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Der außerirdische Elefant
Der außerirdische Elefant
Es war einer jener Abende, die sich in die Länge zogen wie Kaugummi, zäh und ohne Inhalt. Otto Meier saß auf dem schmalen Balkon seiner Wohnung im dritten Stock eines grauen Plattenbaus in Berlin. Der Himmel war eine matte, lichtlose Fläche, die die Farben aus der Stadt zu saugen schien, und eine unangenehme Kälte kroch durch den Beton, als wollte sie sich direkt in seine Knochen setzen. In der Ferne flackerte schwach das Licht einer Straßenlaterne, die wie ein einsamer Wächter über diese trostlose Ecke der Stadt wachte.Er hielt eine Flasche Himbeergeist in der Hand und nippte daran, mehr aus Gewohnheit als aus Genuss. Der Alkohol brannte angenehm in seinem Hals und hinterließ einen leichten Geschmack von Bitterkeit, der so gar nicht zu dem Bild von süßen Himbeeren passen wollte. Während er so dasaß, lauschte er den dumpfen Geräuschen aus den umliegenden Wohnungen – das Klappern von Geschirr, der Fernseher irgendwo in der Ferne, das monotone Surren der Stadt. Ein schaler Geschmack von Einsamkeit und Verlorenheit lag in der Luft, wie ein Nebel, der nie ganz verschwand.
Die Abendstimmung lullte ihn fast ein, bis eine leise Stimme von nebenan zu ihm herüberwehte. Die Stimmen seiner Nachbarn, ein älteres Ehepaar, das immer laut genug sprach, dass die ganze Etage mitbekam, wenn wieder über die hohen Preise im Supermarkt oder die langsame Post geschimpft wurde.
„...und ich sage dir, Karl, heute Nacht ist es so weit,“ hörte er die alte Frau sagen. Ihre Stimme war voller Spannung, fast ein wenig verschwörerisch, als wäre sie einem Geheimnis auf der Spur, das nur sie alleine verstand.
„Das Raumschiff, Helga,“ murmelte Karl, „genau dort, im Stadtpark. Sie landen dort heute Nacht, das wurde uns doch ganz klar gesagt.“
Otto schrak aus seiner Lethargie auf. Ein Raumschiff? Er lauschte intensiver, den Kopf leicht zur Seite geneigt, um kein Wort zu verpassen.
„Du hast den Brief doch gelesen, Karl. Es steht ganz eindeutig da: strenge Geheimhaltung, nur für Eingeweihte. Wir dürfen niemandem etwas verraten.“ Die alte Frau flüsterte beinahe, doch die Erregung in ihrer Stimme war unüberhörbar.
Otto zog die Stirn in Falten und schaute sich unsicher um, als könnte ihn jemand bei diesem ungewollten Lauschen ertappen. Ein Raumschiff im Stadtpark? Hatte er sich verhört? Die Nachbarn, Karl und Helga, waren ein altes Ehepaar, das sonst höchstens über die Gicht und den letzten Arztbesuch sprach. Was sollte dieses Gerede über eine „geheime Mission“ und ein Raumschiff?
„Sie haben alles vorbereitet, Helga,“ sagte Karl in einem Tonfall, der nach Feierlichkeit klang. „Wir müssen nur noch dort sein, um es zu sehen. Heute Nacht werden wir endlich wissen, ob sie wirklich existieren.“
Otto musste sich ein Lachen verkneifen. Die Vorstellung, dass diese beiden Rentner, die sich die Tage mit Kreuzworträtseln und dem Fernsehprogramm vertrieben, plötzlich in eine „streng geheime Mission“ verwickelt sein könnten, war absurder als alles, was er sich ausmalen konnte. Und doch … irgendetwas in ihrer Stimme, in der Ernsthaftigkeit, mit der sie sprachen, ließ ihn innehalten.
Er trank einen weiteren Schluck Himbeergeist und versuchte, die seltsame Unterhaltung seiner Nachbarn zu ignorieren, doch die Worte des alten Ehepaars hallten in seinem Kopf wider. Er fühlte sich seltsam unruhig, als wäre das Bild seiner Nachbarn in seinem Kopf plötzlich brüchig geworden, als hätten sie eine verborgene Seite, die ihm bisher verschlossen geblieben war.
Sein Blick wanderte über die Stadt. Der Stadtpark lag nur wenige Blocks entfernt, ein Ort, den Otto oft gemieden hatte, weil die Menschen dort entweder zu laut oder zu verloren in ihren eigenen Gedanken schienen. Es war kein Ort, an dem jemand wie er sein Glück suchen würde – und schon gar nicht ein Ort, an dem man ein Raumschiff erwarten würde.
„Wenn ich es mir recht überlege,“ murmelte er zu sich selbst, „kann ich wohl einen kleinen Spaziergang ins Grüne machen.“ Er wusste nicht, was ihn zu dieser Entscheidung trieb. Vielleicht war es der Alkohol, der ihn übermütig werden ließ, vielleicht war es die Neugier, die ihn dazu brachte, aus seinem monotonen Leben auszubrechen und sich auf etwas Unberechenbares einzulassen.
Langsam erhob er sich, wobei er die leere Himbeergeistflasche noch einmal betrachtete, als wäre sie der stillschweigende Zeuge eines Versprechens, das er nicht zu erklären vermochte. In diesem Moment war ihm nicht bewusst, dass dieser Entschluss, der so spontan und beinahe sinnlos erschien, ihn auf einen Weg führen würde, der all seine Vorstellungen von Realität und Vernunft zerschlagen sollte.
Er öffnete die Balkontür und betrat die kühle Luft des Hausflurs.
Der Hausflur war dunkel und schmal, und die wenigen flackernden Glühbirnen, die aus der Decke hingen, tauchten die Umgebung in ein kaltes, trübes Licht. Der Boden unter Ottos Füßen knarrte, als er seine Schritte bedächtig durch den stillen Gang setzte. Es herrschte eine eigentümliche Stille, die er kaum gewohnt war. Normalerweise drang das Summen von Gesprächen durch die dünnen Wände oder ein Radio spielte irgendwo leise im Hintergrund. Doch heute Nacht schien die ganze Welt in einer unnatürlichen Stille gefangen.
Mit jedem Schritt, den Otto tiefer in den Gang ging, überfiel ihn ein Gefühl der Unwirklichkeit, als hätte ihn das einfache Verlassen seiner Wohnung in eine andere Welt befördert. Der Gedanke, dass er zwei alten Rentnern folgen wollte, die angeblich ein Raumschiff erwarten, erschien ihm selbst zunehmend seltsam. Und doch konnte er nicht umkehren. Es war, als würde eine unsichtbare Kraft ihn antreiben, und er musste weitergehen, um zu verstehen, was hinter dieser absurden Unterhaltung steckte.
Dann, plötzlich, tauchte eine leuchtende Gestalt vor ihm auf. Ein großer, gelber Körper füllte den Gang fast vollständig aus. Otto blieb wie angewurzelt stehen und blinzelte mehrfach. Ein gelber Elefant stand vor ihm, direkt im schmalen Flur des Plattenbaus. Ein Elefant, der ihn mit großen, runden Augen und einem unverhohlen neugierigen Blick ansah.
Otto schüttelte den Kopf, als müsse er ein besonders lebhaftes Hirngespinst vertreiben. Doch das Bild blieb – der gelbe Elefant stand da, völlig ruhig, den Rüssel halb erhoben, als würde er Otto begrüßen.
„Das kann nicht sein,“ murmelte Otto und rieb sich die Augen. Doch das riesige Tier schien in seinem absurden Dasein zu verharren, ungerührt von Ottos offensichtlicher Verwunderung.
„Hallo?“, wagte er schließlich und sah sich unsicher um. Vielleicht war dies nur eine Projektion, eine Art seltsame Halluzination? Der Elefant jedoch regte sich nicht, stand da und versperrte ihm den Weg, als wäre das vollkommen selbstverständlich. Er schien Otto nicht etwa feindlich gesinnt, aber es war auch klar, dass er nicht daran dachte, ihm Platz zu machen.
In diesem Moment hörte Otto das Klicken einer Tür, und eine Gestalt trat hinter ihm in den Flur. Es war Frau Schmidt, seine Nachbarin von ein paar Türen weiter. Eine eher zurückhaltende Person, die ihm im Treppenhaus immer nur ein kurzes, wortloses Nicken zuwarf. Doch jetzt schien sie nicht minder überrascht, als sie den Elefanten sah.
„Was… was zur Hölle?“ Frau Schmidt starrte das Tier an, die Augen weit aufgerissen, und hielt sich die Hand an die Stirn. Sie wirkte, als wolle sie jeden Moment in schallendes Gelächter ausbrechen, doch stattdessen senkte sie die Hand langsam und seufzte schwer.
„Das ist doch unmöglich!“, rief Otto, fast schon trotzig, als wolle er die Realität zwingen, sich zu verändern. „Wie ist der überhaupt hier reingekommen? Und warum ist er gelb?“
„Wenn wir das jetzt wüssten, wären wir vermutlich schlauer,“ erwiderte Frau Schmidt trocken und schüttelte den Kopf. „Aber gut, wenn er nicht weggeht, müssen wir ihn wohl vertreiben.“
Otto sah sie erstaunt an. „Und wie genau stellen Sie sich das vor?“
„Man muss mit ihm reden. Sanft, aber bestimmt,“ sagte sie sachlich, als wäre das nichts Ungewöhnliches. „Wie bei Kindern. Wenn man Ruhe bewahrt, folgt das Tier vielleicht von selbst.“
Frau Schmidt trat näher an den Elefanten heran und sprach in einem beruhigenden, fast hypnotischen Ton auf ihn ein. Otto stand still daneben und beobachtete die Szene, unfähig zu begreifen, was hier wirklich vorging. Frau Schmidt redete weiterhin mit ruhiger Stimme, machte dabei vorsichtige Bewegungen mit den Händen und tätschelte schließlich ganz sanft den Rüssel des Elefanten.
Zu Ottos Erstaunen schien der Elefant tatsächlich zu reagieren. Langsam, wie in Zeitlupe, senkte das riesige Tier den Kopf, blinzelte ein paar Mal und wandte sich schließlich zur Seite. Ohne weitere Aufforderung trottete es in aller Gemächlichkeit zurück den Flur entlang, verschwand um die Ecke und ließ die beiden Nachbarn in einem dumpfen Schweigen zurück.
Otto blinzelte noch immer ungläubig. Frau Schmidt jedoch klopfte ihm leicht auf die Schulter und zuckte mit den Schultern. „Manchmal ist das Leben eben seltsam,“ sagte sie mit einem leichten Lächeln, bevor sie sich umdrehte und in ihre Wohnung zurückging, als wäre nichts Außergewöhnliches geschehen.
Otto stand noch eine Weile im leeren Flur, die Hände in den Taschen, und versuchte zu begreifen, was sich hier gerade ereignet hatte. Dann straffte er die Schultern. Es war nicht die Zeit, um sich den Kopf zu zerbrechen. Er hatte ein Ziel, und so machte er sich wieder auf den Weg nach draußen, hinaus in die kühle Berliner Nacht.
Als Otto aus der Tür trat und die Straße hinabging, spürte er, wie der Anblick des Elefanten ihm eine Art unbehagliche Unruhe in den Kopf gepflanzt hatte. Die Szene erschien ihm immer wieder vor seinem geistigen Auge – und es war, als würde das Bild von diesem seltsam gelben Elefanten ihn herausfordern, weiterzumachen. Die Straßenlaternen warfen lange Schatten auf den Gehweg, und das Mondlicht spiegelte sich flüchtig auf den nassen Pflastersteinen. Ein Frösteln kroch ihm über den Rücken, doch er schüttelte es ab und konzentrierte sich auf sein Ziel: den Stadtpark.
Der Stadtpark lag in der Nähe, eine von Bäumen gesäumte Oase, die tagsüber ein Zufluchtsort für Spaziergänger und Kinder war, aber nachts eine kühle, unnahbare Atmosphäre ausstrahlte. Als Otto sich dem Parkeingang näherte, bemerkte er die Umrisse seiner Nachbarn, die sich bereits an einer Bank versammelt hatten und gedämpft miteinander flüsterten. Ihre Gestalten wirkten im Schatten der Bäume beinahe gespenstisch, und Ottos Schritte wurden langsamer, als er sie beobachtete.
Er blieb in sicherer Entfernung stehen, verborgen im Schatten eines großen Baumes, und lauschte den leisen Stimmen, die sich durch die Dunkelheit zu ihm trugen.
„Sie landen bald. Ich kann es fühlen,“ flüsterte Karl, die Stimme voller Ehrfurcht.
„Du hast recht. Alles passt zusammen,“ fügte Helga leise hinzu. „Genau hier. Es wird bald geschehen.“
Otto fühlte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Die ganze Situation war bizarr und seltsam faszinierend zugleich. Er war gefangen zwischen der Vernunft, die ihm sagte, er solle umkehren, und einer tiefen, unerklärlichen Neugier, die ihn dazu trieb, weiter zuzuschauen.
Otto stand regungslos im Schatten des großen Baumes, die Blicke fest auf das alte Ehepaar geheftet, das auf einer Bank am Rande einer verlassenen Lichtung saß. Die Luft schien sich zu verdichten, beinahe greifbar in der kühlen Dunkelheit. Ein Zittern durchlief ihn, doch er wusste nicht, ob es die nächtliche Kälte oder ein unerklärlicher Schauder war. Es war, als würde etwas im Hintergrund des Nachthimmels brodeln und sich zusammenziehen, wie die letzten Sekunden vor einem Gewitter.
Plötzlich flüsterte Karl erregt, „Es ist soweit, Helga! Siehst du das Licht dort oben?“
Otto blinzelte und schaute zum Himmel, wo sich tatsächlich ein schwacher Lichtpunkt abzeichnete. Ein winziger Stern, der sich langsam vergrößerte und in einem matten Blau schimmerte, als ob er durch eine unsichtbare Wolkenschicht hindurchdrang. Helga nickte ehrfürchtig und legte ihre Hand auf Karls Arm, während sie gebannt nach oben starrte.
Der Lichtpunkt wurde größer, gewann an Helligkeit, und Otto bemerkte, wie seine Nachbarn auf der Bank sich aufrichteten und gespannt nach oben schauten. Es war ein sphärisches, fast halluzinatorisches Blau, das sich jetzt in konzentrischen Kreisen über der Lichtung ausbreitete, den gesamten Park in ein ätherisches Licht tunkte und den Boden unter Ottos Füßen sanft zum Vibrieren brachte. Der Lichtschein bewegte sich in langsamen Spiralen, wie ein Tropfen Tinte, der sich in Wasser auflöst.
Und dann, so leise, dass es beinahe unwirklich erschien, landete es auf der Wiese vor ihnen: ein kleines, rundes Objekt, nicht größer als ein Fußball. Es schien kaum die Wiese zu berühren, als ob es schwerelos schwebte. Für einen Augenblick verharrte die Szene in einem surrealen Stillstand – als wäre die Zeit eingefroren, nur um diesen Moment festzuhalten.
Otto wagte kaum zu atmen. Die Realität vor ihm schien sich zu verflüchtigen, als hätte der Abend seine Regeln und Vernunft an diesem Punkt einfach aufgegeben. Er beobachtete seine Nachbarn, die ohne zu zögern auf das Objekt zugingen, die Köpfe voller Erwartung erhoben. Ihre Bewegungen waren wie im Rausch, ein Ausdruck von Ehrfurcht und Ergriffenheit auf ihren Gesichtern, als ob sie einer jahrzehntelangen Sehnsucht nun endlich nachgeben konnten.
Dann öffnete sich an dem kleinen Objekt eine winzige Luke, und Otto glaubte zunächst, seine Augen täuschten ihn. Doch was er sah, war unbestreitbar: Eine Gestalt mit vier langen Tentakeln glitt aus dem Raumschiff heraus, gefolgt von drei weiteren, identischen Kreaturen. Sie waren etwa zwanzig Zentimeter groß und bewegten sich mit einer unnatürlichen, fast hypnotischen Präzision. Ihre Haut schimmerte in einem metallischen Grau, und die Tentakel, die ihnen aus dem Oberkörper wuchsen, bewegten sich wie Schlangen, scheinbar eigenständig und in alle Richtungen.
Ihre Gesichter waren einfach und doch fremdartig: zwei runde, tiefschwarze Augen, die ohne Pupillen starrten, und kleine, runde Öffnungen, die vermutlich den Mund oder die Nase darstellten. Otto konnte kaum glauben, was er sah, doch der Anblick ließ ihn nicht los. Diese Wesen strahlten eine kühle, emotionslose Aura aus, die gleichzeitig abstoßend und faszinierend war.
Die Rentner traten ehrfürchtig näher, ihre Augen funkelten in einem seltsamen, fast kindlichen Enthusiasmus. Helga hob zaghaft die Hand und bewegte sich auf die Tentakelwesen zu. Doch im nächsten Moment geschah etwas Unfassbares.
Ohne Vorwarnung hoben die vier Wesen kleine, glänzende Objekte in die Höhe, die aussahen wie futuristische Waffen, strahlend und silbern. Ein grelles Licht blitzte auf, als ob ein stummer Donner durch die Luft gefahren wäre, und ein Moment später sanken Karl und Helga regungslos zu Boden. Ihre Gesichter blieben seltsam ausdruckslos, als sie leblos zur Seite fielen, als hätte jemand den Stecker aus ihren Körpern gezogen.
Otto schrie auf, doch kein Laut kam aus seiner Kehle. Seine Füße schienen wie angewurzelt. Die Tentakelwesen standen regungslos über den Körpern der Rentner und richteten nun ihre tiefschwarzen Augen auf ihn. Ein kaltes Entsetzen überkam Otto; der Traum artete in einen Albtraum aus, der ihm alle Vernunft raubte. Er spürte die lähmende Furcht, die seinen Körper steif machte, als würde er mit den Rentnern das gleiche Schicksal teilen.
Doch ein seltsamer Überlebensinstinkt erwachte in ihm. Er spürte etwas Schweres neben seinem Fuß – ein großer Stein, der halb im Boden eingelassen war. Ohne lange nachzudenken, griff er nach dem Stein, hob ihn an und schleuderte ihn mit aller Kraft auf das kleine Raumschiff.
Der Stein traf das Schiff genau, und in einem Blitz von Licht und Wärme explodierte es, zerbarst in einem gleißenden Feuerball. Die Druckwelle warf Otto zurück, und für einen Moment glaubte er, nichts mehr sehen zu können. Er spürte, wie die Hitze seine Haut streifte und das Licht ihm die Augen blendete. Als der Rauch sich legte und die Stille zurückkehrte, konnte er inmitten der Trümmer erkennen, dass nur noch eines der Tentakelwesen überlebt hatte.
Es lag am Boden, sichtlich geschwächt, und seine Tentakel zuckten schwach, als es versuchte, sich aufzurichten. Otto trat vorsichtig näher und betrachtete die Kreatur, die ihn mit einem schwachen, flehenden Blick ansah. Irgendetwas in diesen tiefschwarzen Augen schien zu sprechen, eine Art von Verzweiflung und Angst, die Otto für einen Moment innehalten ließ.
Das Wesen hob eine seiner Tentakeln und richtete sie auf Otto. In einer Sprache, die sich wie ein Summen und Knistern anhörte, flüsterte es in einem Ton, den Otto unbewusst verstand: „Bitte … verschone mich. Ich erfülle dir einen Wunsch. Nur einen, wenn du mich leben lässt.“
Die Worte sickerten langsam in Ottos Bewusstsein, und er fühlte, wie seine Angst einer plötzlichen Aufregung wich. Ein Wunsch, dachte er. Die Möglichkeit, endlich etwas an seinem tristen Leben zu ändern, war so verführerisch, dass er alle Zweifel beiseiteschob.
Er starrte das Wesen an und sagte mit heiserer Stimme: „Dann mach mich reich. Ich will sehr reich sein.“
Das Wesen zögerte, dann zog es ein kleines, rechteckiges Gerät aus einer Tasche an seinem Tentakel. Es leuchtete schwach und begann zu summen. Otto beobachtete gespannt, wie das Gerät ein unheimliches Licht ausstrahlte und das Gras vor ihm in Bewegung geriet. Dann, ohne Vorwarnung, begann sich ein großer Haufen in der Mitte der Lichtung zu formen.
Otto blinzelte verwirrt, und als er erkannte, was sich da vor ihm manifestierte, wich er angewidert einen Schritt zurück. Ein riesiger Berg aus dampfendem, übelriechendem Unrat häufte sich vor ihm auf.
Das Wesen lächelte, soweit Otto das deuten konnte, und sprach mit schwacher Stimme: „Jetzt bist du reich … reich an Scheiße.“
Es drehte sich um, raffte all seine Tentakel und schoss mit einer überraschenden Geschwindigkeit ins nahe Gebüsch, wo es in der Dunkelheit verschwand. Otto stand allein auf der Lichtung, mit nichts als dem stinkenden Haufen vor sich und dem schwindenden Nachhall seiner eigenen Enttäuschung.
Er fühlte, wie ihm der Boden unter den Füßen zu entgleiten schien. Das war nicht der Reichtum, den er sich vorgestellt hatte, nicht die Erfüllung, die er ersehnte. Die Verzweiflung kroch in ihm hoch, doch bevor er sich über das Geschehene klar werden konnte, griff er hastig nach seinem Handy und wählte den Notruf. Zitternd erzählte er den Beamten von dem Geschehen, von den toten Rentnern, dem Tentakelwesen und dem „Reichtum“, den er empfangen hatte.
Es dauerte nicht lange, bis ein Streifenwagen vor dem Park erschien. Zwei Polizisten stiegen aus, starrten ungläubig auf den Haufen und dann auf Otto, der verwirrt und verstört danebenstand. Die Leichen von Karl und Helga waren verschwunden, als hätte sie sich in Luft aufgelöst. Die Polizisten hörten sich seine Geschichte an, warfen sich einen skeptischen Blick zu und nickten dann stumm.
Wenige Minuten später fand sich Otto in einem Krankenwagen wieder, auf dem Weg in die Psychiatrie.
Otto wurde in einen nüchternen, grauen Raum geführt, dessen Wände kahl und die Atmosphäre bedrückend war. Die Kälte kroch förmlich von den Wänden, und der sterile Geruch erinnerte ihn an Desinfektionsmittel und lang vergangene, unheimliche Kindheitserinnerungen. Ein Pfleger drückte ihn sanft auf eine Pritsche und schloss die Tür hinter ihm. Ein dumpfes Klacken war zu hören. Otto atmete tief durch und versuchte, die Geschehnisse zu ordnen – doch seine Gedanken kreisten chaotisch um das Alien, das kleine Raumschiff, den Haufen und … ja, den gelben Elefanten im Flur seines Plattenbaus.
War das wirklich alles passiert? „Vielleicht bin ich ja wirklich verrückt“, murmelte er und schüttelte den Kopf.
In diesem Moment öffnete sich die Tür und Otto riss den Kopf herum. Ein Schatten betrat den Raum, begleitet von einem auffallend schweren Stampfen, das den Boden leicht vibrieren ließ. Und da stand er: erneut ein gelber Elefant, etwa zwei Meter groß, in einem weißen Arztkittel. Sein riesiger, freundlicher Kopf mit den wachsamen, runden Augen blickte Otto verständnisvoll an, und seine Ohren zuckten, als wollte er lauschen.
Otto blinzelte verwirrt und fragte sich, ob er womöglich wirklich vollständig den Verstand verloren hatte.
„Guten Tag, Herr Meier“, brummte der Elefant mit einer tiefen, aber beruhigenden Stimme. „Mein Name ist Dr. Trömmelmann. Ich bin der Chefarzt dieser Einrichtung.“ Der Elefant nickte ihm freundlich zu und rollte einen kleinen Wagen, auf dem ein dickes Aktenbündel und einige medizinische Instrumente lagen, näher heran.
„Ähm … w-was? Ein … Elefant?“ stotterte Otto und rutschte ein wenig nach hinten auf seiner Pritsche. Seine Hände klammerten sich am Rand der Liege fest, und seine Augen weiteten sich vor Faszination und Angst.
Dr. Trömmelmann neigte seinen massiven Kopf und schnaubte ein wenig, als wolle er sich auf eine anstrengende Erklärung vorbereiten. „Ich verstehe Ihre Verwirrung, Herr Meier. Sie haben einiges durchgemacht und das alles muss natürlich untersucht werden. Aber wir müssen auch anerkennen, dass unsere Begegnung im Plattenbau nicht zufällig war.“
„Nicht zufällig?“ Otto konnte nicht glauben, was er hörte. „Das heißt, Sie … Sie … waren der Elefant? Der Elefant, der mir den Weg versperrt hat?“
Der Elefant nickte erneut und schaute Otto nachdenklich an. „Ich wusste, dass unsere Wege sich wieder kreuzen würden. Ich bin Teil eines Experiments, das auf der Erforschung besonderer menschlicher Wahrnehmungen basiert. Und ich habe diesen Auftrag als Elefant wahrgenommen. Ihre außergewöhnliche Fähigkeit, das Besondere in der Welt zu sehen, hat mich tief beeindruckt.“
Otto schüttelte verwirrt den Kopf. „Moment mal … Das ist doch Wahnsinn. Sie sind ein Elefant. Ein Chefarzt in der Psychiatrie?“
Dr. Trömmelmann lächelte sanft und trompetete leise. „Herr Meier, Wahnsinn ist in den Augen des Betrachters oft nur das, was nicht in die Norm passt. Sie sollten wissen, dass ich sehr gut ausgebildet bin – mit exzellenten Kenntnissen in Psychologie, und ich war übrigens auch schon mal in einem Artikel in der Fachzeitschrift Das Psychiater-Journal der Extraklasse.“
Otto rieb sich die Augen und versuchte verzweifelt, seinen Geist zu ordnen. „Aber … wie ist das möglich? Sie sind ein Elefant. Ein Elefant! Und jetzt sind Sie hier, in einem weißen Kittel, und …“ Otto schluckte schwer. „Das kann doch nur ein Traum sein!“
Der Elefant blickte ihn mit ernsten, sanften Augen an. „Die Frage ist, Herr Meier: Was halten Sie für Realität, und was für einen Traum? Oft vermischen sich beide, besonders nach extremen Erlebnissen wie dem Ihren. Wir Elefanten sehen die Dinge etwas anders, besonders wenn wir Psychiatrie praktizieren. Ich denke, das verstehen Sie nun.“
Otto starrte ungläubig auf den Elefanten. Doch Dr. Trömmelmann schob einen Zettel auf das kleine Tablett, holte einen riesigen Füllfederhalter hervor und schrieb langsam: Herr Meier zeigt intensive Wahrnehmung der Realität.
„Was machen Sie da?“ fragte Otto misstrauisch.
„Ich notiere meine Beobachtungen, Herr Meier.“ Der Elefant zwinkerte ihm zu. „Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass Sie das Besondere wahrnehmen können, wo andere nur das Alltägliche sehen. Sie haben die Aliens gesehen, den Elefanten und auch …“ Der Elefant hielt inne und sah Otto geheimnisvoll an. „… sich selbst in einem neuen Licht.“
„Und die Rentner?“ stammelte Otto. „Das Raumschiff, die … die Explosion …?“
„Das war real, Herr Meier. Manchmal werden Menschen, die die wahren Dinge sehen, Opfer von Verfolgung – und das bedeutet, dass Sie unschuldig hier sind. Ich werde dafür sorgen, dass Sie Ihre Freiheit wiedererlangen. Aber ich bitte Sie – bewahren Sie das Geheimnis.“
Otto atmete tief durch und spürte plötzlich eine ungeheure Erleichterung. Irgendwie beruhigte ihn das Gespräch mit dem Elefanten.
„Dr. Trömmelmann … Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll.“
„Gehen Sie ruhig in die Welt hinaus, Herr Meier,“ trompetete der Elefant sanft. „Und wissen Sie, dass Sie nie alleine sind. Es gibt Elefantenärzte, Aliens, sprechende Mülleimer und viel mehr, als Sie je erahnen würden. Bleiben Sie wachsam.“
Mit diesen Worten klappte der Elefant seine Akte zu und verließ das Zimmer, das beruhigende Trompeten seiner Stimme hallte noch eine Weile durch den Flur.