Der Arabische Frühling
Rechts links, wieder rechts, jetzt der Zaun, klettern und springen, jetzt nur nicht aufgeben, nur nicht zurückblicken. Er spürte wie dutzende Gewehrläufe auf ihn gerichtet waren, wie die Soldaten vielleicht in diesem Moment den Abzug ihrer Schnellfeuerwaffen betätigten.
Doch diesmal würde er entkommen, er musste einfach entkommen. Die Welt um ihn herum schien den Atem anzuhalten und zu verharren, er war der Erhabene. Nichts als Söldner waren die Soldaten in seinem Nacken, gefühllose Maschinen, dazu bestimmt, Unschuldige zu töten. Aber nicht ihn, nicht heute, nicht in dieser Nacht.
Seine geschärften Sinne und das Adrenalin, das durch seinen Körper jagte ließen ihn seine Umgebung wie in Zeitlupe wahrnehmen.
Er sah wieder alles vor sich, klarer als er es jemals gesehen hatte. Da war diese Kammer, grau, spartanisch, trostlos. Ein Tisch, lustlos in die Mitte des Raumes gestellt, Stapel von Papier darauf, gegenüber der Tür Ketten an der Wand, dunkle Flecken darunter. Ein Verlies? Eine Folterkammer? Nein, das konnte nicht sein! Er verharrte auf der Schwelle, ein Stoß von hinten, der Boden raste auf ihn zu, Schwärze, in weiter Ferne das Zuschlagen einer Tür.
Schlagartig kehrte er zurück in die Gegenwart, als das dumpfe Dröhnen der Maschinengewehre ertönte. Nein, so durfte es nicht enden!
Schlagartiges Erwachen, ein Schwall Wasser traf ihn wie ein Schlag ins Gesicht, vor ihm drei Stiefelpaare, blankgeputzt und poliert. Er wurde von zwei Armen gepackt und hochgerissen.
Da rechts, der Felsen, er würde ihm Schutz bieten. Zwei Meter, ein gewagter Hechtsprung, Die Kugeln schwirrten über ihn hinweg. Plötzlich aggressives Summen, Hubschrauber! Lichtkegel, akkurat, beinahe pedantisch den Boden absuchend.
Er musste hier weg, nicht um seinetwillen.
Die Bilder rauschten vor seinem inneren Auge vorbei.
Die Ketten schlossen sich um seine Handgelenke, gleißend weißes Licht, geblendet kniff er die Augen zusammen.
Ein wohltuender Schatten, auf ihn zu rasend, Dunkelheit. Unsanftes Erwachen, schmerzendes Gesicht, um ihn herum, alles weiß, das Licht verschlang alle Details. Schemenhafte Gestalten an der Tür, eine schneidende, tiefe Stimme riss ihn aus seinen Gedanken: „Sagen Sie uns, wo sie ist!“
Die Kugeln prasselten ununterbrochen gegen den Stein, die Lichtkegel bewegten sich auf ihn zu. Er war nicht länger sicher. Zu seiner linken lag sein Ziel: Der Fluss.
60 Meter offenes Gelände: zu gefährlich!
Verharren: zu gefährlich!
Eine Baumgruppe vor ihm, 15 Meter, dazwischen: Lichtkegel, hastig, wild suchend.
Sie! Hatte sie sich retten können? Hatte sie es zum Treffpunkt geschafft? Er würde sie nicht verraten. „Das hier ist alles vorbei, wenn Sie kooperieren!“ Nein, er würde schweigen. Er hatte gesehen, wozu die fähig waren, er würde keinen Menschen an sie ausliefern.
Die Tür fiel zu, Stille. Oder nicht, irgendwo tropfte Wasser, unerbittlich, beständig, trocken.
Er musste es versuchen, 15 Meter, er war ein guter Sprinter. Licht, er war entdeckt. Adrenalin jagte durch seine Adern. Er lief los, ein Gewitter brach über ihm los, tödliche Blitze begleitet von tosendem Donner. Dort, die Baumgruppe, man hatte ihn verloren, er musste weiter. Er umklammerte ihre Akte fester. 50 Meter bis zum Fluss.
Schlaflos, seit über 70 Stunden, er hatte aufgehört zu zählen. Wurde das Licht dunkler? Er schloss die Augen, aber das Schreien des Wassers ließ ihn nicht einschlafen.
Plötzlich, so laut wie der Start eines Kampfflugzeuges, wurde die Tür aufgerissen.
Schreie: „Nein!, Hilfe!“, alles war ihm egal, er wollte nur noch schlafen. Doch plötzlich war sie da, plötzlich stand sie vor ihm. Kastanienbraunes Haar, dunkelbraune Augen, eine Schönheit der Natur und doch furchtbar. Fürchterlich hatte man sie zugerichtet. Völlig ausgetrocknet, ermüdet. Blaue Flecken an allen Stellen, ganze Haarbüschel fehlend, die linke Augenbraue versengt. Wie lange war sie schon in Gewahrsam, wer hatte ihr das angetan?
Und doch: ein Lächeln in ihrem Gesicht,als sie ihn sah. Ihre Lippen formten stumm Worte der Dankbarkeit.
Er rannte los, er musste die Öffentlichkeit informieren, musste sie retten. Noch 40 Meter. Gleißend helles Licht, er wurde unwillkürlich an seine Zelle erinnert. Erneut ein Gewitter aus Blei. Man wollte ihn um jeden Preis aufhalten. Der Boden raste unter seinen Füßen hinweg. Noch 20 Meter, in einer Sekunde würde er den Fluss erreichen. Schon setzte Er zum Sprung an, presste ihre Akte an sich und spürte die Wogen über ihm zusammenschlagen.
Wie Sternschnuppen zischten die Kugeln an ihm vorbei. Er musste auftauchen, er hatte keine Wahl. Ihre Akte war vom Wasser zerstört, er hatte versagt.
Oder doch nicht? Hatte er seine Peiniger am Tag zuvor nicht belauscht, wie sie über landesweite Aufstände sprachen? Ausgelöst durch ihn? Sein Volk, das sich gegen die Diktatur auflehnte. Nein, er hatte nicht versagt. Schon bald würde man ihn und sie als Helden feiern. Und während vor seinem inneren Auge Bilder vorbei rauschten, begann er aufzutauchen. Da sah er sie wieder, in ihrer alten Schönheit, er sah die Schreckensherrschaft seiner Regierung, er sah seine Festnahme, er sah wie sie vor ihm stand in seiner dunkelsten Stunde und ihm ein Lächeln schenkte, beinahe konnte er sogar die Menschenmassen sehen, die in eben jenem Moment die Regierungsgebäude stürmten.
Nein, er brauchte den Tod nicht zu fürchten. Man hatte ihn in den vergangenen Wochen durch Folter erniedrigt, seiner Würde beraubt und zu einem Tier gemacht.
Doch trotz allem war er immer ein freier Mann gewesen. Niemand hatte ihn dazu zwingen können, die gewünschten Informationen herauszurücken, niemand hatte ihn seiner Freiheit berauben können. Er war stets Erhaben gewesen und das erfüllte ihn mit Stolz.
Er tauchte auf. Die Kugeln prasselten wie Hagel auf ihn nieder. Er wurde getroffen, ins Bein, in die Brust, in den Bauch. Das Wasser färbte sich blutrot, doch er spürte keinen Schmerz. Auf seinem Gesicht breitete Sich ein Lächeln aus. Niemand würde ihm jemals wieder seine Freiheit rauben.