Der Aschenbecher
Den Aschenbecher sollte ich unbedingt mal wieder ausleeren. Irgendwie hatte sich die Überzeugung in meiner Vorstellung gefestigt, er könnte ab einer gewissen Anzahl an Zigaretten einfach anfangen zu brennen. Ist mir noch nie passiert. Nicht ansatzweise. Aber es könnte ja sein, man weiß es eben nicht genau.
Mit Autos verhält es sich da ähnlich. Meine Oma war immer der Überzeugung gewesen, sie könnten jederzeit, einfach so, während der Fahrt, explodieren. Sie musste sich ungemein bestätigt gefühlt haben, als eines schönen Sommertages ein Lieferwagen vor ihrer Haustür Feuer gefangen hatte. Er ist dabei jedoch weder gefahren, noch ist er am Ende explodiert. Aber es hätte es ja sein können, man weiß es eben nicht so genau.
Ich habe kein Auto. Nicht weil es explodieren könnte, sondern weil ich es mir nicht leisten kann.
Die Generation Y, so nennen sie uns, ist schon ein lustiges Völkchen. Die kriegen nämlich angeblich überhaupt nichts auf die Reihe, arbeiten nichts und saufen nur. Auf mich trifft das definitiv zu.
Nach vier Bier kann ich mich endlich fallen lassen und finde alles ungemein lustig. Der nächste Tag ist dann für die Katz. Man könnte ja so viel machen in seinem Leben und das alles genau heute, wenn der Kater nicht wäre, man hätte bestimmt so Vieles machen können, so Vieles! Hätte man vielleicht wirklich, aber man weiß es eben nicht so genau.
Dann gibt es ja glücklicherweise Cannabis. Das lenkt ein bisschen ab. Von dem „könnte“, „hätte“, „wäre“, „wollte“. Ist doch nicht so schlimm, kein Auto zu haben. Ei, die Stimme in mir wird jetzt ungewöhnlich freundlich und verständnisvoll. „Macht nichts, dass du hier rumhängst“, sagt sie. „Chill mal“.
Der Aschenbecher sieht mich vorwurfsvoll an - und das, obwohl er gar nicht schauen kann. Faszinierend.
Seit längerem schon denke ich über die Anschaffung eines Mülleimers nach, den ich neben meiner Couch aufstellen würde. Der Weg in die Küche ist weit. Sieben Meter können sich sehr ziehen. Das würde mir jeder Bergsteiger bestätigen, der auf den letzten Höhenmetern mit seinen restlichen Ressourcen zu kämpfen hat. Was, das soll nicht dasselbe sein? Ansichtssache. Die Neuropsychologie hat längst herausgefunden, dass das individuelle Schmerzempfinden stark variieren kann.
Ich könnte noch ein wenig schlafen. Draußen ist mieses Wetter. Ja, schlafen wäre gut. Oder doch erst noch den Aschenbecher ausleeren? Was, wenn er wirklich zu brennen anfängt? Ich hatte mehrmals darüber nachgedacht, einen zu besorgen.
Nachdem mir bewusst geworden war, dass ich meine letzte Zigarette vor ca. einer Stunde ausgedrückt haben musste, erschien es mir recht unwahrscheinlich, dass sie sich wieder entflammen würde. Aber davon bin ich an meinem sechsten Geburtstag auch ausgegangen, bevor die Kerzen auf der maulwurfförmigen braunen Torte wie durch Zauber immer wieder angegangen waren. Mir ist durchaus bewusst, dass dieses Vorkommnis auf einem anderen Hintergrund beruht - und ja, ich habe nachgelesen, warum das so ist und Google meint dazu:
„(…) Die Dochte der Kerzen sind mit Magnesium-Kristallen behandelt. Diese Kristalle bewahren ausreichend Hitze, um den Docht wieder zu entzünden, nachdem die Kerze ausgeblasen wurde (…)“
Schön und gut. Ich möchte ja nun wirklich nicht paranoid erscheinen, aber ich bin vor einiger Zeit über ein Interview mit einem ehemaligen Angestellten der Tabakindustrie gestolpert. Seine Aussagen in Bezug auf die Inhaltsstoffe der Tabakwaren haben mich sehr beunruhigt. Nicht genug, um das Rauchen aufzugeben, aber doch genug, um darüber nachzudenken, ob sich bei der Herstellung möglicherweise versehentlich Magnesium-Kristalle in meine Zigaretten geschlichen hatten.
Vorsichtshalber, um den Aschenbecher vor dem Einschlafen noch ein paar Minuten im Auge zu behalten, beschloss ich, meine Mails zu checken.
Eine Nachricht der „Weltverbesserungsagentur“ in meinem Postfach. Sehr schön. Vor einem Jahr hatte mich ein Typ eines sehr bekannten Vereins – ich werde den Namen aus Schleichwerbungsgründen nicht nennen – vor der Uni angesprochen und wollte mich unbedingt als zahlendes Mitglied gewinnen. Natürlich habe ich nichts unterschrieben und bin weitergegangen. Aber den Gedanken, etwas Gutes für die Menschheit zu tun, wurde ich den ganzen Tag nicht mehr los. So habe ich mich dann im Internet über den besagten Verein informiert und mich online angemeldet. Vielleicht in der Hoffnung, eine Nachricht, wie folgt, zu erhalten:
Sehr geehrte Frau Emma Hauser,
wir laden Sie herzlichst dazu ein, mit uns bezahlt nach Hawaii zu fliegen, um dort – natürlich mit Unterkunft und Verpflegung – etwas Gutes für die Menschheit zu tun.
Mit freundlichen Grüßen,
Ihr Weltverbesserungsteam
Nachdem ich das Ganze schon fast vergessen hatte, landete vor einer Woche Folgendes in meinem Posteingang:
Liebe Emma Hauser,
Dein Mitgliedsbeitrag für nächstes Jahr wird diesen Monat fällig!
Danke für Deine Unterstützung!
Mit freundlichen Grüßen,
Deine Katrin vom Weltverbesserungsteam
Das mit Hawaii erschien mir nun immer unwahrscheinlicher und so habe ich der netten Katrin eine formschöne Kündigung gesendet. Auch die hatte ich nun schon wieder völlig vergessen und klickte gespannt auf ihre frisch eingetroffene Antwort:
Liebe Emma!
Danke für Deine Rückmeldung!
Du bist abgemeldet.
Danke für Deine bisherige Unterstützung für die Menschheit.
LG
Deine Katrin vom Weltverbesserungsteam
Ja bitte, kein Problem. Schön, dass ich helfen konnte. Schade zwar um Hawaii, aber wenigstens konnte ich mich jetzt beruhigt auf die Seite drehen. Ob es nun an dem Mitgliedsbeitrag lag, den ich mir gespart hatte, oder mit meiner bisherigen Unterstützung für die Menschheit zusammenhing - ich fühlte mich ganz plötzlich angenehm entspannt. Bevor ich mich jedoch endgültig schlafen legte, nahm ich das halbvolle Wasserglas, das vor mir auf dem Couchtisch stand, und leerte den kompletten Inhalt über den Aschenbecher. Jetzt war zwar alles nass – mein Handy eingeschlossen, aber brennen konnte nun wirklich gar nichts mehr.