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Der Arzt (1) - Ankunft in Dahenn
DER ARZT – ANKUNFT IN DAHENN
Sie wollen eine Geschichte hören? Hm, ja, da fällt mir etwas Interessantes und auch Lehrreiches ein; lehrreich jedenfalls, wenn sie selbst viel reisen und möglicherweise mal direkt nahe der Klippen des pyrhassischen Plateaus zu tun haben. Wirklich? Na gut, wussten Sie, dass die Lin dort eine eigene Stadt, na ja eigentlich sogar einen eigenen Staat haben? Und wenn Lin sich entschließen eine Stadt zu bevölkern, steckt vermutlich mehr dahinter als bloße Geselligkeit oder der Schutz der Gemeinschaft. Lin sind von Natur aus bestens dazu geeignet, in kleineren Horden oder auch alleine gut zurechtzukommen. Vielen Reisenden, die auf dem Weg durch die südlichen Regionen nahe der Klippen auch den Fuß in die Lin-Metropole Dahenn setzen, ist dies durchaus klar. Und deshalb nutzen sie auch normalerweise eine dieser zahlreichen Karawanen, die - gut bewacht - vor der Stadt Halt machen und am nächsten Tage weiterziehen. Wenige verwegene Händler lassen sich darauf ein, auf einem besonderen Platz am Stadtrand Handel mit den Lin zu treiben. Nur wenige wissen, dass nach dem Verständnis der Lin dieser Platz als unantastbare Schutzzone dient ... Noch weniger wissen, dass sie dann beim Verlassen eben dieser Schutzzone besser in Begleitung sein sollten. Begleitung, versteht sich, die in der Lage ist Waffen zu führen. Oder besser noch: Begleitung, die beeindruckend genug ist, dass die Lin erst gar nicht auf Ideen kommen ...
Nun, unsere Händler waren so schlau, haben gute Geschäfte gemacht und sich von sieben bewaffneten Söldnern begleiten lassen. Nicht, dass es hier nicht mehr Lin gegeben hätte, die auch mit dieser Gruppe fertig geworden wären, aber nach allgemeiner Einschätzung lohnte sich der Aufwand nicht. Zu viel Bewegung schadet der Gesundheit ... Insbesondere in Gegenwart bewaffneter Menschen. Da auch die Lin gute Geschäfte gemacht hatten, trennte man sich in Frieden und ließ den jeweils anderen ziehen.
Es war schon lange her, dass sich irgendein Trottel alleine hierher wagte und deshalb waren die Lin auch nicht sonderlich aufmerksam. Nicht, dass in den vergangenen Zyklen nicht dann und wann einmal ein einsamer Reisender durch Dahenn gezogen wäre, aber normalerweise sahen diese Gestalten ebenso abgerissen aus wie die meisten Bewohner der Stadt. Allerdings sei davor gewarnt zu glauben, man könne die Lin durch seine Kleidung täuschen. Mit geschultem Auge des Räubers durchschauen sie fast jede Art von Verkleidung und machen sich dann noch einen Spaß daraus, den Betroffenen zu foppen und ihm Almosen zuteil werden zu lassen. Meist gelangt er sogar bis zum anderen Rand der Stadt ... Naja, jedenfalls fast!
Sie fragen sich jetzt, wieso man die Stadt nicht schlicht links oder rechts liegen lässt? Sicher, ein guter Einwand, aber wir haben hier südlich die steil abfallenden Klippen und zur Rechten eine ebenso unwirtliche Wüste, in der sich die Lin so viel besser auskennen als irgendeine andere von Rakirrs mannigfaltigen Rassen. Neben den Tücken des Treibsandes würde auch hier der obligatorische Überfall nicht lange auf sich warten lassen. Jede Karawane und jeder Reisende, der vor Dahenn ausschert, wäre nur noch interessanter, als diejenigen, die den Weg durch die Stadt nehmen. Sie werden jetzt sicher denken, dass Dahenn damit eine strategisch wichtige Position einnimmt, und damit liegen Sie nicht grundsätzlich falsch. Vom militärischen Gesichtspunkt ist Dahenn eigentlich völlig uninteressant, jedenfalls wenn man nichts von den mehr oder weniger geheimen Steigen zum Meer hinunter weiß. Aber welche Armee würde sich schon die Mühe machen, an einem derart gefährlichen Ankerplatz anzulegen, mit Booten an winzigen Landungsstegen das Leben zu riskieren, um dann noch nie gezählte, Jahrhunderte alte ausgetretene und ausgewaschene Stufen die Klippen hinauf zu steigen? Stufen, die durch enge Nischen führen, in denen ein gut gerüsteter Krieger womöglich stecken bleiben würde ... Also strategisch gesehen ist Dahenn unwichtig. Aber es liegt auf der Reiseroute zu den nördlichen Städten am Rande der Klippen und es gibt keinen Weg um Dahenn herum! Jedenfalls keinen, der sich wirklich lohnen würde ...
Ohh, jetzt fragen Sie sich, wieso die Herrschenden in diesem Land es zulassen, dass Räuber und Diebsgesindel eine ganze Stadt im Griff hat? Na, zum einen sind die Lin die Herren des Landes, wenngleich sie sich auch nicht sonderlich darum kümmern und zum anderen macht es wenig Sinn, einen Angriff zu starten, da jede noch so kleine anrückende Truppe auf Kilometer im Voraus erkennbar sein würde. Die Lin sind obendrein so unhöflich, sich nicht an militärische Regeln zu halten, sondern morden hinterrücks und mit Fernwaffen jeden, der ihnen in die Quere kommt. Fallen, Gifte, nichts ist ihnen fremd! Und damit hat sich im Laufe der Jahrhunderte auch dieses Thema erledigt. Man lässt sich gegenseitig in Frieden. In den nördlicheren Regionen des Lin-Staates existiert sogar seit gut fünfzig Jahren eine neue Stadt namens Beladh, die von den Lin nur besucht wird. Besucht bedeutet in diesem Zusammenhang: friedlich und ohne Plünderungen. Und da die Lin keinen eigentlichen Staatsapparat unterhalten gibt es auch keine Steuern oder sonstige lästige Gesetze. Die gemischte Bevölkerung Beladhs mutiert allerdings langsam zu einem Lin-Vorposten und böse Zungen behaupten, dass man dort Freund und Feind nicht mehr auseinanderhalten kann!
Tja, und wer ist nun der Verrückte, der sich mit nur einem bepackten Ribbu zu Fuß Dahenn nähert? Aus der Ferne kann man es nicht erkennen, aber seien Sie doch einfach froh, die Geschichte aus dieser Perspektive betrachten zu können! Weniger glücklich wären Sie vielleicht die arme Seele, die der Lin-Metropole bereits bedrohlich nahe gekommen ist. Oder vielleicht würden Sie dies auch nur aus der Perspektive des bedauernswerten Ribbu mitbekommen, bis Sie sich in verschiedenen Teilen am Spieße über offenem Feuer wiederfinden würden ... Nun, wie gesagt, betrachten Sie den Verwegenen einfach aus der Ferne, auch wenn Ihnen vielleicht einige Details entgehen werden. Sicherer ist es auf alle Fälle!
Es war denkbar hart, die Wüste zu durchqueren, selbst wenn man sich in Begleitung einer Karawane befand. Razzun hatte aber weder Lust noch Zeit, auf die nächste Karawane zu warten. Geld hätte er gehabt, den Karawanenmeister zu bezahlen, nötigenfalls auch zu bestechen, denn die Geschäfte in Bennabarh waren gut gegangen. Jedenfalls bis ihm eine seiner Kundinnen unter den Händen weg gestorben war. Die unverschämte Person hatte seine Medizin einfach ignoriert. Abgesehen davon überstieg die Krankheit seine Fähigkeiten ohnedies bei weitem. Es war allerdings zu spät, dieses Eingeständnis laut auszusprechen, als die gute Frau sich nach Einnahme der Medizin in ihrem Bett aufbäumte und dann röchelnd vom Leben zum Tode wechselte. Nicht, dass etwa die Medizin daran schuld gewesen wäre, es war halt schlicht so weit ... Razzun wechselte während dieser wenig reizvollen Sekunden die Farbe und hatte für einen Arzt eine heilsame Eingebung: Er nutzte die kurze Zeit des Schocks und der Trauer, um seine Praxis umgehend aufzulösen und sein Heil an einem anderen Ort zu suchen. Wie gut, dass er schnell genug war und die Stadt bereits verlassen hatte, als der Mob sich sammelte, um ihn der verblichenen Patientin hinterdrein zu senden. Wie schlecht, dass es sich um das nunmehr dahingeschiedene Weib des Bürgermeisters handelte!
So war er auch in den umliegenden Städten und dem ganzen Reich nicht vor den Nachstellungen sicher und schon bald hatten sie ihn in Murno, einer kleinen Grenzstadt eingeholt. Seine panische Flucht über die eigentlich geschlossene Grenze verwirrte sowohl seine Häscher, als auch die Grenzposten des Elfenreiches. Zuerst wollte er ihnen eine abenteuerliche Geschichte erzählen, bis ihm in den Sinn kam, dass seine Geschichte bereits abenteuerlich genug war. Die Elfen hatten ein Einsehen, nachdem einer ihrer Heiler die fachlichen Kenntnisse Razzuns überprüft und für beachtlich erklärt hatte. Sie ließen ihn ziehen und gleichzeitig wissen, dass sie seine Anwesenheit nicht wünschten.
So zog er weiter und weiter, immer auf der Suche nach einer neuen Heimat und einer neuen Aufgabe. In den meisten Gemeinden gab es bereits Heiler oder Ärzte, obwohl die wenigsten diese Bezeichnung verdienten. Aber gerade diese sorgten dann mit rasanter Geschwindigkeit und unter Aufbietung all ihrer Beziehungen dafür, dass Razzun nirgends lange bleiben konnte.
Irgendwann hörte er etwas von einer Stadt namens Dahenn, in der die Lin marodierten und Reisende überfielen. Irgendwie kam es ihm in den Sinn, dass dort sicherlich ein guter Arzt vonnöten war und er schlug alle Warnungen in den Wind. Was sich die Leute über Dahenn und die Lin erzählten, konnte schließlich unmöglich stimmen. Nach Razzuns Meinung hätten sie sich dann schon vor Jahrhunderten selbst ausrotten müssen! Hätte er nur gewusst, dass kein Lin einen anderen umbringen würde ... Nun, jedenfalls nicht in aller Öffentlichkeit!
Das Wasser war bereits knapp geworden, als sich die Umrisse einer Stadt am Horizont abzeichneten. Razzun blieb kurz stehen und betrachtete das noch ferne Ziel. Verwundert stellte er fest, dass keine schützenden Mauern die Stadt umschlossen. Seine anfängliche Irritation legte sich aber, da er sich kaum vorstellen konnte, dass jemand eine Stadt in so exponierter Lage angreifen wollte. Langsam zog er weiter und verhüllte sein Gesicht, denn der aufkommende Wind trieb feinen Sand vor sich her. Erst mit Einbruch der Dunkelheit erreichte Razzun die ersten armseligen Hütten Dahenns und wurde dort von einer großen Anzahl herumlungernder Lin genauer in Augenschein genommen. Razzuns Blick glitt suchend umher, aber irgendeinen Verantwortlichen oder eine Wache konnte er nicht entdecken, also ging er mit einem knappen Gruß weiter, während sich die Gestalten langsam von den Wänden, an denen sie lehnten, lösten und in einer Prozession hinter ihm herzogen. Razzun blickte sich nicht um, denn er wusste auch so, dass die abgerissenen Gestalten ihm folgen würden. Bei der Sache war ihm nicht ganz wohl, aber er versuchte ruhig zu bleiben und vermied es, seine Schritte zu beschleunigen.
Nachdem er zahllose Hütten und Häuser, die sich in erbarmungswürdigem Zustand befanden, passiert hatte, kreuzte eine breitere und gepflasterte Straße seinen Weg. Razzuns Blick ging zur linken und er sah in der Dunkelheit höhere Gebäude und diverse verkrüppelte Bäume, während sich zu seiner rechten nach wenigen Schritten ein großer Platz öffnete. In den Straßen und Gassen waren nur wenige Gestalten unterwegs, und jene, die Razzun erblickte, sahen in ihren abenteuerlichen Kleidungsstücken und den offen getragenen, bizarr geformten Waffen wenig vertrauenerweckend aus. Allerdings ließen sie ihn in Ruhe und würdigten ihn teilweise nicht einmal eines Blickes. Razzun wertete dies als ein gutes Zeichen. Er konnte natürlich nicht wissen, dass dies das Gebiet einer anderen Familie oder Bande war. Schließlich konnte nicht jeder überall über jeden herfallen! Das würde schließlich zu einem unkontrollierbaren Chaos führen, und was die Verteilung der Straßenzüge, Stadtteile und der Reisenden angeht, sind die Lin weit von jeder Anarchie entfernt!
Während er noch so unentschlossen dastand, trat mit gelassenem Schritt ein jung aussehender Lin an ihn heran. Die grellgrüne Hose und die orangefarbene Jacke passten nun gar nicht zusammen, außerdem trug er zahlreiche Ketten und Bänder um den Hals, an denen Talismane und andere Anhänger baumelten. Er baute sich vor Razzun auf, stemmte die Hände in die Hüften und sah dem mehr als einen Kopf größeren Menschen direkt in die Augen. Im Licht einer nahen Laterne funkelten die gelben Augen wie die einer Raubkatze und die Gesichtszüge verrieten Anspannung.
„Wirst du’s freiwillig tun?“, fragte der Lin. Es klang weder überheblich noch schwang irgendeine Drohung in der Stimme mit.
„Wie?“ Razzun nahm den Schal herunter, da der Wind in den Gassen nicht so stark war. „Was soll ich freiwillig tun?“
Der Lin seufzte, trat vorsichtig einen Schritt zurück und winkte die noch immer hinter Razzun stehende Meute heran. „Leg einfach alles ab und wir lassen dich leben.“
„Aber ...“, Razzun blickte den Lin verwirrt an und wandte den Kopf um. Allerdings hatte das ‚Aber‘ bereits ausgereicht! Dies war das Signal keiner Freiwilligkeit und mit lautem Johlen fiel die Meute über Razzun und sein Lasttier her. Das Ganze war ein Knuffen und Ziehen, Geschrei und Gejohle, aber Razzun konnte sich trotz einiger hilfloser Versuche der Übermacht nicht erwehren. Sie zerrten ihn am Boden mal hierhin und dann wieder dahin, bis ihm aufging, dass sie ihn selbst seiner Kleider entledigten. Irgendwann ließen sie von ihm ab, als er nur noch den Lendenschurz trug. Sonst hatten sie ihm nichts getan und so sprang er wütend auf, während die Lin mit der Beute davonzogen.
„Seid ihr denn alle völlig verrückt geworden?!“, brüllte Razzun hinter ihnen her. Hinter seinem Rücken schüttelte ein weiterer Lin seinen Kopf und ging auf den verstörten Menschen zu. Einige der abziehenden Lin drehten sich um und zogen ihre Waffen.
„Du solltest sie nicht beschimpfen, wirklich“, meinte eine gutmütige Stimme hinter Razzun und erschrocken fuhr er herum. „Jetzt werden sie dir wohl die Eingeweide herausschneiden und dich an die Tiere verfüttern ... Schade, schade, schade.“
Die Gestalten näherten sich mit mäßigen Schritten und unterhielten sich in ihrer merkwürdigen Sprache. Scheinbar machten sie bereits ihre Witzchen über den schon bald Versterbenden.
„Was zum ...?“ Razzun verstand die Welt nicht mehr und sah von der drohenden Gefahr zu dem jungen Lin hinunter. „Hilf mir gefälligst! Ruf die Wachen!“
„Bleglin versteht keinen Spaß, wenn man ihn beleidigt“, war die einzige Reaktion. „Außerdem ist dies seine Straße, deshalb kann ich dir nicht helfen.“
„Seine Straße?“ Razzun schaltete schneller, als sein Gesprächspartner es ihm zugetraut hätte und lief hastig in die gegenüberliegende Gasse. Dort kam er humpelnd zu stehen, da er auf irgend etwas Spitzes getreten war. Razzun warf einen gehetzten Blick nach hinten. Fünf Lin standen mitten auf der Wegkreuzung und starrten erbost in seine Richtung, dann wandten sie sich an den Lin, der Razzun den rettenden Tipp gegeben hatte.
„Firfin!“, brüllte ein älterer Lin, der einen Krummsäbel in der Hand hielt und dessen Wut keineswegs gespielt war. „Du Sohn eines Ewus und einer Ku’Narr hast ihm geholfen!“ Er hob die Waffe.
„Und warum sollte ich das tun?“, antwortete Firfin ruhig und blickte dem Anführer der Gruppe scheinbar gelassen in die Augen. „Meinst du, ich hätte Verwendung für einen Lendenschurz? Ich habe ihm nichts gesagt, er muss es wohl gewusst haben.“ Dann drehte er sich auf dem Absatz um und entfernte sich mit leichtem Schlendern, ganz als würde er einen gemütlichen, abendlichen Spaziergang zur Erholung machen, in Richtung der Gasse, in die sich Razzun geflüchtet hatte und die Szene wütend und ängstlich betrachtete.
Bleglin war puterrot angelaufen. „Firfin, wenn ich dich noch ein einziges Mal in meinen Straßen sehe, verteile ich deine Eingeweide zur Warnung an alle an jeder Ecke!“ Firfin winkte verächtlich ab und nur der feste Griff und beschwichtigende Worte seiner Kumpane hielten Bleglin vom Nachsetzen ab.
„Komm“, sagte Firfin freundlich und ging die Straße hinunter an Razzun vorbei. Mit einer beiläufigen Handbewegung bedeutete der Lin, ihm zu folgen. Der Arzt blickte von dem aufgebrachten Bleglin wieder zu Firfin, der – ohne sich umzudrehen – weiterging.
„Warte ... ich ... ach, verdammt.“ Dann humpelte er schweigend hinter dem jungen Lin her. Es fiel Razzun nicht leicht, das Tempo zu halten, auch wenn Firfin nach wie vor einen gemächlichen Schritt anschlug, dann ließ er sich plötzlich etwas zurückfallen und ging auf gleicher Höhe des Menschen weiter. „Warum bist du nur so dumm alleine nach Dahenn zu kommen? Jeder Ewu weiß, dass das ohne Begleitung ziemlich verrückt ist.“
„Ich bin nicht jeder Ewu!“, maulte Razzun und würdigte Firfin keines Blickes.
„Aha.“ Firfin ging wieder einen Schritt schneller und bog in eine düstere Seitengasse ab. Razzun blieb stehen und äugte in die Gasse. „Warte!“, rief er dem Lin hinterher, der nach vier, fünf weiteren Schritten inne harrte und sich zu seinem Begleiter umsah.
„Worauf?“
„Ist die Gasse sicher?“ Razzun musterte die nahen Gebäude und die unbeleuchtete Gasse mit kritischem Blick. Firfin zog kurz die Schultern hoch und eine unterschwellige Amüsiertheit schwang in seiner Stimme mit. „Ich sehe nicht, was du noch zu verlieren hättest.“
„Sehr witzig“, murrte Razzun. „Mein Leben könnte ich verlieren.“
„Ach so“, kam es lakonisch von Firfin. „Außer Bleglin und seine Horde hast du hier ja noch niemanden beleidigt. Also sehe ich nicht, was dir sonst hier passieren soll. Ich bin sicher, dass niemand auf die Idee kommt, in deinen Eingeweiden nach Gold zu suchen ... Andererseits ..." Firfin kam einen Schritt auf den Menschen zu, dessen Augen sich überrascht weiteten.
„Augenblick mal!“ Razzun hüpfte schnell ein paar Schritte nach hinten. „Warte mal! Du hast doch nicht wirklich vor ... Ich meine ... Das kannst du nicht machen!“ Blankes Entsetzen ergriff den Arzt, während Firfin immer näher kam. Als der junge Lin ins Licht der Straße trat, brach er in schallendes Gelächter aus. „Du musst noch ein paar Dinge über uns Lin lernen, Fremder.“
Die Angst wich einer Wut und Razzun machte einen Schritt auf den Jungen zu. „Vorsicht!“, meinte Firfin und seine Augen funkelten. „Du bist nicht in der Position mir zu drohen. Und versuch besser erst gar nicht, mir auch nur zu nahe zu kommen. Wenn du dich beruhigt hast, bringe ich dich zu meinem Onkel. Der kann dir sicher irgendwie weiterhelfen.“
„Wobei?“
„Er könnte Wurst und Braten aus dir machen, vielleicht ist er aber guter Dinge und hilft dir einfach so ... Gegen ein entsprechendes Entgelt oder Arbeit als Gegenleistung. Hast du etwas gelernt?“
„Ich bin Arzt!“, brüllte Razzun genervt und nahm seinen stolpernden Schritt wieder auf, um Firfin zu folgen, der sich wieder in die düstere Gasse davongemacht hatte.
„Arzt?“ Firfin blieb stehen und drehte sich abermals um, um den Mann im Lendenschurz zu mustern.
„Ja. Arzt! Heiler, Medizinmann oder wie immer das hier genannt wird.“
„Ich weiß was ein Arzt ist“, sagte Firfin leicht gereizt. „Und wohin wolltest du?“
„Ihr Geister!“ Razzun erhob beide Arme zum Himmel und verdrehte die Augen. „Hierher. Ich kam hierher, um den Leuten zu helfen.“ Razzun war einer der wenigen Menschen, der jemals in den Genuss kam, einen verdutzten Lin zu sehen und nachher darüber berichten zu können. Firfin glotzte ihn mit dümmlichem und verständnislosem Blick an. „In Dahenn? Ein Arzt?“
„Gibt es hier keine Krankheiten? Verletzte? Alte?“ Razzun machte eine ausladende Geste in die Umgebung. „Es kommen immerhin Karawanen hier durch und die werden sicher auch Interesse an einem guten Arzt haben. Bei der Menge an Bewohnern, jedenfalls sah die Stadt riesig aus, wird es doch einen Arzt brauchen?“ Ein Unterton der Verzweiflung schwang in seiner Stimme mit.
„Sicher ... Gehen wir zu meinem Onkel, er wird dir helfen.“ Firfin trat neben Razzun und bot ihm einem Arm zur Hilfe an. „Stolpere nicht, Arzt!“
„Ich heiße Razzun.“
„Aha.“
Haben Sie gewusst, wie schwierig es ist, in diesen Zeiten einen guten Heiler, geschweige denn einen Arzt, einen guten Arzt zu bekommen? Tja und ausgerechnet einer der besten in allen Mittelreichen versucht sich krampfhaft in Dahenn niederzulassen, wo er für den normal Sterblichen ungefähr genauso gut erreichbar ist, als würde er im Palast eines Herrschers für eben diesen praktizieren. Fragt sich nur, was die Lin davon halten und wie Firfins Onkel darauf reagieren wird. Ich bin allerdings sicher, dass es nicht lange dauern wird, bis sich die Ereignisse überschlagen werden, denn – bislang noch unbemerkt – sind Razzuns Häscher nach wie vor auf seiner Fährte und können ihr Schicksal kaum fassen, dass sich dieser Verzweifelte – offensichtlich der Verzweiflung nahe – alleine nach Dahenn traut. Kopfgeldjäger hin oder her, Pregrin und Allur sind nicht halb so verrückt wie sie aussehen, sich ebenfalls alleine dorthin zu trauen. Maulend warten sie, denn sie wissen, dass sie in spätestens zwei Tagen eine Karawane einholen wird ...
Haben Sie schon mal zwei Tage in der offenen Wüste kampiert? Jetzt wissen Sie wenigstens genauer, was von Dahenn und seinen Bewohnern zu halten ist, wenn sich schon zwei altgediente Kopfgeldjäger nicht da hinein trauen! Was soll’s, noch hat sie keiner bemerkt, lehnen sie sich zurück und beobachten Sie, was sich weiter in Dahenn abspielt, denn das könnte wirklich interessant werden. Eins noch: Gehen sie bloß nicht zu nah heran!
Mensch und Lin gingen noch eine Weile durch verwinkelte Gassen und Razzun staunte über die Gebäude, die stellenweise scheinbar wahllos verteilt worden waren. In einer größeren Gasse standen sie plötzlich vor einem Haus, welches mitten hinein gestellt worden war und selbst Firfin maulte etwas in der eigentümlich kehligen Sprache der Lin, drehte um und ging dann durch einen Hof, einen Garten, der durch eine kleine Mauer abgetrennt war, um nach einem weiteren Hof und einer Zufahrt wieder in der gleichen Gasse zu landen – allerdings natürlich hinter dem Haus.
„Was soll das?“, fragte Razzun und warf nochein mal einen Blick über die Schulter. „Sie haben das Haus einfach auf die Straße gebaut.“ Letzteres klang auch für Firfin eher wie eine Feststellung als eine Frage.
„Ja“, kam es knapp als Antwort und der Lin würdigte das schmale Gebäude keines weiteren Blickes. „Wo hätten sie es denn sonst hinstellen sollen?“
Razzun bemerkte seine schmerzenden Füße beinahe nicht mehr und die Wunder der Umgebung nahmen kein Ende. Mal endete die Gasse wieder unvermittelt vor einer Mauer, dann fischte der Lin den Menschen schnell am Arm von einer Kreuzung zurück, blickte nach links und rechts, um dann schnellen Schrittes in einen gegenüberliegenden Hauseingang zu verschwinden. Razzun tat es ihm gleich, jedenfalls so schnell er dies vermochte.
Da keine Frage kam, murmelte der Lin etwas vor sich hin, das in Razzuns Ohren wie „Nublins Straße“ klang. Er nickte wie zur Bestätigung, ohne sich noch weiter zu wundern.
Firfin klopfte in einem bestimmten Rhythmus an die geschlossene Türe und nach einem Augenblick öffnete eine gut einen halben Kopf kleinere Gestalt, quiekte dann laut auf während Firfin mit einem „Scht!“ schnell Ruhe gebot. „Steh nicht im Weg, sondern lass uns rein, Deglin. Wenn Nublins Rotte uns hier sieht, gibt es nur unnötigen Ärger.“
„Wenn mein Vater dich sieht gibt es noch mehr Ärger!“ Die offensichtlich weibliche Lin kicherte und zog Firfin in die Wohnung. Razzun machte einen Schritt, aber dann war die Tür auch schon wieder zu. Er seufzte und nach einer halben Minute öffnete ein etwas zerzaust aussehender Lin die Tür, um den wartenden Menschen hereinzulassen. Mit großen Augen musterte die junge Lin den Menschen, denn so nah und unbekleidet war sie noch keinem begegnet. Und schon gar nicht mitten in der Nacht.
„Firfin!“, wisperte sie. „Wenn ...“
„Ich weiß“, antwortete der Lin leise. „Deshalb müssen wir auch sofort weiter. Und es ist allemal sicherer durch den Garten deines Vaters zu laufen, als irgendwo in den Straßen.“
„Schon. Schade, dass du nicht noch was bleiben kannst. Der Alte schläft nämlich schon seit einer Weile.“ Deglins verschmitztes Grinsen ließ auch für Razzun durchblicken, dass sie Firfin hier nicht zum erstenmal hinter dem Rücken ihres Vaters empfing. „Aber deinem Gast würde sicherlich langweilig.“ Sie kicherte und sah Razzun wieder an. Firfin warf einen Blick auf die schmale Treppe, die ins Obergeschoss führte. „Er hat sich früher hingelegt als sonst?“
Deglin nickte nur kurz.
„Das gefällt mir nicht.“ Firfins Miene ließ Besorgnis erkennen. „Wir verschwinden besser sofort, wer weiß schon, was der alte Suffkopp nun wieder im Schilde führt ...“
Razzun sah sich in dem schwach beleuchteten Entree um und war überrascht, alles ordentlich und sauber vorzufinden. Die goldverzierten Lampenhalter, gut gefüllte Öllampen und die Teppiche am Boden verrieten eine gewisse Gemütlichkeit, aber auch den Stolz des Besitzers, seinen Reichtum zur Schau zu tragen. Der lange Gang endete an einer weiteren Türe, links und rechts waren durch Schatten schwach die Umrisse weiterer Türen oder Durchgänge zu sehen. Eine schmale Treppe, belegt mit einem dünnen, aber farbenfrohen Läufer, führte ins Obergeschoss.
Firfin gebot Razzun, ihm zu folgen, und ging leise den Gang entlang. Die kalten Fliesen waren eine Wohltat für die geschundenen Füße des Arztes und so umging er die Teppiche und wäre dabei fast vor eine schmale, mannshohe Vase gelaufen. Deglins Augen waren bereits vor Entsetzen geweitet, als sie bemerkte, dass der Mensch zu allem Überfluss auch noch blutige Fußabdrücke am Boden hinterließ. Mit einem Geräusch der Missbilligung winkte sie Firfin hinterher, der sich nur mit einem kurzen Kopfnicken verabschiedete. Dann machte sich Deglin auf den Weg, die verschwiegene Haushälterin zu wecken, um die Spuren des nächtlichen Besuchs zu beseitigen. Sie wusste genau, dass Lurlin kein Wort über die nächtliche Aktion verlieren würde, schließlich hatte ihr Vater ihr vor gar nicht all zu langer Zeit die Zunge herausschneiden lassen.
Firfin öffnete die Tür am anderen Ende des Ganges und der Blick fiel in einen verwilderten und üppig wuchernden Garten. Die zwei wanderten durch große Gebüsche und Ranken und Razzun konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Lin wohl irgendwie eine gewaltige unterirdische Quelle angezapft haben mussten, wenn sie das Wasser sogar auf das Wachstum dieser Zierpflanzen verwandten.
Firfin wählte mit Rücksicht auf die bereits mehr als nur geschundenen Füße seines Begleiters eine Route fernab der Dornenbüsche. Sie gelangten an eine Mauer und wenig später an eine Tür darin. Firfin fingerte in seinen Sachen herum, sah nachdenklich an sich herunter, bis ihm einfiel, dass er den Schlüssel an einem der Bänder um seinen Hals trug. Er sperrte die Türe auf, öffnete sie mit einem Ruck und schob Razzun hinaus.
„Schnell! Auf die andere Straßenseit!“ Dann sperrte er die Tür wieder zu und folgte hurtigen Schrittes.
„Du verstehst dich mit dem Vater deiner Freundin nicht?“ Razzun hatte sich einen Augenblick hingesetzt, um seine Füße zu entlasten. Da Firfin keinen Einwand hatte ging er davon aus, dass diese Straßenseite wieder jemand anderem gehörte. Der junge Lin blickte ihn verständnislos an. „Das dürfte auch wohl kaum möglich sein ...“
„Ich verstehe nicht?“
„Deglins Vater ist Nublin, ein Todfeind meines Onkels.“ Es dauerte einen Augenblick bis die Nachricht sich gesetzt hatte, dann stand Razzun kerzengerade.
„Du meinst, das da drüben ist das Haus deines Todfeindes!?“ Der Lin nickte nur zur Bestätigung. „Und wir laufen mitten hindurch? Bist du eigentlich völlig übergeschnappt?“ Razzuns Wut war keineswegs gespielt.
„Der beste Weg durch das Land des Feindes führt durch seinen eigenen Garten.“ Firfin grinste unverschämt.
„Ich glaub’s einfach nicht!“
„Komm jetzt, wir sind fast da und ein wenig Erholung wird deinen Füßen sicherlich gut tun. - Eins noch ... erinnere dich daran, was ich dir gesagt habe: Beleidige niemals einen Lin. Es gibt einige, die schon eingeschnappt wären, wenn du sie anschreist oder sie fragst ob sie übergeschnappt sind.“ Firfin sah seinen Gegenüber düster an. Auch wenn der Lin erheblich kleiner und sehr viel jünger war, wollte Razzun ihn nicht unbedingt provozieren. Bis hierhin schien er es ja gut mit ihm zu meinen.
„Gut. Ich denke, das kann ich behalten.“
„Schön.“ Firfin drehte sich um, spähte in die Nacht hinaus und bog nach kurzer Strecke auf eine breitere Straße ab, die gut beleuchtet war. Razzun bemerkte hier und dort weitere Lin, die in Hauseingängen lungerten oder scheinbar beiläufig über die Straße schlenderten. Alle grüßten Firfin mit einem kurzen Nicken oder einer knappen Geste. Worte wurden keine mehr gewechselt.
„Gibt es eigentlich keine Regierung oder Stadtverwaltung hier?“, wollte Razzun wissen, während er mit vor Schmerz verzerrtem Gesicht hinter seinem jungen Führer humpelte. Sein Gang hatte inzwischen etwas von einem bizarren Tanz, der die anderen Lin zum Schmunzeln brachte.
„Schon ...“, kam es knapp als Antwort, ohne dass Firfin sich die Mühe machte, sich umzudrehen. „Bin ich zu schnell?“
„Nein, nein. Es geht schon.“
Sie bogen mehrmals ab, dann öffnete sich ein großer Platz vor ihnen. Überall lagen noch Reste von Gemüse und Obst, streunende Tiere gingen vor den umherschleichenden Lin in Deckung und hier und da lag auch eines der Viecher aufgeschlitzt herum. Razzun betrachtete die im Düstren gespenstische Szene mehr, als würde er hinter einem Vorhang stehen. Der Platz wurde von vier Hauptstraßen, jedenfalls waren es sehr breite und gut beleuchtete Straßen, tangiert und war nur am Rande mit Laternen ausgeleuchtet, die an den weit auseinander stehenden Häusern befestigt waren. Razzun bemerkte, dass sich das Bild der Stadt gewandelt hatte, denn die hiesigen Häuser hatten durchweg mehrere Etagen und schienen etwas von dem Reichtum vergangener Tage widerzuspiegeln. Verzierte Fassaden, Statuen vor den Eingängen und bunte Fassaden, von denen allerdings bei näherer Betrachtung die Farbe schon seit langer Zeit abblätterte. Firfin marschierte quer über den Platz und auf ein imposantes Gebäude am anderen, linken Ende zu. Eine gewaltige Freitreppe führte bis in die erste Etage hinauf und verlief sich in einem etliche Schritte langen Podest, das mit weißem und rotem Marmor gefliest war. Die Ornamente waren wie düstere Schlangen, die am Boden entlang krochen, während die weißen Fliesen das Licht von Fackeln und Laternen sowie den zwei Monden reflektierten. Zwei Tore, die doppelt so hoch wie Razzun groß waren standen weit offen und aus den Räumen dahinter hörte er Lachen, Musik und lautes Rufen und Gejohle. Offensichtlich war ein Gelage oder ähnliches im Gange.
Die Empfangshalle mochte einem Märchen entsprungen sein: Überall waren Verzierungen, Einlegearbeiten, Mosaike und Gobelins. An den hohen Fenstern hingen mächtige Vorhänge aus erlesenem Tuch und viele Lin liefen geschäftig mit Platten voller Obst und Gemüse, Fleisch und anderen, verführerisch angerichteten Speisen hin und mit leeren Platten wieder zurück. Sie würdigten die Neuankömmlinge keines Blickes und hatten auch kein Problem damit, Razzun förmlich umzurennen. Firfin führte ihn schnell bis an das andere Ende der Halle, vorbei an zahlreichen Türen, die in dahinter liegende große Räume führten. Und in allen Räumen schien gefeiert, musiziert und gelacht zu werden, helles Licht drang in die ebenfalls gut ausgeleuchtete Empfangshalle. Razzun war überwältigt und für einen kleinen Augenblick vergaß er, was ihm heute widerfahren war und auch die Schmerzen an seinen Füßen waren für den Augenblick wie weggeblasen.
„Ist mein Onkel hier?“ Firfin hatte sich an einen mit Essensresten und Wein verschmierten, torkelnden Lin gewandt, der ihn zunächst stier anglotzte, dann laut und vernehmlich rülpste und mehr oder weniger deutlich auf einen der Räume wies.
„Schelin hatte wohl mal wieder einen zuviel“, bemerkte er lakonisch, als der andere Lin einen der Räume auf der anderen Seite anpeilte – jedenfalls sah es zumindest so aus -, und dann mit stolpernden Schritten in einen leicht vornüber geneigten Trab verfiel, um wenig später festzustellen, dass er für den Abend noch nicht ausreichend Zielwasser zu sich genommen hatte und feste Wände ihn nach wie vor abprallen ließen. Mit einem dumpfen Geräusch schlug er zunächst auf der Wand und nur Bruchteile eines Augenblickes später auf dem Boden auf, wo er einen Moment orientierungslos verweilte. Dann erhob er sich schwerfällig, versuchte sein Gleichgewicht zu finden und lallte einen der vorübereilenden Lakaien an, der ihn jedoch keines Blickes geschweige denn einer Antwort würdigte. Der daraufhin erzürnte Schelin – schließlich war es denkbar unhöflich, bei jedem Gelage die Türen an anderer Stelle anzubringen – schlug wild um sich, brüllte lauthals irgend etwas in die Halle und schon kamen zwei, drei andere Lin aus einem der nahen Räume um nachzusehen. Laut lachend führten sie den guten Schelin zum nächste Weinschlauch, damit er sich für das nächste Abenteuer bei der Durchquerung der Vorhalle wappnen konnte. Die so geleistete Hilfe quittierte er abermals mit einem vernehmlichen Rülpser, der durch die Halle schallte und selbst die schräge musikalische Darbietung nur noch als Begleitmusik erklingen ließ. Razzun seufzte und schüttelte den Kopf.
Und Sie haben gedacht, Lin wären anders? Tja ... Der einzige Unterschied zu anderen Völkern besteht darin, dass ein besoffener Elf sich durch die Halle tragen lassen würde. An der Geräuschkulisse würde das allerdings auch nicht viel ändern ... Wie sagte einst ein alter Gelehrter: „Vor dem Wein sind alle gleich!“ Und nach allgemeiner Erkenntnis gilt dies insbesondere, wenn sich der Wein nicht mehr vor, sondern in einem befindet. Aber schauen wir mal, was Firfins Onkel zu dem nächtlichen Gast zu sagen hat!
Firfin führte seinen Begleiter durch eine johlende und hüpfende Menge, die den Menschen nicht zur Kenntnis nahm. Lin saßen, sprangen, tanzten und lagen überall herum und hinter einem nahen Kanapee waren sehr eindeutige Geräusche zu vernehmen, die zwei aufeinander liegende Lin unterschiedlichen Geschlechts von sich gaben. Dann und wann landete fliegendes Obst, Knochen oder andere Essenreste auf Razzun, der sich vorsichtig umsah und nach den ersten Erfahrungen des unorthodoxen Austausches von Nahrungsmitteln, diesen auswich, damit es den Empfänger auch erreichte.
Einmal ereilte es einen der Lakaien, der sich gerade umblickte, als ein Apfel von bemerkenswerter Größe und wunderschöner tiefroter Färbung krachend auf seiner Stirn landete und den so getroffenen von den Füßen holte und ihn beinahe zu einem kompletten Salto rückwärts veranlasste, bevor er ausgestreckt auf dem Boden zu liegen kam. Die Einlage wurde durch Beifall und lautes Gejohle quittiert, während Razzun sich hinter Firfin zu einem Podest hindurchschlängelte. Dort residierte auf einem ausladenden Sofa oder Bett ein einzelner älterer Lin, dessen linkes Auge durch eine Klappe verdeckt war, während sein gutes Auge bereits seit längerem auf Firfin und dem nachfolgenden Menschen ruhte. Das Funkeln ließ auch für Razzun erkennen, dass hier ein wenig umnebelter und scharfer Verstand bereits abschätzte, was auf ihn zukam. Drei Stufen und Razzun stand neben Firfin auf dem Podest.
Der alte Lin trug ebenfalls zerschlissene Kleidung, eine dunkelgrüne Pluderhose, die ihm mindestens drei Nummern zu groß war, ein ursprünglich weißes Hemd, welches nun von kleineren Weinflecken und umherliegenden Speiseresten verziert wurde. Die langen und leicht ergrauten Haare waren am Hinterkopf zu einem Zopf zusammengebunden, der nun, da der Onkel sich aufgerichtet hatte, beinahe bis zum Gesäß hinunter reichte.
Hätte Razzun sich ein wenig genauer informiert und auch hingehört, wäre ihm bewusst gewesen, dass nur Lin mit entsprechendem Einfluss die Haare derart lang trugen, obwohl es keine Bestimmungen gab, dass alle anderen dies nicht durften. Eine alte Sitte eben ... Obwohl, bei genauerem Hinsehen geht einem wirklich nicht gleich auf, welche Sitten heute gerade bei den Lin gelten. Hätten Sie gewusst, dass Lin es nachgerade obszön finden, in der Öffentlichkeit unbekleidet herumzulaufen? Nicht? Egal, Sie sind ja weit genug weg ... Hoffe ich!
„Qwerlin, Onkel, ich freue mich, dich zu sehen.“ Firfin Stimme klang, als freue er sich wirklich. Jedenfalls hörte es sich für Razzun so an. Ohne seinen Neffen einer Antwort zu würdigen, funkelte er den Menschen durchdringend an und Razzun trat nervös von einem Fuß auf den anderen, nickte dem Onkel freundlich zu, der daraufhin seinen Neffen anstarrte. „Was ist das?“
„Das ist ein Arzt, Onkel. Ich meine, nicht etwa nur ein Heiler, sondern ein Arzt.“
„Wer sagt das?“ Die Stimme des Alten klang mürrisch.
„Razzun.“
„Wer ist das?“
„Das da.“ Firfin neigte mit einer knappen Geste den Kopf in Richtung seines Begleiters. Razzun war nicht sicher, ob ihm die Unterhaltung gefiel. Mal wurde er als Ding bezeichnet, dann wieder sprachen die Zwei über ihn, als wäre er nicht zugegen. Aber er erinnerte sich, welche Scherereien er bislang mit anderen Lin hatte, und mit dem Alten wollte er sich nicht unbedingt anlegen.
„Arzt, hm?“ Qwerlins Auge fixierte den Gegenüber.
„Ja.“ antwortete Razzun knapp.
„Hat man dir nicht gesagt, dass es sich nicht gehört, mehr oder weniger nackt herumzulaufen, ohne zumindest andeutungsweise in weiblicher Begleitung zu sein und sich hier und dort zu vergnügen?“ Hörte Razzun da etwa echte Bestürzung über sein eigenes Fehlverhalten?
„Ich ...“, setzte er an, aber Qwerlin brach in schallendes Gelächter aus und warf sich zurück auf das Bett. „Setz dich, Arzt. Hier auf die Bettkante. Und Firfin, du siehst zu, dass er irgendein Tuch, Mantel oder so einen Kram aus der letzten ... hm, Lieferung bekommt. Wie sieht das denn aus, wenn er hier nackt auf meinem Bett herumsitzt?“
„Schon gut, Onkel, bin unterwegs.“ Firfin drehte sich um und sah Razzun mit Verschwörermine an. „Alles klar“, wisperte der junge Lin im Vorbeigehen. „Mach jetzt keinen Fehler.“
Qwerlin richtete sich schwerfällig auf und sammelte verstreut liegende Kissen ein, um sie unter sich zu einem kleinen Berg zu formieren. Dann lehnte er sich lässig darauf. „Und was will jetzt ein Arzt bei uns? Wir hatten ja schon eine Menge Quacksalber und Möchtegern-Heiler hier, aber einen richtigen Arzt noch nie!“
„Genau deshalb bin ich hergekommen“, erwiderte Razzun erschöpft und hockte sich auf die Kante des Bettes. „Ich dachte, man würde es gerne sehen, einen fähigen Arzt in dieser Stadt zu haben. Aber ...“
„Jajajaja.“ Der Alte winkte ab. „Ich seh‘ auch so, dass die Idioten mal wieder nicht erkannt haben, was ihnen da über den Weg gelaufen kam. Sag mal, du bist doch nicht etwa alleine hergekommen?“
Razzun nickte.
„Oh, das erklärt natürlich den vorübergehenden Verlust deiner Bekleidung.“ Ein Schmunzeln huschte über das Gesicht des Alten, der mit einer knappen Geste einen der Lakaien heran winkte, der unterwürfig das Tablett auf dem Bett abstellte. Neben Wein und Fruchtsäften waren dort Brot, diverse Fleischsorten und Gemüse für vier bis fünf Personen. Mit einer Geste offerierte Qwerlin Speisen und Getränke an Razzun.
„Fühl dich eingeladen. Und ich entschuldige mich für das Benehmen derer, die dir deine Sachen reinigen wollen ... Normalerweise fragen sie höflich, aber es sieht so aus, als wären sie etwas unwirsch gewesen, um diese Tageszeit noch arbeiten zu müssen.“
Razzun blieb beinahe der Bissen Fleisch im Halse stecken und er wollte gerade zu einem Protest ansetzen, als ihm einfiel, dass dies sicherlich keine gute Idee wäre. Also zuckte er mit den Schultern und schluckte seinen Ärger hinunter. Qwerlin betrachtete ihn aufmerksam, ließ aber nicht durchblicken, was er im Augenblick dachte.
„Sie hätten sich ...“, Razzun überlegte seine Worte genau zwischen zwei Bissen, „... ein wenig klarer ausdrücken sollen, schließlich wird einem nicht in jeder Stadt gleich beim Betreten die Last des Transportes abgenommen und die Wäsche gewaschen. Das kann dann leicht zu Missverständnissen führen.“
„Jajajaja“, erwiderte der Alte nachdenklich und völlig ernsthaft. „Wir Lin werden so oft falsch verstanden und niemand macht sich die Mühe, sich genauer mit uns zu befassen. Da hat es schon so manches Unglück gegeben. Jaja.“ Nachdem er die Verblüffung in Razzuns Gesicht genossen hatte, brach er wieder in schallendes Gelächter aus, warf eines der kleinen Kissen nach dem Arzt und rollte auf der Couch hin und her. Sogar die Tränen waren ihm beim Lachen gekommen und nachdem er sie fortgewischt und sich wieder ein wenig gefangen hatte, nahm er seine alte Position wieder ein.
„Wirklich, Arzt, du hast Humor.“
„Razzun.“ Er war während des Kauens kaum zu verstehen. „Ich habe einen Namen. Arzt ist mein Beruf.“
Eine der Bedienungen ging in Deckung und Qwerlin betrachtete Razzun mit Nachdruck, dann lachte er glucksend. „Du hast einen gefährlichen Humor, Razzun. Gefährlich für deine Eingeweide, meine ich. Wenn du wirklich bleiben willst, dann solltest du etwas über uns Lin lernen.“
„Ich bitte euch ... Ich bin vor nicht einmal zwei Stunden hier angekommen, musste fast nackt durch die Stadt humpeln und sitze hier, in einen Vorhang gehüllt, weil ihr mich – den Göttern sei Dank - empfangen habt. Was hätte ich da wann lernen sollen? Einzig euer Neffe hat mir dies und das erzählt.“
„Jajaja. Firfin ist ein guter Junge. Viel zu gut ... für einen Lin meine ich. Auf der anderen Seite kann ich ihm trauen, was ich nicht von allen hier Anwesenden behaupten möchte!“ Beim letzten Satz hatte er die Stimme vernehmlich angehoben und zog damit auch einige Blicke auf sich. Denen, die sich so angesprochen fühlten, wurde von dem Alten zugeprostet, da er sich in der Zwischenzeit natürlich wieder neuen Wein hatte bringen lassen. „Nun werden wir sehen, ob deine Sachen gewaschen und gereinigt und dein Reittier zufriedenstellend versorgt wurde. Bleglin hat sich dabei sicherlich wieder selbst übertroffen.“
Qwerlin winkte drei Gestalten heran, die in einer der dunklen Ecken kaum aufgefallen waren und sich auch nicht an dem Gelage beteiligten. Razzun schätzte sie als eine Art Leibwache ein. Der Alte versorgte die drei mit allen notwendigen Informationen und wies dann zur Tür. Kommentarlos drehten sich zwei der drei ganz in schwarz gekleideten Lin um und gingen los, während die dritte den Arzt genau musterte. Erkannte Razzun da das fein geschnittene Gesicht eines Jungen oder einer weiblichen Lin im Schatten der Kapuze?
Er nickte jedenfalls freundlich, schließlich sollten die drei seine Sachen zurückholen. Und wenn er die Geschichte mit den Straßen und wem hier was gehört richtig verstanden hatte, die Kleidung und die raubtierhafte Gangart der drei Schwarzen richtig einschätzte, würde Bleglin erstens über den Besuch sicher wenig erfahren und zweitens nicht begeistert sein, sobald er es mitbekam und drittens konnte es durchaus sein, dass er gar nichts bemerkte, sondern ihm etwas widerfahren würde. Wer konnte das schon so genau wissen?
Sehen Sie? So schnell lernt man sich anzupassen ... Zumindest Razzun. Ob Sie es können, steht natürlich auf einem ganz anderen Blatt Papyrus; allerdings kann Ihnen dies auch herzlich egal sein, wenn Sie sowieso nicht nach Dahenn kommen. Auf der anderen Seite frage ich mich natürlich, wie Sie erfahren haben, dass Razzun ... Na egal, die Wege der Informationen sind seltsam und nicht nachvollziehbar. Und ganz ehrlich, wer will dies auch schon!? Es sollte auch Ihnen nicht entgangen sein, dass Razzun scheinbar eine ganz besondere Ausstrahlung besitzt. Na gut, Bleglin hat das nicht erkannt, aber was will man von einem gewöhnlichen Straßenbanditen schon erwarten ... Ich sage Ihnen, hier bahnt sich etwas an, seien Sie bloß froh, dass Sie nicht gerade auf dem Weg hierher sind. Was? Sie sitzen in einem der Wagen der nächsten Karawane? Na dann viel Vergnügen!
Die schwarz gewandete Gestalt schenkte - zumindest aus dem Schatten der schwarzen Kapuze heraus - dem Arzt ein Lächeln und nickte kurz zurück, dann verabschiedete sie sich von ihrem Auftraggeber und war nach wenigen Schritten irgendwie in der Menge verschwunden. Mit einem Grad an Bewunderung, den nur jemand aufbringen kann, der ebenfalls seine Arbeit liebt und über alles stellt, sah Razzun ihr nach und er war sich nach dem direkten Blickkontakt ziemlich sicher, dass es eine Lin war, die sich unter der Kapuze verbarg.
Jemand tippte bereits seit geraumer Zeit auf Razzuns Schulter, der noch immer auf den Punkt starrte, wo eine schwarz gekleidete Gestalt sich inmitten farbenfrohen Treibens sozusagen in Luft aufgelöst hatte. „Razzun!!!“ Firfin brüllte dem Arzt ins Ohr und dieser fuhr erschrocken herum. „Die Daykîn sind tabu. Auch wenn es keine Lin sind ... Verstehst du? Tabu!“
„Sie ist keine Lin?“ Razzun blickte den neben ihm stehenden Firfin erstaunt an. „Ich meine ...“
„Hör zu“, zischte der Junge ihn an und beugte sich näher zu seinem Ohr. „Du könntest dich genau so gut direkt mit dem Tod anfreunden. Daykîn sind tabu. Denk einfach nicht drüber nach.“
Ich sagte es doch ... Da haben wir den Salat! Welches Stichwort hätte Razzun denn noch gebraucht: Keine Lin! Tabu!
Die Festivitäten im Hause gingen weiter und Razzun wurde sozusagen herumgereicht. Zahllose Lin hörten sich verschiedene Male seine Geschichte an und ließen sich negativ über Bleglin und seine Bande aus und es entbrannte eine öffentliche Diskussion, ob man ihm nicht seinen Einzugsbereich entziehen sollte oder ihn zumindest eines Körperteils zur Strafe entledigen sollte. Außerdem gab es – sozusagen im gleichen Aufwasch –auch noch Kritik an zahllosen anderen Banden, Beauftragten und Bevollmächtigten und selbstverständlich ganz besonders in Bezug auf die nicht Bevollmächtigten.
Razzun hatte keinen Überblick mehr, wie viel Zeit verstrichen war, aber irgendwann zog Firfin ihn beiseite. „Komm mit“, sagte er knapp und wirkte ein wenig unwirsch. Der Arzt entschuldigte sich, halb trunken, von den um ihn herum sitzenden Lin und lief dem Junge hinterher.
Durch den Saal, in dem noch immer kräftig gefeiert wurde hinaus in die Halle, wo einige Lin herumlagen und ihren Rausch ausschliefen, über eine gewaltige Freitreppe in die erste, zweite dann dritte Etage , durch einen langen Gang, der nur spärlich von kleinen Lampen erhellt wurde und bis zu einer blauen Türe, vor der Firfin dann stehen blieb. Er drehte sich um und die Missbilligung in seinem Gesicht war deutlich zu sehen. „Razzun, ich sage es nur ungern, aber das gefällt mir nicht ...“ Dann klopfte er in einem abgesprochenen Intervall an die Türe und ging davon.
„Was?“ Razzun dröhnte noch der Kopf von dem Lärm in der Halle, aber jetzt kam er auf Grund diverser alkoholischer Getränke auch so nicht mehr ganz mit. Dann ging plötzlich die Tür auf und er blickte in einen abgedunkelten Raum, der lediglich durch das knisternde Kaminfeuer und kleinere Kerzen erhellt wurde. Mit einem Seufzer trat er ein und die Tür schlug hinter ihm zu. Er drehte sich um, konnte aber niemanden entdecken und so wanderte sein glasiger Blick wieder durch den Raum. Er blieb auf einem kleinen Haufen haften, der offensichtlich aus seinem Reisegepäck bestand und ein Lächeln huschte über sein Gesicht.
„Deinem Ribbu geht es gut, wir haben es versorgt.“ Die Stimme war eher ein diffuses Flüstern als wirklich vorhanden und Razzun konnte auch nicht erkennen, aus welcher Richtung sie kam. Trotzdem drehte er sich langsam um, konnte aber niemanden ausmachen. Als er wieder in die Richtung seiner Sachen blickte, stand etwa zwei Schritte vor ihm eine schwarze Gestalt, die Kapuze zurückgeschlagen und langes grünes Haar fiel bis weit über die Schultern herunter. Zwei leuchtende Augen funkelten ihn an und ein Lächeln lag auf dem Gesicht einer Elfin, die den Arzt aufmerksam, wenn nicht bohrend, musterte. Er machte einen Schritt auf Sie zu, doch mit einer kaum merklichen Bewegung hielt sie eine kurze gebogene Klinge in der Hand.
„Keinen Schritt weiter ...“ Die Stimme war eher ein Raunen und kaum vernehmlich, dennoch lag ausreichend Druck in den Worten ihn von jeder weiteren Bewegung abzuhalten. „Ich bin Daykîn.“
„Jaja, und tabu.“
„So sagt man ...“ Hörte er da einen Unterton? Das Messer war schon wieder wie durch Zauberhand verschwunden. „Deine Sachen!“ Die Daykîn drehte sich um und schien eher über dem Boden zu schweben denn zu gehen. Kein Geräusch verursachte ihre Kleidung oder eine ihrer Bewegungen. Razzun war sich sicher, dass sie sich im Raum auch hätte aufhalten können, ohne dass er sie je bemerkt hätte. Also ging er zu seinen Sachen, den Blick auf die Daykîn gerichtet, die sich etwa zwei Schritte weiter auf dem Boden niedergelassen hatte.
„Hat Bleglin sich entschuldigt?“ verlangte Razzun zu wissen, während er in seinen Besitztümern stöberte.
Würde der Mann sich auskennen, hätte er eine Daykîn nicht so etwas gefragt. Haben Sie gewusst, dass die Daykîn ... Na, aber sehen Sie doch einfach selbst. Besser, Sie bleiben dabei in der düstersten Ecke des Raumes in dem Sie sich gerade befinden! Es heißt, die Daykîn sehen auch dorthin, wo sie selbst gerade nicht sind.
Die Elfin lachte leise, aber herzlich, und als sie sich beruhigt hatte betrachtete sie den Arzt genauer und legte dabei den Kopf schief. Hätte Razzun sich nicht an das Messer erinnert, wäre er ihr vor Freude um den Hals gefallen. Und wahrscheinlich auch noch aus ganz anderen Gründen ...
„Du hast einen gesunden Humor, Arzt! Ich habe schon lange nicht mehr so gelacht.“
„Darfst du überhaupt mit mir reden? Übrigens, mein Name ist Razzun, nicht Arzt!“
Das Lächeln entschwand wieder aus ihrem Gesicht, so schnell wie es gekommen war. „Ich entscheide selbst mit wem ich rede oder nicht!“ Da schwang ein bedrohlicher Unterton in ihrer Stimme mit, der Razzun gar nicht gefiel.
„Entschuldige.“ Er hob abwehrend die Hände. „Ich wollte dich nicht beleidigen, ich versuche lediglich herauszufinden, mit wem ich es hier zu tun habe.“
„Wäre es anders, wärst du schon lange tot“, murrte die Elfin und ließ sich elegant auf einem Hocker neben Razzuns Sachen nieder. „Willst Du nicht nachsehen, ob auch alles da ist?“
Razzun fand sein Lächeln wieder. „Ich denke, dass Bleglin und seine Sippschaft nicht sehr viel mit den Sachen anfangen konnten. Außerdem ist ihnen ja auch kaum Zeit geblieben, einen genaueren Blick darauf zu werfen.“
„Und sie werden auch nie wieder die Zeit finden einen Blick darauf zu werfen ...“
Razzun seufzte und ging zu dem Stapel hinüber. „Na ja, und die Daykîn haben wohl keinerlei Verwendung dafür, stimmt’s?“
Die Elfin beobachtete jede seiner Bewegungen genau und legte den Kopf wieder ein bisschen schief.
„Sag mir, Ar ... Razzun!, wie kommt ein Arzt auf die Idee nach Dahenn zu gehen? Ich meine, wie kommst du auf den Gedanken, alleine hierher zu kommen?“
„Ha ... na ja, ich dachte mir halt, dass hier ein Arzt gebraucht würde. Da habe ich meine Sachen gepackt und ... Was?“ Er sah de Daykîn fragend an, deren Gesicht sich zu einer grinsenden Grimasse verzogen hatte und die mit den Zeigefingern auf die spitzen ihrer Ohren wies. „Die Ohren der Daykîn sind länger und reichen weit, Razzun. Dir ist ein kleines Missgeschick widerfahren und eine wichtige Patientin unter den Fingern weggestorben. Tstststs ...“
Sie lächelte ihn jetzt ganz offen an und weidete sich an seiner Verblüffung. Langsam erhob sie sich, ging zu dem lodernden Feuer im Kamin und betrachtete einen Augenblick die Flammen, Dann drehte sie sich wieder um und setzte sich auf die Couch.
„Du bist ein schlechter Lügner, Razzun, aber nach allem was man so hört ein exzellenter Arzt. Etwas, was wir hier ganz gewiss gut gebrauchen können.“ Sie erhob sich wieder und kam mit leicht schlenderndem Gang auf den Arzt zu, den Blick auf den Boden gerichtet. Nur eine Hand breit vor ihm blieb sie stehen und sah ihm direkt in die Augen. "Etwas, das die Daykîn sehr zu schätzen wissen ... Arzt!“ Ihre Stimme war jetzt nur noch ein Flüstern.
So in direkter Nähe der Elfin fühlte sich Razzun plötzlich sehr unsicher, etwas, was ihm zuvor in weiblicher Gesellschaft nie passiert war.
„Ich ... äh ... sicher.“ Er tat vorsichtig einen Schritt zurück. „Hör mal, da die Daykîn tabu sind, solltest du wenigstens so nett sein, mich nicht so zu bedrängen. Ich meine ...“ Die Elfin sah für einen Augenblick verblüfft aus, dann lachte sie laut los und drehte sich um.
„Entschuldige, Razzun“, sie nahm kurz beide Hände vor das Gesicht. „Ich wollte dich nicht ... bedrängen ... Wirklich nicht. Ich zeige dir wovon ich rede.“ Sie zog den linken Handschuh aus und hielt ihm den Arzt entgegen. Razzun nahm den federleichten Stoff in die Hände und blickte ihn verblüfft an. Etwas Ähnliches hatte er noch niemals gesehen, geschweige denn in Händen gehalten. Mit vor Schmerz verzerrtem Gesicht krempelte sie den Ärmel hoch und Razzun sah eine entzündete Wunde am Unterarm. „Es heilt nicht ...“, meinte sie. „Ich habe so ziemlich alles versucht, aber es heilt einfach nicht.“
Ganz der Arzt ging Razzun natürlich sofort auf sie zu. „Zeig mir das mal!“ Und schon langte er nach ihrem Arm und sah sich, bevor er auch nur in die Nähe kam, mit einem Messer konfrontiert, das unterhalb seines Brustbeins angesetzt war. „Hör mal ... um, wie heißt du überhaupt? Ich kann dir nicht helfen, wenn ich die Wunde nicht untersuchen kann. Bedeutet das Tabu, dass ich dir nicht einmal helfen darf?“
„Daykîn werden nicht verletzt. Das bedeutet soviel wie, dass sie ihren Auftrag nicht korrekt ausgeführt haben. Wenn das hier jemand sieht oder davon erfährt ...“ Sie machte eine eindeutige Geste mit dem Daumen am Hals vorbei.
„Großartig!“, maulte Razzun. „Niemand darf es wissen, weil es eigentlich gar nicht geschehen darf, aber es tut natürlich trotzdem weh. Außerdem wird sich die Entzündung weiter ausbreiten und irgendwann fällst du einfach um. Anfassen darf ich dich nicht, weil du Daykîn bist, aber trotzdem möchtest du meine Hilfe?“ Er schüttelte den Kopf. „Du musst dich schon entscheiden.“
Plötzlich ging hinter Razzun die Tür auf und Stimmen waren zu hören. Der Arzt drehte sich schnell um, versteckte den Handschuh in seiner Faust und schluckte, als er Firfin und seinen Onkel in der Tür sah.
So, jetzt haben wir also den Salat! Sie werden es sich schon gedacht haben, dass das nicht lange gut gehen kann, richtig? Seien Sie ganz ehrlich, eigentlich haben Sie es den beiden ja gegönnt, sich ein wenig näher zu kommen und außerdem ... Heh! Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass Sie einen Blick hinter die Couch hätten werfen dürfen? Die Daykîn hätte Sie ganz sicher bemerkt und eine Rasur mit schlechtem Augenmaß vorgenommen. Wollen doch mal schauen, wie das hier weiter abläuft. Gratulation übrigens, bisher haben Sie sich ganz gut gehalten, dafür, dass Sie das erste Mal hier spionieren!
Qwerlins Auge ruhte sofort auf einer schwarz gekleideten Gestalt, die er schräg hinter dem Arzt wahrnahm.
„Die Daykîn haben mir meine Sachen zurückgebracht“, sagte Razzun voll ehrlicher Freude und zeigte mit dem Daumen der freien Hand nach hinten. „Die drei sind echte Klasse! Und es hat ja nicht einmal lange gedauert. Bleglin wird sich ganz sicher fürchterlich aufregen. Ich denke, ich werde ihn und seine Sippe wohl nicht als Kunden gewinnen können.“ Er zog kurz die Schultern in die Höhe, dann drehte er sich um und sah die Elfin, die bereits ihre Kapuze wieder übergezogen und den Ärmel nach unten gezogen hatte. Den fehlenden Handschuh kaschierte sie geschickt mit gekreuzten Armen.
Qwerlin marschierte sofort zu dem Stapel an Sachen, dann sah er die Daykîn an. „Wo sind die anderen?“
„Beschäftigt.“
„Womit?“ Qwerlins Auge wurde schmaler und sein Blick bohrender. Die Elfin ließ sich davon nicht beeindrucken und zuckte nur mit den Schultern. „Ihr seid nicht der Einzige in Dahenn, der auf unsere Dienste zurückgreift.“
„Aber ich bin der Einzige, der speziell auf deine und die Dienste der beiden anderen zurückgreift!“ Qwerlin schien langsam die Beherrschung zu verlieren. „Und genau deshalb würde ich gerne wissen, wo die beiden gerade sind!“
„Vermutlich sind sie mit meinem Ribbu beschäftigt“, meinte Razzun. „Immerhin war es eine Menge Zeug, das ich dabei hatte und die Ribbus müssen ja auch noch versorgt werden. Ich denke nicht, dass Bleglin ...“
„Das reicht!“, brüllte der alte Lin und musterte Razzun mit hochrotem Kopf. „Diesmal lass ich dir das noch durchgehen, aber fall mir nie wieder ins Wort oder misch dich in ein Gespräch ein! Ist das klar?“
„So klar wie frisches Wasser“, entgegnete der Arzt. „Entschuldigung.“
Ohne einen weiteren Kommentar drehte sich Qwerlin um und verließ den Raum, Firfin wedelte nur mit der Hand. „Das war knapp“, sagte der jüngere Lin. „Der Alte war kurz davor zu explodieren.“
„Ach wirklich?“ Razzun klang wenig überrascht.
Firfin warf einen Blick an Razzun vorbei zu der Daykîn und schien einen Augenblick verwirrt zu sein. Dann kam er langsam auf die beiden zu. „Habt ihr noch etwas zu besprechen?“
„Wer?“ Razzun drehte sich um und sah kurz zu der vermummten Gestalt hin. „Wir?“
„Wer ist denn sonst noch in dem Raum?“, fragte Firfin voller Neugier.
„Lass den Blödsinn, Firfin!“ zischte die Daykîn böse. „Verschwinde!“
Der Lin zog die Brauen hoch und griff sich den Arzt am Arm.
„Hör mal, Razzun“, meinte Firfin und ein leicht gereizter Ton schlich sich in die Stimme ein. „Mach keinen Fehler. Daykîn sind tabu, ich meine, sie sind absolut unantastbar! Nicht mal im Scherz oder sonst darfst du einen Daykîn berühren.“ Dann sah er zu der Elfin hinüber. „Nicht einmal, wenn sie es erlauben. Nicht einmal sie ...“
Razzun wirkte jetzt ebenfalls gereizt. „Sag mal, was soll das überhaupt? Eben waren noch alle drei hier, um mir meine Sachen zurückzubringen, jetzt ist nur noch diese Daykîn hier, weil die sowieso kommen und gehen wie es ihnen passt, und schon werden wir schief angesehen. Wir sind lediglich die Sachen durchgegangen, um zu sehen, ob dieser Bleglin in der Zwischenzeit bereits etwas Wichtiges beiseite geschafft hat.“
„Jaja, schon gut“, murrte Firfin und wandte sich zur Tür. „Ich habe dich gewarnt.“ Dann marschierte er hinaus und schlug die Tür hinter sich zu.
„Das war knapp“, sagte Razzun und wischte sich die Stirn ab.
„Den Handschuh!“ Die Elfin hielt dem Arzt die offene Hand entgegen. Razzun hielt ihn hoch und musterte ihn einen Augenblick, dann schloss er die Hand wieder darum. „Nein!“
„Was?“ Ein Funkeln trat in die Augen der Elfin. Unter dem Schatten der Kapuze sah dies gespenstisch aus.
„Nein! Erst wenn du den Arm behandeln lässt, bekommst du den Handschuh zurück.“ Razzun versuchte nachdrücklich zu sein und dem Blick seiner Gegenüber nicht auszuweichen. Allerdings gelang ihm dies nicht sonderlich lange und er trat einen Schritt zurück, nur um festzustellen, dass die Daykîn bereits vor ihm stand und ihn mit festem Griff an einer sehr unangenehmen Stelle festhielt.
„Den Handschuh! Sofort!“, zischte sie wütend.
„Daykîn werden wohl in allen Disziplinen gut unterrichtet“, murrte Razzun, „bis auf Höflichkeit.“
Wortlos entriss sie ihm den Handschuh drehte sich um und verschwand in einer dunklen Ecke des Raumes. Razzun machte sich nicht die Mühe nachzusehen, ob sie noch dort war. Wahrscheinlich waren diese Häuser voller geheimer Gänge. Seufzend setzte er sich auf die ausladende Couch, legte sich dann hin, um wenig später in einen langen Schlaf zu fallen, der durch Träume der unterschiedlichsten Art gestört und auch gefördert wurde. Ein bestimmtes Gesicht kam immer wieder darin vor ...
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