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Der Aufstand des Schattens
„I de hede Lande, der kan rigtignok solen brænde.“
(Hans Christian Andersen: Skyggen)
Die Hitze in südlichen Ländern kann Menschen aus dem Norden großen Schaden zufügen. Dies widerfuhr einem jungen Wissenschaftler beim Aufenthalt im Sommer in Venedig. Im milden Klima des Südens wollte der Lektor für theoretische Physik an der „Syddansk Universitet“ in Odense Kraft fürs neue Buch zu sammeln, das ihn mit einem Schlag weltberühmt machen sollte.
Er mietete ein Zimmer in der bescheidenen „Casa delle Favole“ mit Blick auf eine schmale Gasse, am Rande der Stadt gelegen, weit weg von den üblichen Touristenherbergen. Nach der Ankunft am frühen Nachmittag wanderte er voller Erwartungen auf südliche Lebenslust durch die Gassen. Plötzliche Schwindelanfälle und kurze Ohnmachten zwangen ihn, sich ins Bett zu legen. Er schrieb den Schwächeanfall der langen Reise zu. Nach einigen Stunden der Erholung trat er auf den Balkon hinaus. Die Leute flanierten durch die Gasse, diskutierten in Gruppen mit großer Theatralik, holten Stühle und Tische heraus und tranken in lustiger Runde Wein. Kinder jagten schreiend einem Ball nach, an einer Ecke sang eine kleine Gruppe neapolitanische Lieder, Kirchenglocken läuteten, aus offenen Fenstern drang Stimmengewirr von Fernsehfilmen: ein lautstarkes, ein fröhliches, ein wirkliches Leben! Wie viel freier und froher als in seiner kalten Heimat!
Als der junge Mann am nächsten Tag nun endlich die Stadt erkunden wollte, hinderten ihn Schwindel und Ohnmachtsanfälle wiederum daran. Er schleppte sich ins Zimmerchen zurück und verbrachte den Tag im Bett. Diesmal hielt er die Hitze für die Ursache seiner Schwäche. Schwitzend und vor sich hindämmernd lag er hinter verdunkelten Fenstern im Bett und wartete auf die abendliche Abkühlung. Abends auf dem Balkon freute er sich über die Lebenslust der Venezianer. Nur das Haus gegenüber erzeugte ein leichtes Unbehagen, dunkel und düster, wie es ihn anstarrte. „Eine unbewohnte Ruine“, beantwortete der Wirt die Frage nach dem gespenstischen Bauwerk.
Am nächsten Tag zwang die Hitze den Physiker nach einem kurzen Spaziergang ins Bett zurück. Dort überdachte er seine wissenschaftliche Absicht, hinter dem Chaos der Welt die Ordnungsprinzipien der Natur zu entdecken. Davon handelt die Doktorarbeit: „Geometrische Formen der Selbstorganisation in Natur und Gesellschaft“.
Eine Mädchenstimme begann, Märchen aus seiner Kinderzeit vorzutragen: „Lille Klaus og store Klaus“, „Snedronningen“, „Hyldemor“. Der sanfte, heimatliche Klang versetzte ihn in einen schwerelosen Zustand.
Deutlich sah er die Vorleserin neben dem Bett sitzen und aus einem Büchlein vortragen. Mit einem Händedruck wollte er sich bedanken. Seine Hand griff ins Leere.
Mit der Kühle der Nacht verschwand der Spuk. Das vage Gefühl, irgendetwas Wichtiges zu übersehen, beschäftigte ihn, als er die Stufen hinunterstieg, um in einer Trattoria zu essen. Nach dem Espresso mischte er sich unter die Flanierenden. Neidvoll beobachtete er diese Leichtlebigkeit und Lebensfreude.
Als er um Mitternacht auf den Balkon trat, schimmerte aus den Räumen des gegenüberliegenden Hauses Licht und es erklang leise Musik. Ein menschlicher Schatten wanderte durch die Zimmer und trat auf den Balkon. Mit freudigem Erstaunen erkannte der Physiker die Vorleserin. Er bewunderte im Dämmerlicht ihre makellose Figur, die ebenmäßigen Gesichtszüge und das tiefschwarze Haar. Sie winkte ihm. Er winkte zurück. Schlagartig brauste wilde Musik auf. Mit großartigen Sprüngen stürmte das Mädchen durch die beleuchteten Zimmer, drehte Pirouetten, reckte und streckte sich, als hätte sie die Gesetze der Schwerkraft überwunden. Mit wachsender Begierde verfiel der Mann aus dem Norden ihrer Schönheit. Sein Körper bebte, der Leib schüttelte sich und er sank besinnungslos zu Boden.
Die Sonnenstrahlen weckten ihn am frühen Morgen. Die Glieder schmerzten, der Kopf dröhnte und die Augen verdoppelten die Welt. Ermattet schleppte er sich zum Bett und verschlief die Hitze des Tages, ohne eine Geschichte gehört oder die Vorleserin gesehen zu haben. Sein Körper fühlte sich an, als wäre ein großes Stück aus ihm geschnitten worden.
Als er abends auf den Balkon trat, starrte ihn das Mädchen aus einem geöffneten Fenster der hell erleuchteten Wohnung regungslos an. Im Hintergrund dröhnte ein Potpourri bekannter Opernmelodien im Tanzrhythmus.
„Wirst du tanzen?“
Mit einem Ruck machte sie kehrt und setzte die Musik in wundervoll getanzte Figuren um. Alle Gefühlsregungen, zu denen Menschen fähig sind, drückte ihr Körper aus. Den Physiker packte eine gewaltige Sehnsucht. Er wollte die Tänzerin fest an sich drücken. Aus Leibeskräften schrie er ihr zu: „Ich komme!“ Kaum hatte er dies gerufen, verlosch das Licht. Die Musik verstummte. Die Tänzerin war nicht mehr zu sehen. Er durchsuchte das Haus. Es war leer.
Ermattet ging er zu Bett und schlief drei Tage lang, ohne das Mädchen gesehen oder eine Geschichte gehört zu haben.
*
Vorzeitig brach er den Aufenthalt in Venedig ab und flog in die heimatliche Kühle nach Odense zurück. Bei der Ankunft atmete er erleichtert auf. Die Hitze war ihm nicht zuträglich gewesen. Ihr schrieb er die Erschöpfung, die Ohnmachten und die Visionen von einer Vorleserin und Tänzerin zu. Der Süden macht mich krank, zog er das Resümee der Reise.
Noch am Abend der Rückkehr schrieb er die erste Seite des neuen Buches über die „Eleganz, Rationalität und Destruktivität nichtlinearer Verhaltensweisen von Körpern in unterschiedlichen Wärmezonen“. Zufriedenheit, sogar Glück, fand er in den festen Ordnungsgefügen wissenschaftlichen Arbeitens. Für ihn war die Welt ein Ort des Eindeutigen, Eleganten und Wahren, der in geometrischen Formen vorbildhaft präfiguriert ist.
*
Viele Jahre nach dem Aufenthalt in Venedig – er war mittlerweile Professor geworden, aber nicht weltberühmt - klingelte es an der Tür zu seinem Junggesellen-Appartement. Eine gut aussehende Dame stand davor.
„Hallo, da bin ich endlich!“
Sie schob ihn beiseite, rauschte durch den Korridor zum Wohnzimmer und ließ sich auf dem „Denksessel”, dem Ort seines Philosophierens, nieder.
Durch die Gefühlswallungen, die der Anblick ausgelöst hatte, bahnte sich ein schüchternes „Hallo“ den Weg. Er tapste ihr nach.
„Ich wollte sehen, wie es dir geht. Siehst blass aus und du bist zu mager.“
Sie war es, die Vorleserin, die Tänzerin! Im eleganten Kostüm, mit Goldschmuck beladen, strotzend vor Selbstbewusstsein.
„Erinnerst du dich an die heißen Tage in Venedig? Als ich dir Geschichten vorlas? Das war das erste Mal, dass du mir zugehört hast. Sonst hattest du nur für Physik Interesse. Du warst in der Rationalität gefangen, hast überall nach geometrischen Figuren gesucht, das Leben nach mathematischen Formeln geführt und mich übersehen. In dieser Nacht bin ich dir entkommen.“
„Wer sind Sie?“
„Ich bin deine poetische Ader, Fantasie, emotionale Intelligenz; kurz: deine Muse. Nie hast du mich früher beachtet. Als du krank im Bett lagst, musstest du mir zuhören. Mir kam aber zu Bewusstsein, dass es mit dir keinen Sinn hat. Die südliche Lebensfreude hatte mich ermutigt, mich von dir zu lösen und ein eigener Mensch zu werden.“
„Weshalb haben Sie dann vor mir getanzt?“
„Um die Kraft aus dir zu saugen, die ich zu meiner Umwandlung zum Menschen brauchte.“
„So ein Quatsch. Sie drängen sich hier herein und erzählen mir ein Märchen von einer Inkarnation. Was wollen Sie von mir?“
„Sehen, wie es dir geht.“
„Gut. Das haben Sie. Auf Wiedersehen!“
Die Muse rekelte sich im „Denksessel“. „So schnell wirst du mich nicht los! Du bist mir etwas schuldig. Jahrelang hast du mich ignoriert, vernachlässigt und missachtet. Dafür musst du bezahlen.“
„Sie hatten doch den Vorteil, ein Mensch zu werden!“
„Vorteil nennst du das? Bevor ich bei dir völlig ausgetrocknet wäre, wollte ich leben. Damals wusste ich nicht, was Menschsein bedeutet. Ich war zu poetisch, romantisch, idealistisch. Jetzt weiß ich: Die Welt ist böse und blöde. Die Menschen fallen auf Lüge, Gemeinheit und Anbiederung herein. Durch Hinterhältigkeit bin ich reich geworden. In meinen Gesellschaftsreportagen in der BuntBild umschmeichele ich die, die mir Geld geben, den Sparsamen hänge ich Skandale an, bis sie zahlen oder in der Versenkung verschwinden.“
„Sie wollen eine Muse sein? Musen zeigen einem die Schönheit des Denkens.“
„Naiver Naturwissenschaftler. Geometrischen Figuren – ja, ich habe alle Arbeiten von dir gelesen – sind eine Seite des Lebens. Auf der anderen Seite spielt das Chaos aus Lieben, Hassen, Begehren und Befriedigung von Lust die bestimmende Rolle. Denk darüber nach. Du wirst von mir hören.“ Sie stand auf und verschwand.
Der Professor für theoretische Physik prüfte nach diesem Streit seine Lebenseinstellung mit dem Ergebnis, dass die Wahrheit, seine Wahrheit, letztlich siege. Eine Änderung der Lebensweise sei nicht notwendig.
*
Jahrelang hatte er an dem Buch geschrieben, das die physikalischen Grundlagen des Eindeutigen, Eleganten und Wahren darstellt. Es wurden davon 123 Stück verkauft. Die restlichen 1877 Exemplare verschwanden in einer Verbrennungsanlage. Sein Ruhm blieb unerheblich.
Nach dieser Niederlage erschien die Dame wieder; rundlicher geworden, mit noch mehr Schmuck behangen, in einem exquisit teuren Hosenanzug.
Er solle sie nach Marienbad begleiten. Den Aufenthalt zahle sie. Sie bräuchte eine Abmagerungskur, und er hätte, seinem Aussehen nach zu urteilen, Erholung nötig.
Der Physiker willigte ein. Er war mit seinen Fähigkeiten am Ende: der Misserfolg des Buches, die beinahe leeren Vorlesungen, die Missachtung durch die Kollegen.
„Eine Bedingung stelle ich: Du bist mein Chauffeur.“ Dem Gelehrten war alles egal. Autofahren war seine Leidenschaft. Im vornehmsten Hotel am Platze bekam er das billigste Zimmer. Tagelang chauffierte er die Frau durch die Landschaft.
Eines Tages kam ein russischer Oligarch ins Hotel. Auf den ersten Blick erkannte er in der Dame eine verwandte Seele. Da er nicht verheiratet war und er die Dame attraktiv fand, machte er sich an sie heran. Nach dem Dinner am ersten Abend bat er sie um einen Tanz. Sie tanzten wunderbar miteinander. Ein Gespräch an der Bar über Geld zeigte gleiche Interessen. Der Russe wollte wissen, wie intelligent sie sei. Deshalb stellte er ihr eine Frage, die er selber nicht beantworten konnte. „Wie kann man mathematisch genau berechnen, ob zwei Menschen zusammenpassen?“
Da lächelte die Dame ihn an: „Für so einfache Fragen ist mein Chauffeur besser geeignet. Dort an der Tür steht er. Fragen Sie ihn.“
Der Heiratswillige ging zu dem gelehrten Mann. Angeregt unterhielten sie sich über Wirtschaft, Gesellschaft, Politik, Kultur und über den äußeren und inneren Menschen. Der Physiker entwickelte aus dem Stegreif eine „Theorie der geometrischen Passung in Familien.“
„Was ist das für eine kluge Frau, die einen so gelehrten Chauffeur hat“, dachte der Russe, „es wäre für meine Geschäfte vorteilhaft, wenn ich sie heiraten würde.“ Seinen Heiratsantrag nahm die Dame gerne an. Mit ihm konnte sie einen guten Schnitt machen. Geschäft war ihr alles.
Am Abend vor der Hochzeit rief die Muse den Chauffeur zu sich.
„Morgen heirate ich. Ich brauche dich nicht mehr. Als Lohn für die Dienste bekommst du ein eigenes Haus und eine jährliche Rente von 100 000 Euro. Dieses Angebot gilt unter einer Voraussetzung.“
Die Gelehrte, der sehr unter Misserfolgen litt, schöpfte Hoffnung.
„Welche Voraussetzung?“
„Die Bedingung ist, dass du allen Leuten erzählst, du hättest nur vier Klassen Volksschule besucht. Ich hätte dich auf der Straße aufgelesen und erzogen. Von mir hättest du deine Bildung empfangen.“
„Nein. Das mach ich nicht. Ich lüge nicht. Die Wahrheit ist, dass ich Professor bin und du ein Ableger von mir, nur meine Muse, wie du behauptest. Das sage ich dem Russen. Dann ist es aus mit der Hochzeit.“
„Das glaubt dir niemand! Sei vernünftig!“
„Nein! Ich gehe jetzt zu ihm.“
In diesem Augenblick begann sein ganzer Körper zu beben, bis er ohnmächtig zu Boden sank wie in dem Moment, als er die Muse zum ersten Mal tanzen gesehen hatte. Der Körper löste sich schnell auf. Nach wenigen Minuten sah man nichts mehr von ihm.
„Du Rationalist! Ich habe mir deinen Körper und Geist einverleibt. Mit Wissenschaft allein warst du eine kümmerliche Person. Deine Rationalität und meine Gefühle machen uns, machen mich zu einem vollkommenen Menschen.“
Kurz vor der Trauungszeremonie berichtete die Braut ihrem Bräutigam, dass der Chauffeur sich selbst verbrannt hätte. Nur ein Häufchen Asche sei von ihm übrig geblieben: „Er konnte nicht ertragen, dass ein anderer Mann in meiner Nähe ist. Er war ein guter Chauffeur und ein treuer Freund. Wir wollen ihn feierlich begraben.“
„Das ist sehr anständig. Wie froh bin ich, dich gefunden zu haben.“
Drei Tage nach der opulenten Hochzeit fand eine Beerdigung eines Häufchens Asche statt, die die Muse dem offenen Kamin des Hotels entnommen hatte. Der Physiker, jetzt Teil der Muse, sah seiner eigenen Beerdigung zu und war gerührt.
Die Vollkommenheit der Muse, die ein Mensch geworden war, zeigte sich am Bankkonto.