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Der Arzt (4) - Angriff auf Dahenn
Der Arzt – Angriff auf Dahenn
Dahenn! Perle der Wüste, Oase an den Gestaden immer währender Wogen aus Sand, vom Wind geküsste ... und von den Karawanen verfluchte. Waren Sie schon mal in Dahenn? Oder in der Nähe? Sagen Sie, kennen wir uns nicht? Hatten Sie mich nicht schon einmal nach der Stadt der Lin gefragt und habe ich Ihnen nicht die Geschichte von Razzun, dem Menschen, erzählt, der bei den Lin Zuflucht suchte und sie auch gefunden hat? Egal, ich denke es ist ein guter Abend für eine weitere Geschichte!
Sind Sie mit der Historie von Thrakien – oder Pyr od Thrak, wie die Elfen es nennen – vertraut? Jaja, das hatte ich mir schon so gedacht ... Naja, vor vielen, sehr vielen Jahrhunderten regierten die Elfen fast den gesamten Kontinent und hatten so ziemlich alles Andere, was auf zwei Beinen herumlief, versklavt. Bis die Elfennation auseinanderbrach und sich diese ach so erhabenen Wesen in Bürgerkriege verstrickten. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie wieder vereint wurden und selbst diese Union scheint für den Außenstehenden doch sehr fragwürdig. Aber egal, der Elfische Bund hält seit etlichen hundert Jahren, wir brauchen uns also keine Gedanken darüber zu machen, ob er in den nächsten Tagen zerfällt oder nicht, und unter dem Strich ist dies für die Geschichte auch ziemlich unerheblich, da schon etliche Jahre ins Land gezogen sind. Zu dieser Zeit wohnte und praktizierte der eben schon erwähnte Razzun bereits in Dahenn und erfreute sich unter den Lin wachsender Beliebtheit. ‚Praktizierte’ und ‚wachsende Beliebtheit’ fußte dabei im Wesentlichen darauf, dass Razzun nicht nur ein bloßer Heiler oder Heilkundiger, sondern ein Arzt mit beachtlichen Kenntnissen war.
Nun, als die Elfen auf und unterhalb des Schelfs sich wieder zu einer Art Nation zusammenschlossen, fürchteten die Menschen und alle anderen Völker sich. So wurde schnell ein dauerhafter Friede ausgehandelt, bekannt als der ‚Vertrag von Tummelot’, den Sie ja sicher kennen.
Irgendwann erhielten die Lin Dahenn und das umliegende Land als eigenen Staat, da die Umgebung als wertlos betrachtet wurde. Zu dem Zeitpunkt war unter den anderen verhandelnden Parteien nicht bekannt, dass sich unterhalb Dahenns Kavernen, Katakomben und weit verzweigte Gänge befanden. An den Klippen zum Meer hin reichten diese Gänge bis auf das Niveau des Ozeans hinab, wo sich ein versteckter und lange vergessener Hafen befand. Obendrein befindet sich Dahenn nach wie vor an einer der Haupt-Handelsrouten durch die pyrhassische Wüste. Somit wurden die Lin zu einer nicht zu unterschätzenden Größe!
Wenn man nun weiß, dass die Lin die Stadt und ihr Land nicht wirklich als einen Staat regieren, sondern in Banden um die Vorherrschaft kämpfen und sich vorzugsweise um sich selbst kümmern oder wie sie andere Mitwesinnen und –wesen ausbeuten können, möchte man meinen, man könnte sich dieser relativ kleinen Nation mittels Militär bemächtigen. Da liegt man allerdings grundlegend falsch: Bewiesen hat dies der Angriff eines seldischen Heeres unter der Führung von General Rysa Edaboom, der durch diese Aktion außerdem den tiefen Unmut der Pyrhassar auf sich zog, da er zum Angriff auf Dahenn eben diese Nation der Wüstenelfen durchqueren musste. Selbstverständlich hat er sie vorher nicht gefragt, denn sie hätten ihn weder angehört noch geantwortet, da für die Pyrhassar nach wie vor alles, was nicht zumindest wenigstens wie ein Elf aussieht, nicht als Lebensform gilt. Es sei denn, es kann geringe Arbeiten verrichten ... Auf ihre Sklaven lassen diese Elfen nichts kommen!
Die Krieger und ihr Tross waren nahezu am Ende ihrer Kräfte. Der General genoss derweil sein Privileg des morgendlichen Bades und saß inmitten des Wüstencamps in einer Wanne, um möglichst viel des anderenorts benötigten Wassers zu verbrauchen. Sein Kastenbewusstsein veranlasste ihn allerdings zu denken, dass auch das Badewasser eines Generals durchaus geeignet zur Versorgung der Truppe sei. In seinem durch aberwitzige, jedoch uralte, religiöse Privilegien bestärkten Glauben an sich selbst und „das Gute an der Sache“ sah er selbst dieses Badewasser als besondere Gabe an, da so den niederen Kräften in seiner Armee das tiefere Verständnis und der Glaube an „die Sache“ vermittelt und einzelne Soldaten und Bedienstete durch Zuteilung eben dieses besonderen Wassers sich geehrt zu fühlen hatten.
Da die Selden über ein strikt hierarchisches System verfügten, wurde die Ehre – aus für uns völlig verständlichen Gründen – allerdings je nach Dienstgrad und um so großzügiger immer weiter nach unten verteilt …
General Rysa Edaboom hüllte sich gerade in sein morgendliches Trockentuch, als einer seiner Adjutanten ihn wissen ließ, dass ein sehr aufgebrachter Elf ihn sprechen wolle. Der General ließ sich nicht irritieren oder beeindrucken, betrachtete zwischendurch gespielt gelangweilt das trotz der langen Reise bemerkenswert saubere und weiche Handtuch und fuhr damit fort, sich abzutrocknen. Erst nach einer guten Minute geruhte er, den anwesenden Soldaten zur Kenntnis zu nehmen, zog den linken Mundwinkel leicht herab und betrachtete den Überbringer der Nachricht voller Missbilligung.
„Und wie kommt er dazu“, näselte der General, „mich bei meiner morgendlichen Toilette zu stören? Wegen eines Elfen …“
„Dies, Euer Gnaden“, der Kommandant hielt den Kopf nach wie vor gebeugt, um sich ein Lachen zu verkneifen, da – unter anderem – das Tuch den General nur spärlich bedeckte, „liegt daran, dass es sich um einen kommandierenden Soldaten der Pyrhassar-Grenztruppen handelt, der von unserer Anwesenheit nicht sonderlich angetan ist. Ich halte es für angemessen, ihn zu empfangen.“
„Wie viele Soldaten führt er mit sich?“ Der General stand nach wie vor aufrecht und erreichte gerade den Nabel, den er sorgsam und versonnen trocknete und der sich inmitten eines durchaus beachtlichen Bauches befand.
„Mein General, ihr wisst natürlich, dass die elfischen Grenztruppen zur Elite gehören ... Leénar Tarassal führt vierundzwanzig gut ausgerüstete Soldaten und ganz offensichtlich zwei Magier mit sich. Ihr solltet ihn anhören …“
„Sagt mir nicht, was ich zu tun habe, Kommandant!“, wies der General den jetzt knienden Kommandanten zurecht und bedachte ihn mit einem kurzen, aber nachdrücklichen Blick. „Weist dem Elfen einen Platz im Besprechungszelt zu und versorgt seine Soldaten wie die unsrigen … Nein! Besser! Wir wollen doch keinen schlechten Eindruck hinterlassen, nicht wahr?!“ Der General entstieg umständlich – er hielt es für göttlich - der Wanne, und warf nachdenklich einen Blick auf das leicht getrübte Wasser. „Was ist noch, Kommandant? Wenn Ihr in der Schlacht ebenso langsam seid, werdet Ihr schneller den Tod als Euer Schwert finden!“
Mit einem unterdrückten Seufzer erhob sich der Soldat und ging zu den wartenden Elfen zurück.
Nun … Man könnte sagen, das macht keinen guten Eindruck. Aber der Schein kann ja bekanntlich trügen. Wieso, bei allen Welten, haben sich die Selden überhaupt in diese Situation begeben? Immerhin leben, wohnen, arbeiten und … Sie wissen, was ich meine. Sie sind normalerweise bei allem was sie so tun weit weg von hier. Von jenseits der Berge mussten mit ihrer Armee zwei Länder durchqueren. Und fünfhundert Soldaten stellen für die Pyrhassar kein sonderliches Problem dar. Aber wie sieht es mit Dahenn und den Lin aus? Die Lin, die ständig in internem Streit verstrickt sind, die nicht wirklich eine zentrale Regierung oder eine Stadtwache, geschweige denn eine Armee haben? Meint dieser affektierte General wirklich, er könne Dahenn einnehmen? Oder hat er einen ganz anderen Auftrag?
Eine gute halbe Stunde später erschien General Rysa Edaboom in einer schneeweißen Galauniform in einem großen Zelt, welches für Besprechungen mit seinen Kommandeuren diente. Der Boden war mit geknüpften Teppichen ausgelegt, an der nördlichen Zeltwand befanden sich Ständer mit detailreichen Karten der Umgebung sowie dem Zielgebiet. Davor stand ein hochgewachsener und vom Wüstenklima tiefgebräunter Elf, der – so man zum Volk der Pyrhassar-Elfen gehörte – durch Gebaren und Kleidung seine Stellung in der elfischen Gesellschaft und im Militär ebenso deutlich zur Schau trug. Für den Außenstehenden trug der Elf weite Gewänder aus einem beige schimmernden Tuch, lederne Stiefel und lediglich ein kurzes Schwert an seiner Seite.
Als der General eintrat verneigte er sich der gut zwei Kopf größere Elf mit knapper Geste, wobei er niemals den direkten Kontakt seiner hellblau leuchtenden Augen zu denen des Seldenführers abreißen ließ.
„Ich bitte Euch …“, meinte der General jovial und schritt mit dem Gehabe des siegreichen Feldherren durch das Zelt. „Behaltet doch Platz.“
Der Elf blieb leicht angesäuert stehen. „General! Ihr befindet Euch mit einer kleinen Armee inmitten unseres Landes. Klärt mich auf, wenn ich falsch liege, aber ihr gehört nicht zum Elfischen Bund!“ Schon alleine, dass Leénar Tarassal die gemeinsame Sprache benutzte, war bemerkenswert, der säuerliche und drohende Unterton jedoch deutlich erkennbar.
Der General setzte sich hinter einen aufgestellten massiven Schreibtisch und rückte in aller Ruhe diverse Gegenstände zurecht, dann sah er den Elfen nachdrücklich und mit ebenso festem Blick an. „Seid versichert, Wächter Tarassal, dass wir keineswegs die Absicht haben, uns mit den Pyrhassar anzulegen, sondern es auf ein anderes Ziel abgesehen haben. Anderenfalls“, der General lächelte siegessicher und verschmitzt, „hätten wir mehr Kräfte aufgeboten.“
Wir erleben gerade eines der seltenen und historischen Ereignisse, welches von den elfischen Geschichtsschreibern im Nachhinein so gerne totgeschwiegen wird: Einem der ihren klappte die Kinnlade nach unten!
„Habt Ihr den Verstand verloren?!“, brüllte der elfische Wächter und seine Schwerthand glitt zu seiner Klinge.
General Rysa Edaboom wedelte mit dem erhobenen Zeigefinger der rechten Hand. „Nana ... bleiben wir doch sachlich. Meine Truppe stellt keine wesentliche Bedrohung für die pyrhassische Nation dar. Ich bin sogar ziemlich sicher, dass selbst Eure Grenztruppe mir schon alleine wegen der Magier erhebliche Schwierigkeiten bereiten würde. Gerade deshalb wäre es wirklich höchst erfreulich, wenn Ihr so tun würdet, als hättet Ihr uns nicht gesehen ... Wir haben ein ganz anderes Ziel im Auge und es wäre wirklich bedauerlich, wenn wir uns hier und jetzt in die Quere kommen würden.“
„Ist der Shand über eure Operation informiert?“, maulte der elfische Offizier und verlangte damit zu wissen, ob der König der Pyrhassar etwas von der seldischen Aktion wusste.
Glaubt dieser Elf an eierlegende Emelus? Meine Güte ...
„Nun …“, antwortete Edaboom und seine Stirn legte sich in Falten. „Man kann sagen, ja und nein … Und wenn man es genau betrachtet, dürfte es ihm ziemlich egal sein.“ Diese nicht wirklich erschöpfende Auskunft verleitete Leénar Tarassal zu der Annahme, dass dieser Mensch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit den Verstand verloren hatte. Dennoch fuhr der General ungerührt fort. „Um ganz offen zu sprechen, befinden wir uns auf dem Weg nach Dahenn ... Aus gutem Grunde, wie wir meinen, und wir riskieren viel. Den Unmut der Nationen, durch die wir ziehen, indem wir diese nicht zuvor informierten. Da aber Dahenn so isoliert liegt, dass wir es nicht anders erreichen können, bestand lediglich die Möglichkeit, entweder vorher um Erlaubnis zu fragen oder aber einfach mit einer angemessenen Streitmacht ins Feld zu ziehen, die ausreicht, um den Auftrag durchzuführen, jedoch sonst keine Bedrohung für die Nationen darstellt, durch die wir reisen. Sagt selbst, Wächter Tarassal, wenn wir uns zuvor die Erlaubnis des Shand eingeholt hätten, wäre dies sicher auf die ein oder andere Art keine Überraschung für die Lin geworden ... Und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hätte der Shand diese Genehmigung auch nicht erteilt, da sie gegen die geltenden Vereinbarungen verstößt. Nun, da wir aber schon so weit in dieses Land vorgedrungen sind, ohne dass man uns bislang bemerkte, wäre es wohl besser, uns auch weiterziehen zu lassen – sagen wir, als Karawane -, um unnötige Fragen des Shand zu vermeiden, wie wir, bitte sehr, so weit vordringen konnten, ohne bislang bemerkt zu werden ...“
General Rysa Edaboom warf dem Elfen einen freundlichen, aber bestimmten Blick zu.
„Dahenn?“ Leénar Tarassal war nun vollends überzeugt, dass diese kleine, feiste und affektierte Gestalt den möglicherweise noch vor einer Woche vorhandenen Rest Hirn durch die sengende Sonne in der schattenlosen Wüste verloren hatte. Der Elf nickte ihm mit dem freundlich wissenden Grinsen zu, das man einem Idioten schenkt, der just erklärt hat, dass er gerade über eine Brücke von einem der Monde Rakirrs hierher gelangt war.
„Ihr seid auf dem Weg nach Dahenn?“
Der General hielt es nicht für nötig, dies zu kommentieren, und blickte gelangweilt durch den Elfen hindurch. Selden waren den Pyrhassar-Elfen nicht unähnlich. Wenngleich sie nicht rassistisch waren, so hatten sie jedoch ein einmaliges Talent, durch alles Nicht-Seldische hindurchzusehen, selbst wenn es ihnen den Weg versperrte.
„Ich wünsche euch eine angenehme Reise“, feixte der Elf und erhob sich mit einer angedeuteten Verbeugung. Zwei Dinge waren ihm klar: Erstens würden die Lin keine Söldnertruppe anheuern und zweitens war dies keine Söldnertruppe, sondern eine reguläre Armeeeinheit mit irgendeinem verrückten Auftrag und einem noch viel verrückteren General. Insgeheim fügte Leénar Tarassal beim Gehen noch hinzu, dass er diesen Haufen so oder so nicht mehr wiedersehen würde. Ohne weiteren Gruß oder irgendein Wort verließ er das Zelt und bedeutete seiner Truppe, dass es an der Zeit sei, aufzubrechen.
General Edaboom blickte der aufbrechenden Grenztruppe nach, die langsam gen Westen weiter zog. Würden die Elfen den Lin von der anrückenden Streitmacht berichten?
Der kleinwüchsige General zog die Schultern hoch und ging unbekümmert in sein Zelt zurück. Schon bald würden sie Dahenn erreichen und dann würden verschiedene Lin, aber auch einige andere Herrschaften ihr blaues Wunder erleben! Rysa Edaboom lachte und konnte sich nur schwer beruhigen. Die Wachen in der Nähe des Zeltes verzogen auch ob des irren Gelächters ihres Generals keine Mine. Rysa Edaboom war eine lebende Legende und seine Männer folgten ihm blind …
Bûn alleine mag wissen, was Rysa Edaboom vorhat. Aber wir können sicher sein, dass er mit dieser Truppe Dahenn weder einnehmen wird, noch halten kann. Egal, werfen wir doch einen kurzen Blick auf die Selden und ihr Land … Naja, ich gehe halt davon aus, dass Sie dort noch nicht waren.
Seldiri, wie das Land genannt wird, hat seit Jahrzehnten keinen Herrscher mehr und wird von einer Art Kronrat verwaltet, dem altersschwache Greise angehören. Die wahre Macht im Lande geht vom Militär und den verschiedenen Generälen aus. Einer von ihnen ist Rysa Edaboom, den sie ‚Einzig Wahrer‘ nennen, da er in der Tat noch nie einen seiner Feldzüge verloren hat. Allerdings ging es dabei um Kriege und Scharmützel mit den Nachbarstaaten, Überfälle und so genannte Versorgungsaktionen.
Hm? Was eine Versorgungsaktion ist? Nun, da mehr als die Hälfte der Selden ständig unter Waffen steht und das Land auch nicht sonderlich groß, die wirtschaftliche Infrastruktur mehr oder weniger nicht vorhanden ist, benötigt Seldiri Geld und Waren. Sie verstehen? Gut.
Vor über zwei Monaten informierte Edaboom den Kronrat darüber, dass er dem Land nicht nur eine Menge Geld, sondern auch Waren in Hülle und Fülle sowie einen neuen Regenten bescheren würde – sich selbst nämlich –, damit endlich wieder ein ordentliches Land aus Seldiri würde. Als er damit herausrückte, mit fünfhundert Soldaten über die Berge und gegen Dahenn zu ziehen, nickten einige der weiseren Greise bedächtig, da sie wussten oder sich zumindest vorstellen konnten, dass die Pyrhassar-Elfen Hackfleisch aus ihm und seiner Truppe machen würden. Der Rest der Greise nickte ebenfalls freundlich, weil sie keine Ahnung hatten, wo Dahenn liegt, und wie man über die Berge kommen sollte. Da sie sich aber keine Blöße vor ihren scheinbar wissenden Kollegen geben wollten, nickten sie eben mit. Als Edaboom mit dem Segen des Rates (Es steht außer Frage, dass er nicht auch ohne ihn gegangen wäre …) entschwand, und einige nicht vorhandene Stäubchen von seiner Galauniform wischte, begann eine lautstarke und heiße Diskussion im seldischen Kronrat: Es ging darum, ob man die Preise für Emelus auf ein Höchstmaß beschränken sollte oder lieber doch nicht. – Zehn Tage später brach Edaboom mit seiner Truppe auf, während der Preis für Emelus noch immer nicht geregelt war.
In der Zwischenzeit war eine Delegation der Taer Aelegh, des Elfischen Bundes, eingetroffen, die den amtierenden Gesandten in Blundar, der seldischen Hauptstadt, ablösen sollte. Es waren ungewöhnlich viele Elfen und der bisherige Botschafter reiste auch nicht gleich ab, obschon er es gerne getan hätte. Seltsam war nur, dass sich die Elfen ständig in der Gesandtschaft aufhielten und sonst nicht zu sehen waren. General Ewander Lunaboom rieb sich mehr als einmal das Kinn und setzte seine Spione auf die Elfen an. Die fanden nach einigen Tagen heraus, dass einige wenige von ihnen in der Gegend von Bigoladh herumliefen und die Leute nach diesem und jenem befragten und sich die örtlichen Archive und Bibliotheken unter dem Vorwand, auf der Suche nach historischen Fakten zu sein, vornahmen. Lunaboom grunzte zufrieden, da er die Wissbegierde der Elfen nur zu gut kannte. Und sie waren großzügig genug dabei, Geldmittel in beachtlicher Höhe fließen zu lassen, um an Informationen zu kommen. Einzig die Tatsache wurmte ihn, dass sie ausschließlich auf Edabooms Gebiet herumschnüffelten und dabei nichts für ihn abfiel.
Wenige Tage später rückten die Elfen wieder in Richtung Osten ab und überquerten die borebische Grenze. Und der alte elfische Gesandte, der noch immer auf seinem Stuhl hockte, sowie auch General Lunaboom verwandelten sich in wandelnde Fragezeichen. Nur der Kronrat behielt die Übersicht und lud den elfischen Gesandten vor, beglückwünschte ihn zu seinem neuen Amt und bekundete die tiefe Zufriedenheit in den Beziehungen mit dem abgelösten Gesandten. Aus offensichtlichen Gründen verstand der Elf nicht so ganz was damit gemeint war, da er nicht abgelöst worden war …
General Lunaboom entsandte Spione, die allerdings nicht zurückkehrten, da ihnen möglicherweise die Spione von General Bondawer, die Elfen oder die Boreben in die Quere gekommen waren. Möglicherweise aber auch alles irgendwie gleichzeitig ... Und während die Tage verstrichen und der seldische Rat und die Generäle sich auf die nächsten Feldzüge vorbereiteten, war Rysa Edaboom bereits inmitten der Berge und heckte einen Plan aus, wie er Pyrhassar möglichst unerkannt durchqueren könnte. Dabei dachte er zunächst daran, wirklich eine Karawane zu begleiten oder gar zu übernehmen, verwarf den Plan jedoch, da es Tage oder Monate dauern mochte, bis wieder eine solche auf dem Weg in die Tiefebene war. Und so zog das kleine seldische Heer abseits bekannter Wege und Pfade durch die pyrhassische Wüste, ohne dabei den elfischen Wächtern aufzufallen. Den Rest bis zur Entdeckung durch Wächter Tarassal kennen wir ja schon ...
Dahenn! Perle der Wüste, Licht in der Düsternis, von Selden beobachtete ... Edabooms Späher eilten heran und verkündeten, dass das Ende der Reise nunmehr in Sichtweite sei.
„Nur noch zwei Tage“, murmelte Rysa Edaboom und stierte in die Richtung der Stadt der Lin. „Nur noch zwei Tage!“
***
Naftalin eilte durch Dahenns Straßen und Gassen und niemand hielt ihn auf oder rief ihm irgendwelche Unflätigkeiten hinterher. Naftalin war ein Enigma unter den Lin! Er durfte sich überall aufhalten und wurde nie von einer der vielen Banden belästigt. Das Rätsel lüftete sich allerdings meist, wenn man unter den Lin in den Status aufstieg, der einem eine gewisse Autorität verlieh. Naftalin war eine Art Spion, der die Wüste wie niemand anderer kannte und auch unterhalb des Schelfs, in der Salzstadt und am Steig bekannt war und den niemand wahrnahm, wenn er es nicht wollte. So wusste Naftalin meist, wer sich wann und wie und wo Dahenn näherte oder in der Nähe vorbeizog, welche Waren und wie viele Wachen vorhanden waren. Und wenn Naftalin sprach, war dies wie die weise Vorhersage eines Orakels, dessen Wahrheiten unumstößlich einzutreffen schienen.
Naftalin hatte die Gelassenheit eines Priesters, die Würde eines Führers und das verschmitzte, grinsende Wissen eines Evals im Gesicht, wann immer man ihn sah. Jedenfalls, wenn man ihn überhaupt zu Gesicht bekam ...
Aber heute war es anders: Keine Spur von Gelassenheit. Mit hochrotem Kopf eilte er durch die Straßen und die Lin malten sich in ihren Träumen aus, welch fette Beute da wohl auf Dahenn zukommen würde.
Naftalin stürmte die Treppen der alten Bürgermeisterei hinauf und rief lautstark Qwerlins Namen. Erst vor dem Diwan des alten Lin kam er schnaufend zum Stehen, betrachtete den Alten, der wohl noch seinen Rausch ausschlief, und warf sich keuchend auf einige umherliegende Kissen.
„Qwerlin!“, brüllte Naftalin und der Alte fuhr zusammen. „Wach auf du Saufnase!“
Mit blutunterlaufenem Auge richtete sich Qwerlin mühsam auf und betrachtete seinen am Boden hockendes Gegenüber mit der freudigen Erregung, die ein Eval an den Tag legt, wenn er eine unbewachte Herde findet.
„Bist du von Sinnen?!“, legte der Alte los, reduzierte aber die Lautstärke sofort wieder, da ihn ein nachhaltiger Schmerz im Kopf auf die noch nicht ganz verdauten Mengen an Alkohol aufmerksam machte.
„Was ist?“, grunzte er und hielt sich den Schädel.
„Wir bekommen ein Problem“, erwiderte Naftalin und legte sich gemütlicher hin.
„Wieder mal Razzuns Häscher?“, maulte Qwerlin fragend und rieb sich das Auge. Dann rückte er die Augenklappe zurecht und gähnte.
„Ach was“, lachte Naftalin. „Die haben keine Ahnung, wie sie an ihn rankommen sollen.“ Qwerlin musterte ihn und schüttelte langsam den Kopf.
„Was heißt das?“
„Naja, da sind diese zwei Kopfgeldjäger, die hinter ihm her sind. Sie haben zwei oder drei Tage draußen in der Wüste gesessen und auf eine Karawane gewartet. Wahrscheinlich hatten sie Angst, alleine herzukommen.“
„Warum hast du sie nicht einen Kopf kürzer gemacht?“, meckerte Qwerlin und funkelte den Spion böse an.
„Wer hätte mir die Auslagen erstattet?“ Naftalin schien ehrlich entrüstet. „Die haben nichts Wertvolles dabei.“
„Hm“, schnaubte der Alte und sah sein Gegenüber wartend an. Am anderen Ende der Halle übergab sich lautstark jemand. „Sind die Daykin an ihnen dran?“
Naftalin nickte knapp.
„Gut. Was noch?“ Qwerlin war leicht ungehalten, dass er dem Informanten wirklich alles aus dem Munde ziehen musste.
„Eine Armee nähert sich Dahenn.“ Die Augen des Lin verengten sich, während er die Information preisgab und Qwerlin genau beobachtete. „Sie werden wohl so in zwei, drei Tagen hier sein.“
„Ach? Was haben die Langohren denn jetzt wieder vor?“, gackerte der alte Lin und legte sich wieder bequemer hin. Inzwischen waren auch andere Lin erwacht und stierten mit glasigem Blick umher. Firfin war ebenfalls von irgendwoher und über die Alkoholleichen steigend zu seinem Onkel getreten.
„Keine Langohren dabei“, antwortete Naftalin und erntete einen amüsierten Blick.
„Salzstadt?“
Wieder schüttelte Naftalin den Kopf. Viel mehr Möglichkeiten gab es eigentlich auch schon nicht mehr und Qwerlin war sich nicht sicher, ob der Spion vielleicht einen Stich durch die sengende Sonne bekommen hatte.
„Bei allen Welten!“, brüllte Qwerlin ungehalten los und es war ihm egal, welchen Kopfschmerz er sich und den umhersitzenden Lin verursachte. „Wenn du nicht sofort mit allen Informationen herausrückst, werde ich dich in deine dämliche Wüste einbuddeln und verrecken lassen, deine Knochen aufsammeln und zur Warnung an allen Ecken der Stadt den Kötern vorwerfen lassen!“
„Selden“, meinte Naftalin darauf völlig gelassen.
„Häh!??“ Weitere Blicke richteten sich auf den Informanten und auch Qwerlin hatte sich aufgerichtet.
„Selden“, wiederholte Naftalin ebenso ruhig. „Ein seldisches Heer nähert sich der Stadt.“
Ein Raunen ging durch die inzwischen wachen Lin und es begannen leise Gespräche in denen Unglaube und Verwunderung zum Ausdruck gebracht wurden.
„Selden? O Naftalin, ich denke, du hast den Verstand verloren!“ Qwerlin bemerkte allerdings keine Spur von Verwirrung oder geistiger Krankheit an dem Informanten. „Die Langohren würden doch kein Heer durch ihr geliebtes Land ziehen lassen.“
„Tja“, Naftalin zog die Schultern in Unwissenheit hoch, „das habe ich eigentlich auch immer gedacht, aber sie wurden erst vorgestern von Tarassal aufgespürt.“
„Und der hat sie ziehen lassen?“ Qwerlin schien verwirrt.
„Ja!“
„Naftalin!!“, drohte Qwerlin.
„Er hat sich mit dem Anführer, einem General Edaboom oder so, unterhalten und ist dann lachend wieder abgerauscht. Qwerlin, ich mach mir Sorgen ... Dieses seldische Heer ist mal gerade um die fünfhundert Mann stark und dieser General hat sie beinahe unbemerkt durch die Wüste geführt. Und zwar über Wege, die ich bisher auch noch nicht kannte. Fünfhundert Mann und keine Staubwolke. Nie haben sie gejagt oder Wasser suchen müssen ... Und fünfhundert Mann nebst Tieren verbrauchen eine Menge Wasser!“
Qwerlin nickte und grübelte.
„Und dann ist da noch was“, ergänzte Naftalin. „Der General badet zweimal täglich!“
„Aus deiner Sicht ist das vielleicht ungewöhnlich“, feixte Qwerlin, „da du ja nur zwei Mal in deinem Leben gebadet hast ...“ Naftalin hob zu einem Protest an, wurde aber mit einer Geste des Alten zum Schweigen gebracht. „Ich weiß, was du meinst, Naftalin, ich weiß ... Sonst noch was, das ich wissen sollte?“
„Sie versuchen nicht mehr, sich zu verbergen, sondern halten direkt auf die Stadt zu, seitdem sie Tarassal begegnet sind.“
„Gut, das reicht mir!“ Qwerlin war jetzt hellwach und beinahe nüchtern. „Firfin, du benachrichtigst die Daykin, falls sie es nicht sowieso schon wissen. Rulin, du läutest die Glocke!“
Die Order kam überraschend und einige Lin starrten ihren Anführer mit offenem Mund an. Rulin erhob sich schwerfällig, hatte den Befehl erst so halb verdaut, machte sich aber mit einem zustimmenden Murren auf den beschwerlichen Weg in die Kuppel der Bürgermeisterei.
„Läute die Glocke!“ kam etwa ebenso oft vor wie beispielsweise „Nimm mein Geld und wirf es auf die Straße!“ und Sie werden sehen, was sich gleich in Dahenn abspielt! Lin können nämlich durchaus zusammenarbeiten ... Naja, wenn es unbedingt sein muss.
Erst leise, doch dann nachdrücklicher erklang der dumpfe Ton einer gewaltigen Glocke. Rulin schwang alleine den an einer seltsamen Mechanik aufgehängten hölzernen Klöppel, der von außen an eine gewaltige Glocke ohne Verzierungen stieß und ihr ein düsteres und dumpfes Tönen entlockte. In der Stadt blieben beinahe alle Bewohner erstaunt stehen und stierten in Richtung des Stadtzentrums, Fenster und Türen gingen auf, Lin traten auf die Straßen und überall war ein leises Raunen zu vernehmen und es schwang die Frage mit, was dies wohl zu bedeuten habe.
***
Ein Daykin eilte unvermittelt in Razzuns Behandlungszimmer und der Arzt warf ihm einen seltsamen Blick zu.
„Siehst du nicht, dass ich gerade jemanden behandle? Wie wäre es mit Anklopfen?“
„Wir müssen gehen. Schließe die Praxis“, war jedoch die einzige Reaktion des Lin in der schwarzen Kleidung. Er drehte sich auf dem Absatz herum und verließ das Haus.
„Was zum ...?“ Razzun starrte auf die Tür, wandte sich aber dann wieder seinem Patienten zu. Der uralte Lin, der an verschiedenen Gebrechen litt, lächelte den Arzt mit beinahe zahnlosem Mund freundlich an.
„Die Glocke, weißt du?“, nuschelte der Alte. „Es ist die Glocke.“
Das Tönen war auch bis in die Praxis zu hören, aber Razzun verstand den Sinn nicht. Er gab ein kurzes „Aha“ von sich und widmete sich wieder seiner Untersuchung, bis er aus dem Wartezimmer und auf dem Gang Rufe und Geräusche hörte. Seufzend machte er sich auf den Weg, nachdem er sich bei seinem Patienten entschuldigt hatte, kam aber nicht mehr bis zur Türe, die unvermittelt aufflog. In der Tür stand ein Daykin, der die Leute mit nachdrücklicher Stimme anwies, die Praxis sofort zu verlassen und an einem anderen Tag wiederzukommen. Es breite sich zwar keine Begeisterung aus, aber einem Daykin widersprach man nicht und so machten sich die elf noch wartenden Lin wieder auf den Heimweg. Auch der Alte im Behandlungsraum ging mit leicht schleppendem Gang an Razzun vorbei und auf die Türe zu.
„Ich komme später wieder“, nuschelte er, verneigte sich tief vor der Daykin. „Pass auf dich auf, Kleine!“, flüsterte er im Vorbeigehen und lächelte. Shiniia legte kurz eine Hand auf seine Schulter und riss sich die Kapuze herunter.
„Wir haben keine Zeit für lange Erklärungen, Razzun“, sagte sie mit Nachdruck. „Ich erkläre es dir auf dem Weg!“
„Shiniia, was soll das?“ Er sprach sie direkt an, da der alte Lin sie offensichtlich sowieso kannte. Sein schleppender Gang hatte ihn noch nicht so weit gebracht, dass er außer Hörweite war.
„Los!“, kommandierte sie. „Wir gehen! Deine Sachen werden wir holen, wenn wir sie brauchen!“ Sie streckte eine behandschuhte Hand nach ihm aus, und er ergriff sie schnell, obwohl er den Grund nicht verstand. Die Tür des Hauses wurde von innen verriegelt, dann nahmen sie den Weg durch die Hintertür, verschlossen diese ebenfalls und gingen schnellen Schrittes durch den Park.
„Die Kapuze?“, fragte Razzun und Shiniia ließ ihn einen Augenblick los, um sich die schwarze Haube wieder überzustreifen.
„Danke“, sagte sie, ohne sich umzudrehen. „Razzun, wir haben nicht sonderlich viel Zeit, also hör einfach zu und frag später. Die Glocke ruft die Anführer aller Banden in den Rat zusammen ...“
„Ihr habt eine Ratsversammlung hier? Ich dachte ...“
„Razzun! Bitte ...“
„Schon gut.“ Sie liefen durch die Grünanlage, der man erste Arbeiten ansah, da Razzun eine Kräutergarten und einige Stellen anlegen wollte, wo sich seine Patienten erholen konnten, und verließen sie durch ein baufälliges Haus auf der gegenüberliegenden Seite. Auf der Straße herrschte helle Aufregung und ein Durcheinander. Shiniia rief etwas in der Sprache der Lin, worauf die herumstehenden Bewohner auseinanderpreschten, als würde Feuerodem die Straße freibrennen.
„Die Glocke ruft nicht nur die Anführer und damit den Rat zusammen, sondern sie hebt auch bis zum Ende des Alarms alle Grenzen auf und die Daykin werden ebenfalls zur Verteidigung gerufen. Das wäre normalerweise kein Problem, aber es ist eine Karawane in der Stadt und wir haben herausgefunden, dass sich zwei Begleiter dieser Karawane sehr für dich zu interessieren scheinen. Die beiden haben sich erst in der offenen Wüste zur Karawane gesellt, also kennt sie niemand genauer. Es geht das Gerücht, dass sie draußen in der Wüste campiert haben, um sich einer Karawane anzuschließen. Nicht so ungewöhnlich, aber ungewöhnlich genug, dass Sirrfin meinte, es sei besser, dich an einen sicheren Ort zu bringen. Er bat mich, dich zu holen, wenn die Zeit es erlaubt ... Und jetzt mach schnell!“
„Ich gehe davon aus“, japste Razzun bei dem vorgelegten Laufschritt, „dass du ziemlich eigenmächtig entschieden hast, wann die Zeit es erlaubt, hm?“
Shiniia lachte laut. „Niemand sollte eine Daykin so gut kennen ... Aber du hast recht, das wird wieder mal Ärger geben. Egal!“
Shiniia und Razzun liefen vorbei an schwatzenden und neugierig schauenden Lin. Der Markt löste sich bereits zügig auf und die Händler brachten ihre feilgebotenen Waren wieder in Sicherheit. Razzun wunderte sich, wie friedlich und koordiniert dies alles ablief. Mit dem Schritt der Elfe konnte er nur schwerlich mithalten und Blicke folgten ihnen. Hatte es Probleme gegeben, dass der Arzt irgendwo benötigt wurde?
Eine Menge anderer Daykin waren zu sehen, die sich untereinander und auch mit Shiniia kurz durch Handzeichen verständigten. Mit einem Nicken an Razzun setzte sich ein anderer Daykin neben Shiniia und fuhr sie in der Sprache der Lin an. Razzun erkannte an den seidig glänzenden, schwarzen Stickereien auf dem rechten Ärmel der ebenso schwarzen Kleidung, dass es sich um Sirrfin handelte. Shiniia antwortete knapp und der Anführer bog an einer Seitengasse ab, winkte andern Daykîn, ihm zu folgen.
„War er sauer?“ Razzun keuchte, hielt jedoch Schritt.
„Wer?“
„Sirrfin.“
Shiniia hielt an und wirbelte herum. Der stechende Blick ruhte in seinen Augen, doch dann drehte sie sich wieder und lief weiter Richtung Stadtzentrum. „Du sollst unsere Namen nicht in der Öffentlichkeit nennen!“
Eine japsende Entschuldigung folgte, während sie in diesem Augenblick den zentralen Platz vor der alten Bürgermeisterei erreichten. Die Versammlung an Lin war beachtlich und aus den Straßen und Alleen, die hierher führten, strömten weitere auf den Platz. Shiniia bahnte sich mit Rufen und durch Drängeln einen Weg. Razzun folgte in ihrem Kielwasser. Trotzdem dauerte es gut zwanzig Minuten, bis sie endlich die Stufen erreichten, die zur großen Halle führten. Auf der breiten Treppe standen bewaffnete Lin in leichtem Rüstzeug, eine völlig neue Erscheinung für den Arzt. Niemand aus der Menge machte Anstalten, hier vordringen oder Auskunft erhalten zu wollen. Nur kleine Grüppchen kamen, und einzelne Lin – wohl die Anführer der verschiedenen Banden und Clans – wurden eingelassen.
Auch fragte niemand oder hielt die Daykin und den Arzt auf. Es schien selbstverständlich genug, dass der von Qwerlin protegierte Mensch sich ebenfalls hier aufhielt.
Soso ... Bemerkenswert, dass nicht nur unser Spion bereits über die Kopfgeldjäger Pregrin und Allur Bescheid weiß. Das dürfte deren Arbeit ja nicht gerade vereinfachen und sie dazu veranlassen, länger in Dahenn zu bleiben, als sie es eigentlich geplant hatten. Zwar denke ich, dass die Furcht, dem Arzt könnte etwas zustoßen, nur weil die Glocke die Grenzen zwischen den Lin-Bezirken aufhebt, ein wenig überzogen ist, aber Vorsicht ist ja bekanntlich die Mutter der Naht ...
Eine wild schwadronierende Menge hatte sich in dem Saal versammelt, den Razzun bislang nur als Gelage- und Festsaal kennengelernt hatte. Einige der umherstehenden Lin grüßten den Arzt mit freundlichem Gesicht, andere musterten ihn nur. Wenige starrten ihn mit offener Feindschaft an. Razzun bekam die Einzelheiten nicht mit, denn auch durch die Anführer der Linbanden und der großen Clans bahnte sich die Daykin ihren Weg mit nicht minder deftigen Worten und Gesten, bis sie vor Qwerlin zu stehen kam. Der sah erst die schwarz gekleidete Gestalt an, dann glitt sein Blick an ihr vorbei und ruhte auf Razzun. Bevor er etwas sagen konnte, kam Shiniia ihm zuvor.
„Er ist hier sicherer“, sagte sie mit Nachdruck. „Es sind zwei Gestalten bei der Karawane, die sich nach ihm erkundigt haben.“
„Ja.“ Qwerlins linker Mundwinkel zuckte leicht nach oben, dann setzte er aber wieder eine versteinerte Miene auf. „Bevor du gehst, rede mit Naftalin. Er weiß über die beiden Bescheid.“ Mit einer knappen Verbeugung wandte sich die Elfe in Richtung des noch immer auf einem Diwan liegenden Lin und setzte sich auf die Kante der Liegestatt. Sofort begann ein leises Gespräch.
„Nimm Platz, Razzun“, sagte Qwerlin leise und wies auf seinen Diwan.
„Ich hoffe“, meinte Razzun ehrlich und noch immer ein wenig außer Atem, „die Aufregung ist nicht meinetwegen.“
„Und wenn schon“, meinte der alte Lin mit einem Lächeln auf den Lippen. „Aber ich kann dich beruhigen. Es sei denn du warst jemals im Land der Selden und dort hat auch noch jemand eine Rechnung mit dir offen.“ Sofort sprang das Wort ‚Selden‘ auf die Menge über und ein Raunen durchfuhr den Saal, bis sich vom schlichten Selden das Gerücht von einem Krieg mit den Selden, die mit zehntausend Mann anrückten, in die hinterste Reihe fortgesetzt hatte.
Razzun schüttelte lediglich den Kopf. „Dort war ich nie.“
Er ließ sich hinter Qwerlin auf dem Diwan nieder, während eine Lin langsam die fünf Stufen zu dem Podest hochstieg, auf dem Qwerlin stand. Mit säuerlicher Miene und einer knappen Geste begrüßte Qwerlin sie. Dann drehte sie sich zu Razzun um und warf ihm ein umwerfendes Lächeln zu und erkannte sie – trotz der schlichten, aber zweckmäßigen Kleidung – als Kjerlin.
„Ich sehe“, säuselte sie, an Qwerlin gerichtet, „dass du deinen Arzt bereits gerufen hast.“
„Meine Liebe“, antwortete der alte Lin mit ätzendem Unterton, „er ist nicht mein Arzt und ich habe ihn nur rufen lassen, falls ich wegen deiner Anwesenheit plötzlich Herzbeschwerden bekommen sollte ...“
„Immer der galante Gastgeber ...“
„Sicher, meine Gute!“, antwortete Qwerlin mit einem Lächeln auf den Lippen und sah sie dabei direkt an. „Darf es vielleicht ein Gläschen Gift sein?“
Sie konnte sich ein Lachen gerade noch verkneifen und selbst Qwerlin schien für einen kleinen Augenblick abgelenkt.
Firfin setzte sich neben Razzun, der ihn fragend ansah.
„Frag mich nicht“, sagte der junge Lin aber nur. „Das letzte Mal, als die Glocke geläutet wurde, war lange bevor ich geboren wurde. Das war wohl der Angriff der Elfen auf Dahenn oder so, nachdem es zu dem Vertrag kam, dass die Stadt und das Land uns gehören.“
„Der Vertrag von Tummelot?“ Razzun war erstaunt. Firfin nickte nur.
Qwerlin hob beide Hände und langsam kehrte Ruhe in die Halle ein. Die Luft knisterte vor Spannung und der alte Lin räusperte sich gehaltvoll.
„Uns erreichte die Nachricht“, Qwerlin ersparte sich jede Form der Anrede, wie es bei solchen Versammlungen üblich war, um niemanden zu brüskieren, „dass ein Heer der Selden sich zwei Tage vor den Grenzen unserer Stadt befindet und offensichtlich mit der Absicht trägt, hier einzufallen.“ Ein Raunen ging durch die Menge und einige der Lin ließen sich erst einmal erklären, was Selden denn überhaupt sind und woher sie kommen.
„Wie viele sind es?“, rief eine Stimme aus der Menge.
„Naftalin sagt, dass es etwa fünfhundert sind“, gab Qwerlin an. Nun wurde das Raunen lauter und ungläubige Stimmen mischten sich ein. Selbst Kjerlin warf dem Alten einen raschen Seitenblick zu. Sie brachte auf den Punkt, was unten in der Menge gärte.
„Und deshalb rufst du uns hier zusammen, Qwerlin?“ Kjerlin wirkte überrascht, doch ihre Frage bündelte kritiklos, was sich auch der versammelten Menge als höchst seltsam darstellte. Auch wenn sie den alten, zänkischen Lin nicht leiden konnte, wusste sie doch nur zu genau, dass er niemals grundlos solch ein Aufhebens machen würde.
„Genau!“
„Sicher ist es wegen des Arztes!“, brüllte jemand aus der Menge. Qwerlin versteifte sich und lief rot an. Kjerlin winkte jedoch nur ab und gab Qwerlin durch eine kurze Berührung am Arm zu verstehen, er möge sich beherrschen.
„Der Arzt hat mit den Selden nichts zu schaffen!“ Qwerlins Stimme überschlug sich einmal, auch wenn er eigentlich ruhig bleiben wollte.
„Fünfhundert sind doch keine Bedrohung!“, konstatierte jemand aus der vordersten Reihe und erhielt Zustimmung und Beifall.
„Genau“, stellte Qwerlin sachlich fest. „Eigentlich sind fünfhundert Menschen sicher keine Bedrohung ...“ Gelächter kam auf und einige wandten sich mit abwertenden Gesten zum Gehen.
„Halt!“, rief Kjerlin plötzlich und der Klang ihrer Stimme ließ einem das Blut in den Adern gefrieren. „Die Versammlung wurde noch nicht beendet. Wer sie verlässt, dem verspreche ich, dass er in seinen eigenen vier Wänden eingemauert wird, bis die Scheblen ihn fressen! Der Grund, warum Qwerlin, und nicht einer von euch, der Protektor von Dahenn ist, ist dass er sein Hirn zum Denken benutzt! Der Nächste, der ihn unterbricht, kann sich auf einige unerfreuliche Dinge einstellen ...“
Razzun bemerkte, dass die Menge nun schweigsamer wurde und er warf Firfin einen kurzen Blick zu. Der junge Lin verzog kurz das Gesicht und lächelte den Arzt an. „Sie beherrscht Magie ...“, kommentierte er nur.
„Oh!“ Razzun war sichtlich überrascht. „Es heißt allgemein, dass Lin dies nicht können ...“
„Tja ...“, Firfin beobachtete Kjerlin genau. „So kann man sich irren.“
Eine schwarz gekleidete Gestalt baute sich neben Firfin auf. Er musterte einen Augenblick die Stickereien auf dem Ärmel, seufzte dann und stand auf. Die Daykin setzte sich neben Razzun, sagte aber keinen Ton. Dann drehte sie ruckartig ihren Kopf und stierte in die Augen des jungen Lin.
„Was?“, zischte sie böse. Firfin drehte sich nur um und verschwand in der Menge. „Langsam wird die kleine Pest lästig!“, maulte Shiniia, ohne ihren Blick auf Razzun zu richten.
„Er hat mein Leben gerettet“, gab der Arzt zu bedenken.
„Schön“, sagte sie, „aber damit erwirbt er keinen Anspruch auf dich.“ Kjerlin drehte sich um und warf einen flüchtigen Blick auf Daykin und Arzt. Sofort kehrte Schweigen ein und Razzun bemerkte, wie Shiniia sich unter dem Blick versteifte und auf dem Sprung war.
In der Zwischenzeit fuhr Qwerlin mit seiner Ansprache fort. „Natürlich ist ein Heer von fünfhundert Mann keine wirkliche Bedrohung, aber es sind einige seltsame Umstände, die mich veranlasst haben, vorsichtig zu sein. Da wäre zunächst einmal die Frage, warum sich eine solche Armee von jenseits der Berge auf den Weg macht, nach Dahenn zu ziehen? Gut, ich habe auch keine Antwort auf diese Frage. Und wenn man schon solch ein Aufhebens macht und diese Reise in Angriff nimmt, dann sollte man doch eine gewisse Vorbereitung erwarten ... Aber sie führen kaum Nahrungsmittel und Wasser mit sich, nehmen keine solchen auf, jagen nicht ... Und sie leben immer noch. Sie sind mit dieser in der offenen Wüste doch eigentlich gut sichtbaren Truppe fast unbemerkt bis an unsere Tore gelangt. Erst vor zwei Tagen hat eine Wächtergruppe der Langohren sie gestellt und eine der größten Nervensägen unter ihnen, Trenessal, ist unverrichteter Dinge wieder abgezogen!“
Blicke wurden getauscht und wieder und wieder gab es kurze Gespräche hier und dort, während Qwerlin fortfuhr.
„Wir haben keinen Streit mit den Selden, dafür sind sie viel zu selten in diesen Regionen. Der Shand würde nicht einmal mit ihnen reden, da es Menschen sind, also haben sie auch keine Erlaubnis, Pyrhassar zu durchstreifen. Sie geben sich keine Mühe, sich zu verbergen, sondern streben jetzt gezielt auf Dahenn zu ...“
Kjerlin ächzte und sah Qwerlin mit weit aufgerissenen Augen an. „Du meinst ...“
Der alte Lin nickte nur. „Die Bedrohung ist ernst. Dies hat nichts mit der Zahl der Angreifer zu tun! Mit eurer Zustimmung übernehme ich die Verteidigung Dahenns. Wer dies nicht wünscht, spricht jetzt!“
Ein Schweigen überzog die Menge und nur der leichte Wind war in den Fugen und kleinen Fenstern und im Lüftungssystem zu hören. Jeder der Anwesenden spielte in Gedanken durch, was geschehen konnte und wie angemessen auf die Situation zu reagieren sei. Ersten ‚Qwerlin‘-Rufen folgten weitere und schon bald dröhnte die Halle wieder vom Namen des alten Lin, dessen Machtbereich sich über mehr als ein Viertel der gesamten Stadt erstreckte. Mit leuchtendem Auge und rotem Kopf verneigte er sich kurz und bedankte sich dann mit knappen Worten, die im Johlen der Menge untergingen. Dann wurde es wieder leiser, da der Protektor wiederum beide Hände erhoben hatte.
„Ich danke euch für euer Vertrauen“, sagte er, sichtlich gerührt, dass es keine Gegenstimme gab. „Trotzdem sollten wir nicht zu zuversichtlich sein. Ich sage das nicht, um euch Angst zu machen, sondern bedenkt einfach die Fakten. Niemand kann mit nur fünfhundert Mann Dahenn angreifen und ernsthaft davon ausgehen, zu überleben, geschweige denn einen Sieg davontragen. Niemand kann Vorräte und Wasser für fünfhundert Mann für eine Reise von beinahe zwei Wochen durch offene Wüste mit sich führen ... Kein Mensch kann erwarten, dass ein Pyrhassar ihm etwas verkauft oder ihn nur ansieht! Dies alles kann nur zu einem Ergebnis führen: Magie!“
Nun hatte Qwerlin für Aufruhr in der Menge gesorgt. Lin waren von Geburt an normalerweise nicht in der Lage, Magie zu wirken. Auch wenn es in der Geschichte hin und wieder Ausnahmen gab – und Kjerlin war eine solche –, so hatten die Lin Magie doch fürchten gelernt. Magie war weder verboten noch verpönt, aber die Lin hatten lieber drei Augenpaare mehr auf jemanden, der diese wirkte, als blindes Vertrauen zu schenken.
Kjerlin hob nun beide Hände und es kehrte ebenfalls Ruhe ein.
„Ich möchte euch keine Angst machen“, sagte sie mit aufmunternder, aber nachdrücklicher Stimme, „allerdings stimme ich Qwerlin zu, auch wenn wir uns meist nicht besonders gut verstehen. Die Selden sind ein armes Volk und sie haben keine Regierung, sondern das Militär regiert das Land nach seinem Gutdünken. Sie können sich nicht selbst versorgen, also stehlen und plündern sie ohne Rücksicht auf Verluste. Sie überfallen ihre Nachbarn und sind siegreich ... Bei den Pyrhassar hätten sie keine Chance, die Salzstadt steht ebenfalls nicht zur Debatte, da die dunklen Langohren dort stationiert sind. Aber Dahenn muss auf sie wirken wie eine ungeschützte Perle! Wir müssen uns wappnen, denn sie werden Mittel einsetzen, die wir nicht kennen. Wer sich mit nur fünfhundert Mann hierher traut und ankommt, dem sollte man nicht leichtfertig begegnen! Vertraut den Worten und der Führung eines erfahrenen Kriegers: Qwerlin!“ Sie zeigte auf den alten Lin, der seine Verwunderung nur mühsam unterdrücken konnte.
Er und Kjerlin waren alte Feinde im Streit um Einflussbereiche in Dahenn. Aber dabei waren sie – so sehr sie sich auch nicht leiden konnten – immer fair geblieben, sofern es Fairness unter Lin betraf.
Mit weiteren lautstarken Zurufen wurde Qwerlin unterstützt und aufgerufen, für die Sicherheit der Stadt zu sorgen. Bis zur Erledigung des Problems wurde ihm die Befehlsgewalt über jeden, der eine Waffe schwingen konnte und alle Ressourcen der Stadt übertragen.
Razzun war mehr als beeindruckt, hatte er doch die Lin immer als eigenbrötlerische und in kleine Banden und Clans verstrickte Sippschaft gesehen. Nun aber offenbarten sie eine Zusammenarbeit, die weit über das hinausging, was andere sogenannte Nationen im Krisenfall zusammenhielt. Kein Disput, keine Kungelei, keine Angehörigkeit zu einer Sippe oder einer Gang würde in den kommenden Stunden oder Tagen einen Unterschied machen. Razzun war fasziniert von der Gesellschaft der Lin!
„Jamlin! Ogurin!“, rief Kjerlin in die Menge und zwei reich gekleidete Lin kamen langsam herauf. „Wir müssen reden.“
Qwerlin entließ die Versammlung mit der Bitte, Kinder und Alte über die fernen Stiegen zu den geheimen Häfen in Sicherheit zu bringen. Es dauerte eine weitere halbe Stunde, bis sich die Halle schließlich geleert hatte und Qwerlin neben Gratulationen auch die notwenigen Verabschiedungen getätigt hatte und genervt zu der kleinen Gruppe an seinem Diwan zurück kehrte.
„Wir alle haben einen gemeinsamen Auftrag“, sagte Kjerlin bestimmt. „Qwerlin, wir brauchen einen Raum, der nicht ausspioniert werden kann. Und alle hier, einschließlich des Arztes und der Daykin, möchte ich bitten, mit uns zu kommen. Die Lage ist ernst!“
„Bild dir bloß nichts drauf ein“, griente Kjerlin den älteren Lin an, nachdem sie sich in eine Art Besprechungsraum zurückgezogen hatten. Qwerlin winkte ab und sie warteten auf das Eintreffen von Razzun, Firfin, einiger anderer Lin und einiger Daykin.
Kjerlin wandte sich an die schwarz gekleideten und vermummten Gestalten: „Wir haben keine Zeit zu verlieren. Drei von euch werden im Abstand von je einer Stunde und auf unterschiedlichen Wegen nach Aetewa, Sand Vihûd und in die Salzstadt reisen ...“
Qwerlin warf ihr einen neugierigen Blick zu und auch Razzun fragte sich, warum die Lin die Daykin in die Hauptstadt des elfischen Bundes, des phyrassischen Reiches und die Gemeinsame Stadt schickte.
„Möglicherweise ist es schon zu spät, aber wenn ich Recht haben sollte, können die Langohren wenigstens mit den Selden aufräumen ... In Aetewa geht ihr ohne Umschweife zu Eljan Ylander und erklärt das Problem. Er soll auf der Stelle seine Leute losschicken! Ich werde euch ein Schreiben zur Beglaubigung mitgeben.“
„Kjerlin?“ Qwerlin trommelte nervös mit den Fingern der linken Hand auf der Lehne seines Sessels.
„Hm?“
„Würdest du die Güte haben, mir zu erklären, was der Dyreket hier soll?“ Bei der Nennung des elfischen Geheimdienstes zuckten unwillkürlich einige der Lin zusammen und die Daykin warfen sich verstohlene Blicke zu. Razzun saß kerzengerade und starrte Kjerlin an.
„Ha!“, sagte sie und lächelte ihr einnehmendes Lächeln. „Ich dachte mir schon, dass deine Vorsicht einen anderen Grund gehabt haben mochte. Ich vermute, du denkst, dass die Selden gewöhnliche Magie benutzen oder insgeheim auf einem anderen Wege mehr Soldaten nach Dahenn schicken?“
„Was sonst?“ Qwerlin zog irritiert die Schultern in die Höhe und blickte in die Runde. „Das heißt, Moment mal ...!“
„Genau“, nickte Kjerlin. „Da ist kein Magier bei den Selden, anderenfalls hätte Naftalin was gesagt. Keine weiteren Soldaten. Fünfhundert gegen Dahenn, den Elfen fällt erst in letzter Sekunde auf, dass sie überhaupt im Lande sind. Kein Wasser, keine Nahrungsmittel ... Nun, ich würde sagen, dass sie im Besitz irgendeines mächtigen magischen Artefakts sind, das sie verbirgt, versorgt und möglicherweise noch ganz andere Sachen kann!“
„Kjerlin!“, brüllte der Protektor laut und sprang auf. „Niemand wagt es, diese Dinger einzusetzen, falls überhaupt noch welche davon existieren. Und selbst wenn, hätte er alle zivilisierten Nationen am Hals!“
„Vom Dyreket ganz zu schweigen“, legte einer der Daykin nach. „Es heißt, dass die nicht zimperlich sind, wenn es darum geht, die Artefakte einzusammeln.“
„Die Verwendung ist verboten!“, rief jemand anderer dazwischen und erntete missbilligende und mitleidvolle Blicke.
„Aha!“, meinte Kjerlin gelassen und mit ironischem Unterton. „Wenn niemand mehr da ist, sich zu beschweren, ist es egal, ob es verboten ist ...“
Oha! Ich denke, die Lin bekommen ein Problem. Wenn Kjerlins Annahme richtig ist, sollten wir uns schleunigst aus dem Staub machen ... Wenn die Magiern falsch liegt, wäre es trotzdem besser, nicht in der Nähe zu sein.
Was es mit den Artefakten auf sich hat? Du meine Güte, mit ihrer Allgemeinbildung ist es auch nicht sonderlich weit her, aber na gut … Also, die Gelehrten der Elfen haben herausgefunden, dass die Entwicklung der Völker Rakirrs schon einmal wesentlich weiter war und auch gerade auf magischem und technischen Sektor weit über das hinausreichte, was wir heute kennen. Vor gut zehntausend Jahren schufen die Elfen mächtige magische Artefakte, naja, eigentlich eher eine Art Geistwesen, denen sie Aufträge erteilen konnten und die diese selbständig ausführten und dabei eben auch neu auftauchende Probleme analysierten und in die kommenden Aktionen mit einbanden. Da die Elfen damals beinahe die gesamte bekannte Welt beherrschten und alle Völker unterdrückten und versklavten, diese sich jedoch wehrten, gab es Krieg und Unruhen bei den Elfen, die zu Bürgerkriegen um Macht und Einfluss führten. Und da bauten sie mittels der Kenntnis über die Artefakte furchtbare Waffen!
Ich möchte nicht darüber sprechen, was genau sie da bauten, viel wissen wir heute sowieso nicht mehr darüber. Jedenfalls machten sich diese Waffen und andere Artefakte mehr oder weniger selbständig und verheerten alles, was ihnen in den Sinn und Weg kam. Dabei wurde beinahe die gesamte Bevölkerung ausgerottet und alles in Schutt und Asche gelegt. Erst im letzten Augenblick gelang es mächtigen Magiern, diese Artefakte ihrer Energien zu berauben ... Doch der Verlust war groß: Alle Völker fielen in die Barbarei zurück und für lange Zeit konnte sich niemand der alten Kenntnisse entsinnen. Bis vor gut dreitausend Jahren die Elfen und andere Völker auf verschüttete Bibliotheken und andere Informationen stießen und auch erste Artefakte wieder auftauchten. Einmal noch wurden sie im großen Wüstenkrieg von den Lin eingesetzt, die aber darüber selbst so entsetzt waren, dass man sich hinterher traf und diese Artefakte ächtete.
Da sie alle von den Elfen konstruiert worden waren, richtete die damals regierende Hochkönigin Duluth Ahlander den Dyreket – also den elfischen Geheimdienst – ein, dessen Aufgabe es war, diese Artefakte einzusammeln und nach Möglichkeit zu vernichten!
Gut, inzwischen erledigt der Dyreket auch andere Aufgaben, aber sie sind immer noch dabei, die verschiedenen Artefakte aufzuspüren und nach Aetewa zu bringen, wo die Magier damit beschäftigt sind, zunächst einmal herauszufinden, was es mit dem jeweiligen Artefakt auf sich hat, und wie es möglichst ohne Probleme vernichtet werden kann. All die Artefakte, die nicht vernichtet werden können, da es entweder unmöglich ist oder wir noch nicht über die entsprechenden Kenntnisse verfügen, ruhen irgendwo unter Aufsicht der magischen Gilde ... Nicht sonderlich beruhigend, aber immer noch besser, als diese Dinger in den Händen bankrotter Kleinstaaten und irrer Generäle zu wissen!
Während die Lin sich beraten, wollen wir doch noch einmal schnell den Selden entgegenlaufen und sehen, was sich dort so alles abspielt. Hoffen wir, dass der Unsichtbarkeitszauber hält!
Der Schatten huschte über die Zeltplane und ein eisiger Hauch begleitete ihn, kälter als die frostigen Nächte in der tiefen Wüste. Die nahe am Zelt Edabooms stehenden Wachen schauderte es kurz, aber sie waren an die Anwesenheit der Kreatur gewöhnt, die ihre tentakelgleichen Ausläufer mal nach hier und dann wieder dorthin streckte, sich zusammenzog und unter der Plane ins Zelt verschwand. Alle wussten, dass dieser seltsame Geist auf irgendeine Art und Weise mit dem Clan der Edabooms im Bunde stand und sie auf die unnatürlichste Art und Weise irgendwie mit Nahrungsmitteln und Wasser versorgte und vor den Augen der Elfen verborgen hielt. Seldische Soldaten waren daran gewöhnt, auch wenn es sie erschaudern ließ, mit welch seltsamen Kreaturen ihre Feldherren zusammenarbeiteten.
Wenige Augenblicke später erhob sich der Schatten inmitten des Zeltes, gleich vor einem der Ständer mit Umgebungskarten, langsam vom Boden und begann, die Gestalt eines hochgewachsenen Mannes anzunehmen. Mehr und mehr schien er sich zu verfestigen, auch wenn die Konturen auf eine kaum beschreibbare Art und Weise unscharf blieben und mit dem dunklen Hintergrund der Zeltplane eine seltsame, sich in Schlieren verlaufende, Einheit bildeten. Nur vor der hellen Karte und im Schein der Öllampe war die dunkle Gestalt nun deutlich zu erkennen. Dunkelblaue, tiefgründige Augen, in denen sich die Sterne wiederzuspiegeln schienen, blickten die Karte lange an, während sich General Rysa Edaboom langsam von seinem Lager erhob. Der Selde schritt heran und knöpfte dabei sein Wams zu. Neben dem Schatten blieb er stehen und blickte ebenfalls auf die Karte, auf der die nahe Umgebung und die Umrisse von Dahenn zu sehen waren. Edaboom ließ sich nicht den Hauch von Unsicherheit gegenüber der mächtigen Kreatur anmerken.
„Nun ...“, räusperte sich der General. „Wir haben unser Ziel bereits vor Augen und ich hoffe, dass wir Dahenn spätestens morgen Abend erreichen.“
Eine Art geisterhafter Hand streckte sich nach der Karte, und Schwärze hüllte den Teil ein, der Dahenn darstellte. Die Kreatur gab ein Zischeln von sich, das alles Mögliche von einem Lachen bis hin zu einer Unmutsbekundung hätte bedeuten können. „Ich weißßß ... Ryssssa ...“, wisperte der Schatten. „Ich weißßß ...“
Das dunkle, kantige Gesicht wandte sich dem des Generals zu und sein Blick fing den des Selden ein, sog ihn immer tiefer hinein in die Dunkelheit, in Universen weit jenseits des Begriffsvermögens Sterblicher, und entließ ihn dann wieder. „Ich weißßß ... Ryssssa ...“, flüsterte die Stimme wieder und ein Hauch eisiger Kälte erfüllte das Innere des Zeltes und ließ selbst die Ölflammen erschaudern. „Und ich werde dir ewig dafür dankbar ssssein ...“
Rysa Edaboom nickte lediglich kurz und versuchte, sich zu entspannen. Der direkte Kontakt mit dem Geistwesen, das er unter dem Namen A’Loana kannte, war alles andere als angenehm. Die gespensterhaft durchscheinende Hand auf seiner Schulter sorgte auch nicht gerade für Wohlbehagen. Aber der seldische General wusste, dass er es niemals bis nach Dahenn geschafft hätte, wenn A’Loana nicht seine schützende Hand – oder was auch immer – über die Expedition gehalten hätte. Er kannte das Geistwesen gut, denn es hatte bereits seit ungezählten menschlichen Generationen im Dienste der Edabooms gestanden, war maßgeblich für deren Wohlstand und Stärke verantwortlich.
Gut, Edaboom wusste nicht, was der Schatten vorhatte, aber vertraute darauf, dass die Kreatur die Selden, wie schon seit Jahrhunderten, unterstützen würde. Zumindest die Edabooms und deren Getreue. Dafür würde er, der große Feldherr, schon sorgen!
‚Dakor!’ Der Blick des Schattens ruhte wieder auf der Karte und seine ureigensten Gedanken blieben selbst dem vertrauten General verborgen. ‚Nach all den Zyklen ... Endlich!’
Ohne einen weiteren Kommentar sank die Kreatur in sich zusammen und zerfloss auf dem dichten Teppich in den Ornamenten. „Greif an, Ryssssa!“, tönte es aus allen Richtungen. „Essss gibt keinen Grund zzzzu warten. Greif an!“
Ohhh ... ich hoffe dieses Gespenst hat uns nicht bemerkt! Wirklich erschreckend, auf was sich dieser Edaboom da eingelassen hat und ich denke nicht, dass seine Soldaten wirklich Bescheid wissen. Wenn Sie es genau wissen wollen, ich werde jetzt nach Osten weiterziehen, denn der Boden wird mir hier langsam, aber sicher zu kalt. Viel Glück noch. Und falls wir uns mal wiedersehen sollten, haben Sie sicher eine viel bessere Geschichte zu erzählen als ich.
Fünfhundert Selden strebten auf ihren Reittieren den äußeren Bezirken von Dahenn entgegen. Allen voran General Rysa Edaboom in vollem Galopp, seinen gekrümmten Säbel in der Hand. Man konnte dem General viel nachsagen, aber feige war er noch nie.
Sie passierten Zelte, Unterstände, die Slums von Dahenn. Nichts geschah, kein Angriff der Lin, kein Hinterhalt. Alles war verlassen und wirkte wie eine Geisterstadt, auch wenn hier und dort noch Rauch aufstieg. Rysa Edaboom hatte ein ungutes Gefühl bei der Sache und zum ersten Male in seinem Leben empfand er – wenn auch ganz im Hintergrund – Furcht. Wenn jemand es nicht für notwendig erachtete, eine solch große Stadt durch Mauern oder Wehranlagen zu sichern, dann musste dies einen Grund haben! Doch bevor er noch eine weitere Überlegung anstellen konnte, hatten sie die Schwelle zur Stadt überschritten.
***
Dahenn, Perle der Wüste ... Obwohl, es war nicht immer Wüste hier. Ein leichtes Beben erschütterte den Grund. Sand, Staub und abbröckelnde Gesteinsbrocken rieselten hinab, als der seldische General und seine Truppe die Stadt von Südosten her stürmten. Ein Schauder überkam alle Bewohner der Stadt, selbst bis in die Tiefen der Katakomben, so als hätte ein unangenehmer Gedanke sie plötzlich und unerwartet erreicht. Und für einen kleinen Augenblick verfinsterte sich die glühende Sonne, Schatten hingen über Dahenn, füllten alle Gassen und Nischen und selbst die tiefsten Höhlengänge bis hin zu den geheimen Häfen.
Rysa Edaboom war für einen kleinen Augenblick verwirrt. Eine schwere Last war von ihm abgefallen und seine Gedanken durchströmte eine ihm unbekannte Klarheit. Er eilte mit seiner Truppe durch die Straßen und Alleen Dahenns und erreichte einen großen verlassenen Platz. Mit einer Geste und durch gleichzeitigen Zuruf an seine Befehlshaber ließ er halten. Er blickte sich rasch um und erkannte die Reste eines Marktes, der eilig geräumt worden war. Die Lin wussten also, dass er mit seinen Selden hier einfallen wollte.
Wie aber konnten sie es wissen? Hatte A’Loana sie nicht verbergen können? Was konnte er mit nur fünfhundert Männern inmitten einer solchen Metropole ausrichten?
Und dann kam ihm ein beängstigender und verwirrender Gedanke: Was, um alles in der Welt, machte er eigentlich hier?!
***
In einem geheimen Raum der Bürgermeisterei hatten sich die Vertrauten und Führer versammelt, um weiter zu beraten und abzuwarten, was geschehen würde. Und während Kjerlin den Interessierten noch erklärte, was es mit den uralten Artefakten und dem Dyreket auf sich hatte, wurde es langsam merklich kühler in dem Raum. Die Flammen des Kaminfeuers und die der Öllampen flackerten und vom Boden her erhob sich fließend eine diffuse Gestalt, ein Schatten, der behäbig aber sicher die Form eines Lebewesens annahm.
Fast alle traten einen Schritt zurück, die anwesenden Daykîn zogen ihre Waffen und stellten sich schützend vor die Versammlung, während Kjerlin mit einigen raschen Gesten und ein wenig Gemurmel ganz offensichtlich Magie vorbereitete.
Qwerlin erhob sich aus seinem Stuhl und ging ohne Furcht auf die sich noch immer formende Gestalt zu, schob Shiniia beiseite und trat, einen dreiseitigen, langen Dolch in der Hand, näher an die Kreatur heran.
Ein heftiges Wirbeln formte den Schatten zu einer humanoid wirkenden Gestalt, die einen Lin um gut zwei Köpfe überragte. Während die Konturen des Wesens zur Umgebung immer noch ineinander verflossen, wirkten die tiefblauen Augen realistischer, abgründiger selbst als die Untiefen um die legendären Glühenden Augen Rakirrs. Sie hob langsam beide Arme mit offenen Händen und wirkte alles andere als bedrohlich.
„Habt keine Furcht, Kinder Dakorsss!“, sprach sie mit sanfter Stimme, die den gesamten Raum und jeden Geist erfüllte. Eine seltsame Ruhe und angenehme Kühle ging von ihr aus. „Ich bin zzzurück ...“ Sie wirkte alles andere als bedrohlich.
***
Rysa Edaboom drehte sein Reittier einmal um die eigene Achse, um sich ein Bild von der Umgebung zu machen. Er stand mit seiner Truppe auf einem weiten und offenen Marktplatz, und damit mehr oder weniger auf dem Präsentierteller. Für den Bruchteil einer Sekunde wusste er nicht so recht, was er hier verloren hatte oder wo er sich befand, aber dann kehrte die Erinnerung jäh zurück. Der General schluckte schwer, als er aus allen Gassen und dem Platz zugewandten Häusern bewaffnete Lin auf sich zustreben sah. Edaboom war kein Idiot und er war auch sicher nicht verrückt: Diese Situation war schlichtweg aussichtslos. Gut, sie konnten ein Gemetzel anrichten und es mochte sein, dass der eine oder andere entkam, aber sie befanden sich immer noch inmitten der Wüste. Aus einem ihm nicht offensichtlichen Grund schützten und unterstützten ihn die Kräfte A’Loanas nicht mehr. Und das war mehr als nur ein bisschen beunruhigend, denn die Edabooms hatten in all den letzten Jahrhunderten auf den Rat und die Macht der Schattengestalt bauen können. Was war geschehen? Der General drehte nochmals eine Pirouette, wirbelte den leicht gekrümmten Säbel dann in der Luft und gab das Zeichen zum Angriff in Richtung der Lin, die sich direkt unterhalb der Stufen zur alten Bürgermeisterei befanden. So nahm der Angriff auf Dahenn seinen Lauf und auf Kommando der führenden Lin stürmten auch die Bewohner Dahenns los, sich und ihre Stadt zu verteidigen.
***
Die Daykîn hoben ihre Waffen, zielten auf die schattenhafte Gestalt und Kjerlin wob weiter ihre schützende Magie, als plötzlich die Tür zu dem geheimen Raum krachend aufflog und drei hochgewachsene Elfen, zwei davon in die Gewänder hoher Magier gehüllt, in den Raum stürmten. Rasch wirbelten ihre Hände, fuhren in komplexen Gesten durch die Luft, und mit schockierender Gewalt entließen sie magische Fesseln von ungeheurer Macht in Richtung der Kreatur, während der dritte Elf zwei kurze Schwerter zog. Die Klingen glühten grellrot, eine dunkel glimmende Aura umhüllte den Kämpfer, der sich ohne Zögern auf die Schattengestalt stürzte.
Razzun, Firfin und einige andere gingen hinter Möbeln in Deckung, konnten sich aber ausmalen, dass dies beim Wirken dieser mächtigen Magie als Schutz nicht ausreichen würde. Ihre Hoffnung bestand lediglich darin, in einem geeigneten Moment, dem Chaos in diesem Raum entkommen zu können.
Nur Qwerlin stand zwischen den Fronten und schien nach wie vor wenig beunruhigt, ja den Umständen und dieser Welt entrückt, als der Schatten seine Stimme erhob, während gleichzeitig die Magie der Elfen und auch Kjerlins entfesselt wurde. Grelles Licht machte jede Sicht unmöglich, blendete die Unvorsichtigen und eine unbändige Kraft zwang alle Anwesenden in die Knie. Bindende Magie verpuffte, bevor sie die Kreatur erreichte, das Lodern auf den Klingen des Elfen erstarb und eine unerwartete Ruhe kehrte ein, während die Temperatur im Raum weiter sank.
„Erhebt Euch, Protektor“, wisperte der Schatten und die Geste einer noch immer schemenhaften Gestalt wies Qerlin an, aufzustehen. Der Lin folgte ächzend dem Kommando, schwitze jedoch trotz der inzwischen angenehmen Umgebungstemperatur. „Ich danke euch, dasssss ihr für mich den Schutzzz übernommen habt. Ich bin müde ... sssso müde ... all die langen Jahrhunderte. Führt eure Aufgabe fort ... bissssss ich die Kinder Dakorsss zzzu mir rufe.“ Mit einem lauten Zischen, als würde Luft entweichen entschwand die Gestalt und ihre Präsenz und hinterließ einen Raum voller verängstigter und verwirrter Lin, Elfen und eines Menschen.
Kjerlin ächzte schwer, als sie sich erhob, und ihr entsetzter Blick hing an den gefrorenen Gestalten der elfischen Magier und des Kämpfers, die vom Dyreket hierher gesandt worden oder insgeheim so oder so bereits in Dahenn gewesen waren. Zu eisigen Statuen waren sie erstarrt, für die Dauer des Fluchs zur Untätigkeit verbannt. Und auch alle anderen staunten die so gefrorenen Gestalten an, von denen eine Eiseskälte ausging. Sie näherten sich vorsichtig, vermieden aber jede Berührung. Lediglich Razzun wagte sich heran, wurde jedoch von der sichtlich nervösen Shiniia am Ärmel zurückgezogen.
„Nicht …“, sagte sie nur und zum ersten Male hörte sich ihre Stimme ein wenig zittrig an.
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Auf Na’ik Tok, dem großen Marktplatz, stürmten unzählige Lin auf die eingefallenen Selden los, die Verteidigungspositionen im Kreis einnahmen und ihren General Rysa Edaboom in der Mitte schützten. Dessen Reittier bäumte sich ein letztes Mal auf, während er, den Säbel schwingend, laut das Kommando zum Angriff rief und inmitten dieser Geste zu einer eisigen Statue gefror. Und mit ihm alle seine Streiter.
Die stürmenden Lin begriffen erst spät, was hier geschah und einige der gefrorenen Gestalten fielen den Waffen zum Opfer und zersplitterten in Tausende von eisigen Stückchen. Wieder durchzog ein Zittern den Grund und versetzte die Bewohner in Angst und Schrecken. Doch dann, langsam und erst tröpfelnd, begann aus lange versiegten Quellen wieder Wasser in die Brunnen zu fließen. Es wurde kühler und ein milder Regen fiel aus Wolken, die aus der Ferne herangeeilt waren, auf die Stadt der Lin. Für diesmal hatten sie den Kampf gewonnen: Lin gegen Selden, die Wolken gegen die unerbittliche Sonne.
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Irgendwo, in nicht bekannten Katakomben weit unterhalb der Lin-Metropole, ließ sich eine schemenhafte Gestalt auf einem lange verwaisten Thron nieder, seufzte und fiel in einen tiefen Schlaf. Kjerlin und einige Vertraute berieten über die Umstände, während Qwerlin selbstsicher die Glocke erneut läuten ließ. Dadurch wurden die besonderen Bestimmungen der Verteidigungsmaßnahmen wieder aufgehoben. Alles in allem war nicht ein Lin verletzt worden und jeder konnte nun das im Angriff gefrorene Heer der Selden, von dem eine eisige Kühle ausging, auf dem Marktplatz bewundern.
Shiniia begleitete Razzun schweigend zurück zu seinem Haus ... Dinge änderten sich in Dahenn, drastisch und unerwartet. Nur Naftalin hockte selbstzufrieden auf dem Diwan des alten Qwerlin in der Halle der Versammlung und huldigte dem Wein, bevor er sich einem Schläfchen hingab.
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