegenstück zur Persona. Da das Stück klare Indizien auf die Gegenwart streut, wäre mir aber allein schon deshalb eine zeitgemässe Definition im Titel anschaulicher erschienen. Aber dies ist eine rein persönlich-ästhetische Einwendung, die ich nicht ohne Augenzwinkern anbringe.

Es war mir eine vergnügliche Unterhaltung, die mich von der Idee als auch von der Umsetzung her erfreute.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

Hallo Anakreon

Der einleitende Absatz zu Beginn wirkte mir trocken beschreibend.
Das ist richtig. Ich habe mich zu eng an die Vorlage gehalten. Der Duktus von Andersen in seiner Zeit und die Spracherwartung von Lesern heute sind unterschiedlich.
Zum Vergleich die Übersetzung aus Projekt Gutenberg.

In den heißen Ländern brennt die Sonne freilich anders als bei uns. Die Leute werden ganz mahagonibraun, ja, in den allerheißesten Ländern brennen sie gar zu Mohren. Aber es war nur zu den heißen, wohin ein gelehrter Mann aus den kalten Ländern gekommen war.
http://gutenberg.spiegel.de/buch/1227/100, 30.06.2013 (was ich hoffentlich so zitieren darf.)

Dein Protagonist will ein Werk zu theoretischer Physik abfassen, einem Gebiet, zu dem viele Theorien geschrieben wurden, seriöse und frisierte. Paul Feyerabend, ein Wissenschaftstheoretiker, hatte in seinem Buch „Wider den Methodenzwang. Skizze einer Anarchistischen Erkenntnistheorie.“, sich auf unterhaltsame Art darüber ausgelassen.

Feyerabend, aber auch Flusser: Irgendwie steckt man im Dilemma, Gesetze schaffen zu wollen, um dem Leben einen geregelten Lauf zu geben, immer wieder, kaum hat man dies erfolgreich getan, zerstört man es durch Neues. Schön winkt Sisyphos herüber. Das Theoretisieren des Protagonisten bändigt seine Gefühle und sperrt sie in den Eiskasten.


Doch aller guten Dinge sind drei. Es entlockte mir zwar ein mildes Lächeln, das Donna-Leon-Bild welches du von Venedig entwarfst, aber da war ich an der Angel.

Zum Glück sagte ich mir am Schluss, denn es entblätterte eine Handlung, die ich sehr gerne las.


Zu meiner großen Erleichterung, denn es schien mir schwieriger zu sein, eine Vorlage umzusetzen, als das Stück neu zu schreiben.

-

--Zitat---
Mit großartigen Sprüngen stürmte das Mädchen durch die beleuchteten Zimmer, drehte Pirouetten, reckte und streckte sich, als hätte sie die Gesetze der Schwerkraft überwunden.
---Zitatende---
Widerspruch regte sich mir erheblich, als du zu einem Ballettstück eilendes Schweben mit großartigen Sprüngen stürmte und reckte und streckte, umschriebst. Aber das innere Bild, welches ich mir machte, reflektierte es mir angemessen und verdrängte die formulierte Rohheit. So blieb die Szene herrlich, die Pirouette vollendet.

Mein inneres Bild war klassische Ballettanmut kombiniert mit stampfender Rhythmik von "Le Sacre de Printemps". Eine Kombination von Feinheit der Gefühle und ihre Rücksichtslosigkeit. Deshalb die Rohheit. Aber die hätte ich besser darstellen müssen, nicht nur andeuten.

Köstlich, die Vorstellung eines Denksessels.
Ich glaube, zu den Lehren des Don Juan (Castaneda) gehört, dass es einen, und nur einen idealen Ort gibt, an dem man erfolgreich meditieren kann.

Die geteilte Identität deines Physikers, der letztlich ganz in den Leib der Muse übergeht, war mir sehr vergnüglich. Für mich war‘s, als hätte Feyerabend seinen Schalk posthum nochmals aufblitzen lassen, es dir fantastisch eingegeben und dir überlassen es in Worte zu fassen. Aber nein, es war Andersens Geist, der dir Inspiration gab. Meine Subjektivität als Leser, die da mitschwang, minderte mir das Original in keiner Weise, doch vertiefte es mir das Erleben.
Ich erröte ob Deines, gerade Deines Lobes.

Womit ich mich nach dem Lesen der Geschichte nicht so recht anfreundete, ist der Titel. Da das Stück klare Indizien auf die Gegenwart streut, wäre mir aber allein schon deshalb eine zeitgemäße Definition im Titel anschaulicher erschienen.

Andersens „Schatten“ wollte ich unterbringen. Das ist sicher 19. Jahrhundert.
Ob der Titel überzeugt?

Was haben Sie denn gegen eine schöne Dissoziation?

Es war mir eine vergnügliche Unterhaltung, die mich von der Idee als auch von der Umsetzung her erfreute.

Mir war es eine erfreuliche Lektüre und Arbeit, mich mit Deinen Anmerkungen auseinanderzusetzen und aus anderer Sichtweise den Text zu betrachten.
Vielen Dank für die Aufmunterung und viel Sonnenschein wünscht herzlichst
Wilhelm.

 

Hallo Wilhelm,
eine schöne Weiterentwicklung des Märchens. Der Physiker ist ja in interessanten Themen zu Hause, von der klassischen Ordnungssuche in der Geometrie über die Synergetik bis zum Chaos, was natürlich auch mathematisch beschrieben wird, dadurch jedoch nicht zum Determinismus findet, und anstatt sich dem Unverhersehbaren hinzugeben, die Grenzen der Rationalität zu überwinden, lehnt sich der Physiker zurück in dem selbstzufriedenen Bewußtsein, auch das im Griff zu haben. Ein Weltforscher an den Grenzen dessen, was Forschung überhaupt klären kann. "Leben ist das, was passiert, wenn deine Pläne scheitern", von wem ist das doch gleich?
Tragisch auch, was aus der Muse wird, als sie in das menschliche Leben eintaucht, besser wäre sie Muse geblieben; da folgst Du der Vorlage: die Muse ist korrupt. Hat sie kein Gewissen? Ist sie nicht nah an der Seele und steuert den Menschen auf die heilbringende Bahn? Offensichtlich ist die Muse bei Dir und bei Andersen der Schatten des Rationalen, des Beherrschten, Unlebendigen, das sich aus Angst vor dem Leben an die einfachen Strukturen klammert, und sei es eine geometrische Theorie, und dieser ist beileibe kein Engel, er verkörpert nur all das, was der rationale Mensch an Gefühlen und Sehnsucht, an ungelebtem Leben, unterdrückt.
"Solche Wissenschaftler, deren Ideal es ist, "cool" zu bleiben, ...machen den Feind aus und halten ihn draußen. Sie vernehmen bisweilen das entfernte "Flüstern des nagual" und versichern, dort, woher dieses Flüstern komme, lauerten nur der Wahnsinn und der Tod." schreibt Hans-Peter Duerr in "Traumzeit". Vielleicht ist es die Dominanz des Rationalen, die es unmöglich macht, die Muse zu integrieren und so geheilt zu werden, vielleicht muß deshalb der Physiker sterben und die Muse ihn aufnehmen, damit sie so, unter ihrer Führung, beide ganz werden.

Zur Sprache: insgesamt hat mir der Stil gut gefallen, nur manchmal wünsche ich mir mehr Nähe zum Märchen, mehr Achtung oder auch ironischen Abstand zur Prot., z.B. in

...er die Dame attraktiv fand, machte er sich an sie heran.
und in
Mit ihm konnte sie einen guten Schnitt machen.

Herzlichen Gruß, Set

 

Hallo Set,

eine schöne Weiterentwicklung des Märchens. Der Physiker ist ja in interessanten Themen zu Hause
Es stehen sich zwei extreme Lager in unserer Welt gegenüber: Banker, die „Scheißdeutsche“ sagen und genau berechnen, wie sie betrügen können, und Menschen, die sich in die „Emotion pur“ flüchten. Unangenehm sind mir die einen wie die anderen. Ich hoffe allerdings, dass der Däne akzeptabel ist. Und seine Muse?

Tragisch, was aus der Muse wird, als sie in das menschliche Leben eintaucht, besser wäre sie Muse geblieben; da folgst Du der Vorlage: Die Muse ist korrupt. Hat sie kein Gewissen? Ist sie nicht nah an der Seele und steuert den Menschen auf die heilbringende Bahn?

Die will schon ihre Gier befriedigen, also ihre Gefühle auskosten, ohne sich Zügel anzulegen. Lebensgier (Muse, Gefühl) und Liebe zur Geometrie (Physiker, Weltflucht, Theorie) sind Gegensätze. Machtgier, Geldgier, Berauschung an sich selbst (Schmuck!). Immerhin macht sie ein nettes Rentenangebot. Aber Andersen und ich haben anders entschieden: Er muss verschwinden.
Natürlich steckt im Hintergrund die ideale Vorstellung eines ausgeglichenen Lebensstils. Heute sagt man life-work-balance und suggeriert, man müsse alles genau planen und organisieren, dann geht es schon. Das ist genau die Einstellung, über die der Physiker schreibt. Deswegen soll er gerne verschwinden. Leben, Natur und Menschen sind nicht berechenbar und nicht planbar (Ägypten …). Er geht zur Strafe im Gefühlsbottich unter.

Offensichtlich ist die Muse bei Dir und bei Andersen der Schatten des Rationalen, des Beherrschten, Unlebendigen, das sich aus Angst vor dem Leben an die einfachen Strukturen klammert, und sei es eine geometrische Theorie, und dieser ist beileibe kein Engel, er verkörpert nur all das, was der rationale Mensch an Gefühlen und Sehnsucht, an ungelebtem Leben, unterdrückt.
"Solche Wissenschaftler, deren Ideal es ist, "cool" zu bleiben, ... machen den Feind aus und halten ihn draußen. Sie vernehmen bisweilen das entfernte "Flüstern des nagual" und versichern, dort, woher dieses Flüstern komme, lauerten nur der Wahnsinn und der Tod." schreibt Hans-Peter Duerr in "Traumzeit".
Das sehe ich auch so. Die Muse als Figur der ungehemmten Lebensgier (Geld und Gold) verwendet die ihr zugeflossene Rationalität zu Befriedigung ihrer Kapitalanhäufungslust. Sie wird wohl den Physiker „instrumentalisieren“ und nicht gleichwertig in sich dulden.


Vielleicht ist es die Dominanz des Rationalen, die es unmöglich macht, die Muse zu integrieren und so geheilt zu werden, vielleicht muß deshalb der Physiker sterben und die Muse ihn aufnehmen, damit sie so, unter ihrer Führung, beide ganz werden.

Wenn beide die Führung gleichwertig übernähmen, könnte es gelingen. Aber ist das realistisch?

Bei dem Durchdenken Deiner anregenden Gedanken fiel mir auf, dass ich den logischen Schritt nicht gegangen bin: Die Muse wird unweigerlich scheitern. Jede Einseitigkeit und Überdimensionalisierung ging bisher in der Welt unter, von den Dinos bis zu Berlusconi (müssen wir noch abwarten).

Zur Sprache: Insgesamt hat mir der Stil gut gefallen, nur manchmal wünsche ich mir mehr Nähe zum Märchen, mehr Achtung oder auch ironischen Abstand zur Prot., z. B. in

... er die Dame attraktiv fand, machte er sich an sie heran.
und in
Mit ihm konnte sie einen guten Schnitt machen.

Hier wollte ich die Ebene durchbrechen, um die „Niedrigkeit“ der Lebenseinstellung beider zu zeigen. Bei „einen guten Schnitt machen“, was ich es kurz vor dem Einstellen zugefügt hatte, sah ich die Helene Weigel in der Mutter Courage vor mir.
Zu viel geplaudert?
Dank Dir für Deine Anregungen und Deine positive Einstellung zu meiner Geschichte und die von Andersen.
Sind Andersens Märchen wirklich Märchen? Kommt auf die Definition an. Jedenfalls sind sie gute Psychogramme.
Vielen Dank für Deine ermutigenden Worte
Herzlichst
Wilhelm

 

Jede Einseitigkeit und Überdimensionalisierung ging bisher in der Welt unter, von den Dinos bis zu Berlusconi

was ist denn bei Berlusconi überdimensioniert? Ist das gesichert? S.a.

http://twicsy.com/i/CbohPb

Gruß Set

 

Wenn ich das richtig sehe,
lieber Set,
hat er den größten Mund. Auch sind seine Dimensionen als Unterhaltungskünstler groß, sein Geldbeutel sicher auch und was weiß ich noch alles. Aber ich sehe ein, dass man Dinos nicht auf eine Stufe mit groß B stellen darf, so streiche ich B. und setze an seine Stelle das Römische Reich oder Dante, der hat ja im Inferno die Prominenz besucht, ob er da auch ...?
Herzlichst
Wilhelm

 

Auf den ersten Blick erkannte er in der Dame eine verwandte Seele.

Wo viel Licht, da viel Schatten, sagt der Volksmund,

lieber Wilhelm,

und wie durch den Titel ein emanzipatorisches Geschehen erwartet werden kann, so legt sich der Schatten über die Emanzipation, hüllt sie, wenn schon nicht ins Dunk(licht)e, so doch ins Zwielichtige. Und selbst wenn das Verb beschatten heutigentags eher die heimliche Beobachtung meint (und sei's übers Internet), so bedeutet es doch ursprünglich „wie ein Schatten folgen“.

Die „Dame“ folgt in einem übertragenen Sinn „wie ein Schatten“ dem Protagonisten. „Madame“ heißt man heute die [verheiratet] Frau, urspr. aber galt madame der [ledigen!] älteren Frau von Adel, eben durch den Oligarchen - nach Aristoteles eine verzerrte Form des Aristokraten - und wird gar zur „Herrin“ des armen Protagonisten, womit sich ein Kreis zur vrouwe/frouwe schließt, der „Herrin“ (entgegen dem wip/wib, der heutigen Frau).

Das ahd. scato bezeichnete nun wesentlich mehr als den bloßen Schatten. Es meinte auch den „schattigen Ort“ (die kalten Länder liegen ja ziemlich lang im Jahr auf der schattigen Seite des Globus), aber auch „Verhüllung“, etwas Verborgenes – vllt. wie die Seele, die ja mythologisch mit dem Abgang ins Schattenreich eben nur noch ein Schatten ihres Selbsts ist – entleibt.

Gegenüber Deiner Geschichte ist Andersen schon zu Beginn viel allgemeiner als Du (Orte – Odense, Geburtsort Andersens, und Venedig - ein Gegensatz von Nord und Süd -, Protagonist und seine schattige Doppelgängering usw.), wenn es heißt - selbst wenn die Stelle schon zuvor zitiert wurde, hier ist ein feiner Unterschied, wenn's heißt „n den heißen Ländern brennt die Sonne ganz gewaltig, die Leute werden ganz mahagonibraun, ja in den aller heißesten Ländern werden sie zu Negern gebrannt“ – und das spielt, wenn man weiterdenkt, bereits auf das Ende Deiner Geschichte an, wenn Schatten-Frau und Protagonist eins werden: der Prot gerät untern Pantoffel, Madame wird zur vrouwe.

Bei einem bin ich mir unsicher, wie Chamissos Schlemihl (den Du ansprichst) autobiografische Züge des Emigranten trägt – übrigens, wenn schon kein Physicus, so war Chamisso doch immerhin Naturforscher -, so fließen in Andersens Kunstmärchen nicht nur gelegentlich eigene Erfahrungen ein – Schatten der Erinnerung erstehen auf [auf(er)stehen/auf(er)standen] – der Aufstand des Schattens, nicht nur reine Fiktion?,

fragt sich der

Friedel

Nachtrag, wenn man schon vom Hang der Nordlichter seit den Cimbern und Teutonen, Goten und Langobarden usw. in den warmen Süden spricht und das in Fantasy, dann darf auch die nordische Mythologie vorbeischauen: Da wird nämlich von „Fylgia/Forynja“ usw. erzählt, deren Namen im nhd. „Folgerin“ wäre und die das schattenhafte Wesen, das jeden verfolgt, weil’s einem innewohnt, sichtbar werden, und sei's als Walküre. Und wie heute unterm monotheistischen Aberglauben können sie Schutzengel oder der entthronte Luzifer sein … und Lucy in the Sky with Diamonds ist nix gegen einen ordentlichen Sonnenstich ...

 

Wo ich Licht sehen will, sehe ich Licht, wo ich Schatten sehen will, finde ich ihn auch,

lieber Friedel,
welches Gespräch hätten wohl Mutter Teresa und Schopenhauer miteinander geführt: die Lichtseherin und der Götterdämmerer.
Nicht dass die beiden Vorbilder für die Protagonisten meiner Geschichte gewesen wären, aber Mutter Teresa hätte Schopi verschlungen und hätte seine Intelligenz für ihre Zwecke ausgenützt, so hätte es geschehen können.
Wie dem auch sei, Herr und Knecht ist ein spannungsreiches Verhältnis, ob gleichgeschlechtlich oder heterosexuell.
Der Herr verschließt sich im Nichtstun und im Genuss (Theorie), während der Knecht durch Lebenspraxis Erfahrungen sammelt (Geld sammelt/verdient). Damit gewinnt er die Welterfahrung, die der genießende Herr immer mehr verliert. Der Knecht ist befähigt, den Herrn abzulösen.
Der Herr wird Knecht, der Knecht wird Herr.
Venedig musste sein, nicht Marokko, Venedig Achenbachs, der seine Seele in einen kleinen Jungen steckt oder stecken will. Eine Art Seelen(nach)wanderung?
Dann kommen Theorie und Praxis, denken und Geld.
Welches Verhältnis Andersen zu Frauen hatte, ist nebulös. Aber ich würde Jenny Lind wählen, die anderseninside über die Bretter, die die Welt bedeuten, schwebt. Nixgwissweißmannicht, aber er war nicht frei von (Schatten)Problemen.
Schlemihl hat seinen Schatten verkauft und flüchtet sich in die Naturwissenschaft.
Der Schatten wird zur Person, die Person wird zum Schatten;
Der Professor wird zum Chauffeur, der Chauffeur zu Bestandteil der Muse. Setzt sich der ewige Kreislauf fort, der Schatten überwältigt die Muse ---?
Oder doch alles nur Sonnenstich, den wir im südlichen Deutschland nur mühsam erwerben können, ob der Regenwolken. Vielleicht ist das für uns reale Menschen gar nicht so erstrebenswert, dem Schatten zu begegnen, reicht doch ein Blick in den Spiegel, der uns nicht erschrecken lässt.
Ein Leben außerhalb des Schattenreiches wünscht Dir mit Dank für Deine Schattenvariationen.
Wilhelm

 
Zuletzt bearbeitet:

Lieber Wilhelm, ich will schon lange mal was zu deinen Geschichten schreiben.
Sowohl den Leberkäs, als auch den Clown und "Elelent" mochte ich nämlich.
Aber wie das mit der Zeit und den guten Vorhaben immer so ist ...

Jetzt kommentiere ich wenigstens schon mal deine letzte.
Die interessiert mich ganz besonders, weil sie mit der Idee spielt, dass sich ein Teil der Persönlichkeit eines Menschen abspaltet und zu einem eigenständigen Wesen wird. Da bin ich auch immer mal wieder am Arbeiten an einer Geschichte, aber so richtig will das nicht werden.

Andere schrieben, sie wünschten sich stilistisch mehr Nähe zum Märchen, ich dagegen finde, dass dir die stilistischen Anklänge an Andersen gut gelungen sind bis auf ein paar kleine Ausrutscher.
Mir geht es eher so, das ist aber jetzt eine reine Geschmackssache und hat mit deiner Intention gar nichts mehr zu tun, dass ich mir wünsche, man hätte die Andersens Thematik gewählt, und es sprachlich und vom szenischen Schreiben her modernisiert. Ich hätte echt gerne gewusst, was dabei rauskommt. Die Andersenschreibe empfinde ich sehr oft als sehr distanziert. Ich mag die Themen, die sind oft sehr modern, oder man sollte besser sagen zeitlos, aber er schreibt halt noch sehr berichtend. Und in deiner Geschichte finde ich die starken Stellen denn auch die, wo du zeigst. also zum Beispiel das wirbelnde Mädchen.

Inhaltlich hast du es schön abgewandelt. Aus dem Schatten bei Andersen eine Muse zu machen, also eine Frau voller Blut und Leben, das ist eine gute Idee.
Ähnlich wie bei Andersen ist seine Abspaltung ja ein Schweinehund, der den armen Ursprungsmenschen verschlingt. Von daher auch eine ganz schön zynische Geschichte, dass die Verselbständigung der Muse, also hier der Lebensgier und Lebensfreude und Kreativität eines Menschen zu einem brutalen, kalkulierenden Wesen wird, das nur an sich selbst und sein Wachsen denkt.

„Sie hatten doch den Vorteil, ein Mensch zu werden!“
„Vorteil nennst du das? Bevor ich bei dir völlig ausgetrocknet wäre, wollte ich leben. Damals wusste ich nicht, was Menschsein bedeutet. Ich war zu poetisch, romantisch, idealistisch. Jetzt weiß ich: Die Welt ist böse und blöde. Die Menschen fallen auf Lüge, Gemeinheit und Anbiederung herein. Durch Hinterhältigkeit bin ich reich geworden. In meinen Gesellschaftsreportagen in der BuntBild umschmeichele ich die, die mir Geld geben, den Sparsamen hänge ich Skandale an, bis sie zahlen oder in der Versenkung verschwinden.“
„Sie wollen eine Muse sein? Musen zeigen einem die Schönheit des Denkens.“
„Naiver Naturwissenschaftler. Geometrischen Figuren – ja, ich habe alle Arbeiten von dir gelesen – sind eine Seite des Lebens. Auf der anderen Seite spielt das Chaos aus Lieben, Hassen, Begehren und Befriedigung von Lust die bestimmende Rolle. Denk darüber nach. Du wirst von mir hören.“ Sie stand auf und verschwand.
Naja, so romantisch war sie ja nun auch von vorneherein nicht, das war schon alles ziemlich schlau eingefädelt, ihn heimzusuchen, als er krank ist, ihm vorzutanzen und dadurch auszusaugen.

Wenn ich so überlege, hätte ich mir vom Wissenschaftler ein bisschen mehr Gegenwehr erhofft. Und von ihr ein paar mehr Skrupel. Naja, letzteres weiß ich nicht genau, aber auf jeden Fall mehr Gegenwehr vom Mann. Der lässt sich da schon ziemlich locker einmachen. Und dass er so gerührt in ihr drin hockt, nachdem er von ihr aufgeschmatzelt worden ist, das will mir auch nicht ganz einleuchten. Er ist gerührt, dass sie seine Asche beerdigt. Hmmm. Also wenigstens könnte er mit so einem Geodreieck ihr manchmal in den Bauch pieken. Naja, nimm das nicht so ernst, so geht es halt, wenn man selbst sich innerlich schon mit so einem Stoff beschäftigt hat. Dann tanzen die Kommentatorvorstellungen zur Geschichte an und wienern über die Intention des armen Autoren hinweg.
Das Ende gefällt mir, ist so ein typisch wilhelmisches Ende, so ein bisschen spitzbübisch augenzwinkernd.
Gern gelesen, wenn auch mein Kommentar dieses Mal nicht sehr konstruktiv im Sinne des Autors war, sondern eher dadurch auffällt, dass er alles auflistet, wie ich selbst es vielleicht mal irgendwann machen würde. :D
Bis demnächst und noch ein schönes Wochenende
Novak

 

Halb zog sie ihn, halb sank er hin
Und ward nicht mehr gesehn.
Goethe: Der Fischer
Liebe Novak,

Lieber Wilhelm, ich will schon lange mal was zu deinen Geschichten schreiben.
Sowohl den Leberkäs, als auch den Clown und "Elelent" mochte ich nämlich.
Aber wie das mit der Zeit und den guten Vorhaben immer so ist ...

Es ist sehr nett, dass Du das schreibst. Das Gut, das uns allen fehlt, ist die Zeit. Wir bewegen uns am Gängelband von Weißnichtwem durch Raum und Zeit, bevor wir uns umschauen können. Aber ein kleiner Hinweis und ein kleines Zeichen von Dir helfen mir auch.

Einfach ist es, mit EINEM Schatten oder EINER Muße zu leben. Ich und Du; aber die Ego State Psychologie lehrt, dass wir 5 bis 15 (ungefähr) solcher Unterpersönlichkeiten oder Teilpersönlichkeiten haben, die sich entweder harmonisch ergänzen oder sich, als Folge einer Traumatisierung, gegenseitig behindern bzw. bekämpfen.
Das war HCA noch nicht klar; ein Schatten reicht. Wie müsste dann sein Märchen modern geschrieben aussehen: sagen wir, der Prot. verfügt über zehn Persönlichkeitsanteile: den inneren Fachmann, den inneren Philanthropen, den inneren Spieler, das innere Kind … Plötzlich bläst eine Bombe alle auseinander und die Persönlichkeitsanteile finden nicht mehr zueinander. Das innere Kind möchte babyhaft verwöhnt werden, der Fachmann strebt einen höheren Posten an, der Philanthrop wurde zum Misanthropen – da wird die Person zum Schlachtfeld, wie es die äußere Welt ist.
Dies zu schreiben, das wäre eine schöne Aufforderung, im Sinne von

dass ich mir wünsche, man hätte die Andersens Thematik gewählt, und es sprachlich und vom szenischen Schreiben her modernisiert.

Fernando Pessoa hat dies angefangen, aber welche Form findet heute man dafür? Eine lohnende Aufgabe (für wen?).


Die interessiert mich ganz besonders, weil sie mit der Idee spielt, dass sich ein Teil der Persönlichkeit eines Menschen abspaltet und zu einem eigenständigen Wesen wird. Da bin ich auch immer mal wieder am Arbeiten an einer Geschichte, aber so richtig will das nicht werden.
Anmerkung dazu oben. Viel Glück!

Andere schrieben, sie wünschten sich stilistisch mehr Nähe zum Märchen, ich dagegen finde, dass dir die stilistischen Anklänge an Andersen gut gelungen sind bis auf ein paar kleine Ausrutscher.
Ich versuchte einen Mittelweg, ein bisschen Andersen, kleinere Modernitäten.

Naja, so romantisch war sie ja nun auch von vorneherein nicht, das war schon alles ziemlich schlau eingefädelt, ihn heimzusuchen, als er krank ist, ihm vorzutanzen und dadurch auszusaugen.
Die Schatten sind oft listiger und einfallsreicher als das relativ schlichte und einfache „Gemüt“ des Bewusstseins (Mephisto). Deswegen erobert sie ihn leicht.

Wenn ich so überlege, hätte ich mir vom Wissenschaftler ein bisschen mehr Gegenwehr erhofft. Und von ihr ein paar mehr Skrupel.

Mein Bild, das ich vor Augen hatte, waren die älteren „Chefs“ großer Firmen, die ein Wochenende mit ihrer jungen Sekretärin im Luxushotel verbringen und sich von ihnen schamlos ausnützen lassen. Es gibt solche Männer, die …, aber das muss ich nicht weiter ausmalen.


Naja, letzteres weiß ich nicht genau, aber auf jeden Fall mehr Gegenwehr vom Mann. Der lässt sich da schon ziemlich locker einmachen. Und dass er so gerührt in ihr drin hockt, nachdem er von ihr aufgeschmatzelt worden ist, das will mir auch nicht ganz einleuchten. Er ist gerührt, dass sie seine Asche beerdigt. Hmmm.
Wie Hündchen trotteln ältere Herren manchmal einer jungen Muse hinterher, die die Kreditkarte in der Hand hält (die Tüten lässt sie sich ins Hotel schicken).


Das Ende gefällt mir, ist so ein typisch wilhelmisches Ende, so ein bisschen spitzbübisch augenzwinkernd.

Tutto nel mondo è burla, l' uom è nato burlone.
Alles ist Spaß auf Erden, der Mensch als Narr geboren.
Verdi, Falstaff

Er stirbt halt auch als Narr. Aber Spaß macht es trotzdem.

Gern gelesen, wenn auch mein Kommentar dieses Mal nicht sehr konstruktiv im Sinne des Autors war, sondern eher dadurch auffällt, dass er alles auflistet, wie ich selbst es vielleicht mal irgendwann machen würde.
Mach es einfach! Viel Glück und Erfolg dabei wünscht Dir
Wilhelm
Und dankt für Deine positiven Signale.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Wilhelm Berliner,

du hast dir ein interessantes Thema für dein Märchen ausgesucht: Ratio vs. Emotio. Ich habe neulich Hesses "Narziß und Goldmund" gelesen, da geht es auch darum (Empfehlung, wenn du das noch nicht kennst und dich das Thema weiter beschäftigt!), und sowohl Hesse als auch du kommen zu dem Schluss, dass weder das eine noch das andere Extrem das Nonplusultra ist, sondern eben ein Mittelding. Soviel in Kürze zu der Theorie hinter deiner Geschichte.

Die Verpackung als Märchen liegt nahe und ich finde sie gelungen. Über Andersen weiß ich im Grunde nichts, kenne nur ein paar seiner Märchen von früher, daher kann ich dazu nichts sagen.
Was mir sehr gut gefallen hat, war die Unaufgeregtheit des Erzählstils, und dass du dich nicht aufgehalten, sondern relativ straight erzählt hast (z.B. "Er durchsuchte das Haus. Es war leer." - Prima, alles gesagt, mehr braucht es nicht.) In Fantasy/Märchen wird sich ja oft in blumigen Beschreibungen ergangen - fand ich gut, dass du nicht in dieses Fettnäpfchen getreten bist. So war es angenehm und interessant zu lesen, hat Spaß gemacht. Auch die Sprache fand ich gut, z.B. "die Augen verdoppelten die Welt", du hast dir Mühe gegeben alltägliche Dinge etwas anders auszudrücken und so eine andere Atmosphäre zu schaffen, was dir in meinen Augen gelungen ist.

Die Geschichte ist auch sorgfältig geschrieben, habe kaum was gefunden:

Schwitzend und vor sich hin dämmernd lag er hinter verdunkelten Fenstern
hindämmernd

dass die Wahrheit, seine Wahrheit letztlich siege.

Wahrheit, letztlich

Als Lohn für die Dienste bekommst ein eigenes Haus und eine jährliche Rente von 100 000 Euro.
bekommst du ein

Schöne Grüße,
Maeuser

 

Hallo Maeuser,

vielen Dank für Dein Interesse an dem Märchen.

interessantes Thema für dein Märchen ausgesucht: Ratio vs. Emotio
Es gehört wohl zu den Grundthemen der menschlichen Existenz. Die Ausgewogenheit ist im Durchschnitt gut. In manchen Situationen braucht man dann allerdings die Dominanz von Ratio oder Emotio. Man weiß leider nicht immer, wann das der Fall ist.
Es gibt ja da eine lange Tradition, vor allem seit der Romantik (E.T.A Hoffmann). Die "Nachtseiten" spielen dabei eine große Rolle. In dieser Tradition sehe ich auch Hesse stehen.

Vielen Dank für Deine positive Einschätzung meines Stils. Da heißt es bei mir: kürzen., küren, küren.

Deine Korrekturen sind eingearbeitet. Vielen Dank dafür. Jedes mal, wenn ich (oder gar andere) einen Fehler finde(n), überkommt mich wilder Ingrimm. Warum kann ich Fehler nicht einfach nicht machen? Die meisten sind ja zufällig entstanden, weil ich xtn Mal korrigiert habe und die Folgen von Korrekturen nicht einarbeite.
Vielen Dank für Deine angenehm positive Rückmeldung.
Herzlichst
Wilhelm

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Wilhelm,

ich habe Deine Geschichte gern gelesen und mir dazu ein paar Gedanken gemacht, die Du vielleicht hilfreich findest. Vorab der Hinweis, dass es sich dabei um reine Anschauungsfragen handelt, Geschichtenschreiben ist eben keine exakte Wissenschaft. Alle Kritik ist deshalb ganz und gar subjektiv.

Mein Eindruck ist, dass die Geschichte unter Bedeutungsüberfrachtung leidet. Ich kenne ja von Deinen Kommentaren her Deine Befürchtung, eine Geschichte könnte – wenn man nicht Acht gibt - schnell ins Triviale abgleiten. Das verstehe ich. Was man aber nicht tun sollte, ist, eine Geschichte von einer abstrakten Idee her aufzubauen.

Im Fall von "Der Aufstand des Schattens" arbeitest Du mit Hilfe Deiner Protagonisten ein philosophisches Thema ab. Das, was Deine Protagonisten tun, wird nicht aus realen Erfahrungs- und Sinnzusammenhängen heraus entwickelt, sondern aus der künstlichen Gegenüberstellung von Rationalität (die der Professor vertritt) und emotionaler Schöpferkraft (diesen Part übernimmt die Muse).

Das grundsätzliche Verfahren, auf diese Weise zu einer schönen Geschichte zu kommen, halte ich aus mehreren Gründen für problematisch. Jede philosophische Idee ist eine Phantasie. Sie ist eine durch Prozesse des Denkens mehrfach gefilterte Interpretation der Wirklichkeit. Im Gegensatz zu einfachen Beobachtungen der erfahrbaren Wirklichkeit spiegeln sich in einer philosophischen Idee bereits komplette Theorien über Zusammenhänge, Gesetzmäßigkeiten usw. Mit anderen Worten: Eine philosophische Idee ist Endprodukt des Denkens.

Und aus genau diesem Grund darf sie nicht Rohstoff einer Geschichte sein, finde ich. Der Rohstoff von Geschichten darf nur das Leben sein, nicht eine Theorie des Lebens. Andernfalls passiert das, was in Deiner Geschichte passiert. Die Protagonisten verhalten sich unnatürlich. Sie reden, wie kein Mensch reden würde, weil der Autor sie dazu verurteilt hat, Theorien über das Leben zu verkünden:

„Ich bin deine poetische Ader, Fantasie, emotionale Intelligenz; kurz: deine Muse ... Die südliche Lebensfreude hatte mich ermutigt, mich von dir zu lösen und ein eigener Mensch zu werden.“

„In meinen Gesellschaftsreportagen in der BuntBild umschmeichele ich die, die mir Geld geben, den Sparsamen hänge ich Skandale an, bis sie zahlen oder in der Versenkung verschwinden.“
„Sie wollen eine Muse sein? Musen zeigen einem die Schönheit des Denkens.“
„Naiver Naturwissenschaftler. Geometrischen Figuren – ja, ich habe alle Arbeiten von dir gelesen – sind eine Seite des Lebens. Auf der anderen Seite spielt das Chaos aus Lieben, Hassen, Begehren und Befriedigung von Lust die bestimmende Rolle.

Der Russe wollte wissen, wie intelligent sie sei. Deshalb stellte er ihr eine Frage, die er selber nicht beantworten konnte. „Wie kann man mathematisch genau berechnen, ob zwei Menschen zusammenpassen?“

„Du Rationalist! Ich habe mir deinen Körper und Geist einverleibt. Mit Wissenschaft allein warst du eine kümmerliche Person. Deine Rationalität und meine Gefühle machen uns, machen mich zu einem vollkommenen Menschen.“


Von einem intellektuellen Gesichtspunkt aus kann man das ja alles nachvollziehen, und es macht Sinn. Vom Gesichtspunkt eines Geschichtenerzählers ist es schlimm, denn die Figuren reden so aufgeblasen und unnatürlich, dass man das einfach nicht als Dialog verkaufen kann.

Vielleicht geht es auch einfach darum, dass Du Dir klarmachen solltest, was Du erreichen willst. Geht es darum, eine abstrakte Idee zu transportieren, indem Du eine Geschichte drum herum baust, dann lässt Du Dich auf ein schwieriges Unterfangen ein, denn das ist wie Wasser aus Milch machen.

Ein Geschichtenerzähler muss – denke ich – oft das Wagnis eingehen, dass er nicht völlig durchschaut, was seine Geschichte eigentlich besagt oder wie man sie interpretieren könnte. Er beobachtet und stellt Ereignisse so in glaubhafter Weise zusammen, dass sich darin das reale Leben widerspiegelt. A und O ist dabei die Passung von Charakteren und Handlungen, das heißt, die Figuren müssen glaubhaft reden und handeln.

Ein zweites Problem neben der mangelnden Glaubhaftigkeit der Verhaltensweisen bei Deiner Konstruktion ist, das sich keine runde Geschichte ergibt, finde ich. Das Erzähltempo schwankt vom Szenischen in Zusammenfassungen, die gleich Jahre überspringen. Das Motiv des Südlichen am Anfang spielt im Weiteren kaum mehr eine Rolle. Die Geschichte zerfasert und wirkt bruchstückhaft – alles aus einem Grund: Du hattest beim Schreiben keinen Handlungszusammenhang im Auge sondern einen (philosophischen) Sinnzusammenhang. Das macht zuverlässig jede Story kaputt.

Und noch ein Detail: „I de hede Lande, der kan rigtignok solen brænde.“ – Mit diesem ersten Satz vertreibst Du bereits die Hälfte Deiner potentiellen Leser. Gerade der Anfang muss vor allem eins sein: anschaulich. Dein Zitat ist unverständlich und daher abschreckend. Du schreibst schließlich nicht für Sprachwissenschaftler, nehme ich an.

Zum Schluss will ich noch schreiben, weshalb ich die Geschichte trotzdem gern gelesen habe. Du kannst ja durchaus anschaulich schreiben. Ich fand es schön, Deinem Professor durch Venedig zu folgen und von seinen Erlebnissen zu erfahren. Und als ich dann diese Analogie Ratio vs. Emotion erfasst hatte, fand ich interessant, wie Du das auflöst. Es hat mich auf einer kühlen, intellektuellen Ebene interessiert. Das ist – finde ich – aber nicht das Material einer Geschichte. Es ist das Material einer Reflexion.

Beste Grüße
Achillus

 

Hallo Achillus!

Sehr gefreut hat es mich, dass du auf diese Geschichte zurückgegriffen hast und daran grundlegende Reflexionen über das Geschichtenerzählen anknüpfst.
„

I de hede Lande, der kan rigtignok solen brænde.
Mit diesem ersten Satz vertreibst Du bereits die Hälfte potentieller Leser.
Dieser erste Satz von Hans Christian Andersen aus seinem Märchen „Der Schatten“ weist darauf hin, dass es sich um eine Bearbeitung des Märchens von Andersen handelt.
Viele Geschichten und Romane haben am Anfang als Motto ein fremdsprachiges Zitat, manchmal auch in Originalschrift (Griechisch). Deine Behauptung, so etwas würde Leser vertreiben, mag stimmen; man könnte sich auch Leser denken, die von etwas Fremdem angezogen werden. Solche Leser wünsche ich mir.

Aus einem äußeren Anlass habe ich die Variation zu Andersen geschrieben. Bei Andersen wird das Original (gelehrte Mann) hingerichtet. Bei mir vereinigen sich unter umgekehrten Vorzeichen Original und Schatten (Machtwechsel).

Als der Schatten und die Prinzessin später in dieser Nacht heirateten, war der gelehrte Mann bereits tot. (Letzter Satz von Andersen)

Was man aber nicht tun sollte, ist, eine Geschichte von einer abstrakten Idee her aufzubauen.
Ich habe die Geschichte in Anlehnung an Andersen aufgebaut und umgebaut, von einer moralischen Geschichte zu einer psychologischen.

Im Fall von "Der Aufstand des Schattens" arbeitest Du mithilfe Deiner Protagonisten ein philosophisches Thema ab. Das, was Deine Protagonisten tun, wird nicht aus realen Erfahrungs- und Sinnzusammenhängen heraus entwickelt, sondern aus der künstlichen Gegenüberstellung von Rationalität (die der Professor vertritt) und emotionaler Schöpferkraft (diesen Part übernimmt die Muse)
.

Ich sehe sie eher als eine psychologische Geschichte an, in der vernachlässigte Persönlichkeitsanteile einen Aufstand proben, so wie das bei seelischen Krankheiten oft der Fall ist.
Es ist ein Märchen, in denen ja oft künstliche Gegenüberstellungen von Gut und Böse zu finden sind. Märchen schildern auch nicht „reale Erfahrungs- und Sinnzusammenhänge“, sondern bilden Modelle zu Lebenssituationen. Wie Fabeln, Parabeln usw.

Im Gegensatz zu einfachen Beobachtungen der erfahrbaren Wirklichkeit spiegeln sich in einer philosophischen Idee bereits komplette Theorien über Zusammenhänge, Gesetzmäßigkeiten usw. Mit anderen Worten: Eine philosophische Idee ist Endprodukt des Denkens.
Ich sehe hier nicht diese Ausschließlichkeit. Es gibt keine „einfache Beobachtung der erfahrbaren Wirklichkeit“. Sie ist in jedem Fall von den unbewussten und „gewohnten“ Alltagstheorien gelenkt. Es ist nur die Frage, tut der Erzähler so, als erzählte er ganz naiv die Wirklichkeit und nichts als die Wirklichkeit, sollte es die denn geben, und fällt der Leser darauf herein, oder reflektiert er seinen Standpunkt. Bei Märchen handelt es sich um ein Zwischending. Einerseits tut es so, als würde es Realität pur schildern, andererseits ist es wegen der Vereinfachung ein Modell einer Welt, von Personen, von Situationen.
Die Protagonisten verhalten sich unnatürlich. Sie reden, wie kein Mensch reden würde, weil der Autor sie dazu verurteilt hat, Theorien über das Leben zu verkünden
:
Man kann nun darüber streiten, ob ich zu sehr die Sprache von Andersen übernommen habe und ob ich das Märchen hätte völlig modernisieren sollen, aber ich blieb in dem Sprachduktus, weil ich die Distanz zur Wirklichkeit, also die Künstlichkeit und die leichte Ironie, die darin mitschwingt, betonen wollte.
Vielleicht geht es auch einfach darum, dass Du Dir klarmachen solltest, was Du erreichen willst. Geht es darum, eine abstrakte Idee zu transportieren, indem Du eine Geschichte drum herum baust, dann lässt Du Dich auf ein schwieriges Unterfangen ein, denn das ist wie Wasser aus Milch machen.
Ich wollte durchdeklinieren, ob der Wissenschaftler als der einseitige Mensch sterben musste oder nicht. Meine These gegen Andersen ist die Internalisierung des Originals, die Persönlichkeitsumwandlung statt die des Tötens eines Persönlichkeitsanteils. Aber immer wieder: Es ist und soll keine realistische Geschichte sein, sondern ein Modell eines Lebensentwurfs, bei dem die Wandlung einer Person in Anlehnung an Andersen Thema ist.
Ich halte viel von solchen Modellgeschichten, weil sie den Leser anregen, anhand des halbabstrakten Modells sich und seine Wirklichkeit zu überprüfen. Und damit befindet sich die Geschichte in einer Reihe von Parablen, Fabeln, Beispielgeschichten usw. Das sind nicht die Geschichten, an die du denkst, aber sie haben auch eine Berechtigung.

Er beobachtet und stellt Ereignisse so in glaubhafter Weise zusammen, dass sich darin das reale Leben widerspiegelt.
Genau das ist in diesem Märchen nicht beabsichtigt. Es geht um die Veranschaulichung des Prozesses einer Überdehnung der Rationalität, die zur Abspaltung und Loslösung der Poesie (Emotionalität) führt, die dann über die ausgetrocknete Rationalität die Herrschaft gewinnt. Vom Leser erwarte ich bei solchen Geschichten, dass er dieses Modell auf den Wirklichkeitsgehalt überprüft. Diese Überprüfung ist keine Leselust, sondern eine Interpretationslust oder Denklust. Das gilt aber wohl für alle Geschichten mit Modellcharakter.
Was du zu deiner Geschichtenauffassung schreibst, ist alles richtig. Nur wollte ich nicht so eine Geschichte schreiben.
Ein zweites Problem neben der mangelnden Glaubhaftigkeit der Verhaltensweisen bei Deiner Konstruktion ist, das sich keine runde Geschichte ergibt, finde ich. Das Erzähltempo schwankt vom Szenischen in Zusammenfassungen, die gleich Jahre überspringen. Das Motiv des Südlichen am Anfang spielt im Weiteren kaum mehr eine Rolle. Die Geschichte zerfasert und wirkt bruchstückhaft – alles aus einem Grund: Du hattest beim keinen Handlungszusammenhang im Auge, sondern einen (philosophischen) Sinnzusammenhang. Das macht zuverlässig jede Story kaputt.
Hier kann man mir vorwerfen, dass ich zu sehr dem Text von Andersen gefolgt bin. Aber das wollte ich. Und das Südliche wird ja durch den Schatten durchgehend repräsentiert.
Das Schöne an Wortkrieger ist, dass man oft solchen Gedankenaustausch findet und ich danke dir für die Gelegenheit, dies mit dir zu tun. Es ist für mich eine Vergnügungs- und Denklust.
Fröhliche Grüße
Wilhelm

 

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