Der Apfelbaum, der keine Äpfel tragen wollte
Der Mensch ist schon ein seltsames Wesen, so wie er gegen Tier und Pflanze lebt, dachte der Apfelbaum, als er den Hang, der sich schon immer vor dem Apfelbaum ausgebreitet und das Dorf, das schon immer im Tal gelegen hatte, beobachtete. Die Sonne verbarg ihr Gesicht hinter fernen Bergen und färbte den Hang in feuriges Rot, die Äpfel brannten zwischen den Blättern weit und reif. Dieses umgebende Glühen steckte den Apfelbaum an, er fühlte eine wundersame Wärme aufsteigen, sie begann in den äußersten und tief im Erdreich klebenden Wurzelspitzen, bahnte sich einen Weg über die zu Tausenden mäanderförmig zusammen findenden Wurzelarme zum Stamm. Und auch der Stamm füllte sich mit Wärme, von innen nach außen, von unten nach oben, um dann über die breiten, mächtigen Äste ins kleinste zarte Geäst vorzudringen. So umgab ihn die Wärme, erfüllte ihn. Und er gab eine so lange gehütete und aufgezogene Frucht frei, sie fiel herunter, landete sanft im Gras. Der Apfelbaum wusste, dass für diesen Apfel die Zeit reif war, er hatte ihn viel Kraft gekostet und nun war er ein stolzes Feuer im grünen Hang.
Es dauerte nicht lange, bis er die ersten Menschen den Hang hinaufsteigen sah. Um diese Jahreszeit schlichen sie gern hinaus, hinauf zu ihm. Ein junges verliebtes Pärchen setzte sich unter seine Krone, tollte herum in seinem Schatten, stahl ihm eine Frucht, verzehrte sie feurig und trieb geheime Spiele hinter seinem Rücken. Er konnte sich doch nicht wenden, um den Verliebten Bäumisches zuzuflüstern, er besaß keinerlei Gelenk; statt dessen genoss er den Anblick der Landschaft, die sich kaum wandelnde, nun erfüllt von weither getragenen Vogelrufen und Antworten der nahen Verliebten, er sah die beiden vertrauten Berge zur Linken, so völlig überwuchert mit Wald und Sträuchern, saftig, grün, dass sich das Tal seinen forschenden Blicken entzog, aber ein Fluss gewährte ihm Einblick: Klar und weiß schimmerte er dem Himmel entgegen und ähnelte dem Himmel, als wollte er, die Erde durchfließend nur ihm entgegen schießen und wüsste nicht recht, wie er es anstellen sollte, so hatte sich der Fluss mit seinem ewigen Schimmern und Spiegeln zu begnügen und endlos zwischen die Berge zu fließen ins verborgene Tal, immer dem Himmel entgegen, um ihn eines Tages voller Genuss zu erreichen. Stille breitete sich aus, die Zeit selbst ruhte ein wenig und beinah wäre der Apfelbaum durch die Ruhe angesteckt dösend eingeschlafen, hätte er in seiner Seite nicht plötzlich kleine schmerzende Stiche verspürt. Der Junge schnitzte mit einem Messer in die Haut des Apfelbaums. Der Apfelbaum spürte jeden einzelnen Schnitt, frische Rinde brach ab und landete zwischen den Gräsern. Er kannte diese Stiche bereits, vor langer Zeit hatten es zwei Liebende diesen hier gleich getan. Er konnte sich dieses sonderbare Verhalten nicht erklären, weshalb nur schnitt der Mensch den Apfelbaum? Diese beiden Verliebten würden vermutlich, wie schon die vielen vorherigen, noch einige Male hier her finden, um mit ihrer Hand über die dann entstandene Narbe zu streichen, es würde dann vermutlich salziges Wasser herab regnen, aber letztendlich würde der Apfelbaum auch diese zwei nie mehr wieder sehen; so war es fast immer.
Die Sonne zeigte sich immer weniger, es wurde immer kühler, der Apfelbaum ermüdete mehr und mehr, Äpfel trug er schon längst nicht mehr und auch sein Haar war schon ganz schütter geworden; er wollte schlafen, sich der Ruhe hingeben und schlafen. Er schloss also die Augen und schlief sogleich ein. Er spürte seinen Körper kaum mehr, als sei er verloren in einem zeitlosen stillen Raum. Der Apfelbaum hatte einen Traum: Er sah die Landschaft untergehen in einem leuchtenden Weiß, die Erde wurde leise, hüllte sich in Schweigen und selbst die Nacht zeigte ein Leuchten und wurde zum Tag; so folgte dem Tag der Tag. Der Apfelbaum erkannte die Nacht nur, weil ihr Leuchten verschieden war, nicht Weiß sondern eher ein Blau herrschte in ihrem Glanz. So ging der Traum immerfort, ein Wechsel von Tag auf Tag, weiß blau weiß.
Die Sonne ging auf, weckte das Land mit warmen Küssen und der Apfelbaum erwachte aus seinem tiefen Schlaf. Er sah das Dorf, in sich ruhend, die beiden Berge, in neuem Grün, dazwischen der Fluss, immerzu schimmernd seinem Ziel entgegen, wieder hatte sich nur Weniges verändert, zwei neue Häuser bereicherten das Dorf, der Wald auf einem der Berge, es war der auf der rechten Seite des Flusses, schien ein wenig hoch gerückt, am Fuß dieses Bergs nämlich machte sich nur Grasland breit, Tiere liefen da herum, Kühe, meinte der Apfelbaum zu erkennen. Zwar waren es stachelige Tannen, die da auf dem Berg lebten, nicht so schön belaubt wie der Apfelbaum es war, trotzdem waren sie ja Bäume, Jahrhunderte alt, einige älter als der Apfelbaum selbst und der Apfelbaum sorgte sich ein wenig; wie die Tannen wohl verschwunden waren? - »Nja, nja, ich flog kurz weg und als ich kam, war meine Tanne verschwunden.«, hörte der Apfelbaum. Weil er so sehr in seine Gedanken versunken war, hatte er überhaupt nicht den Specht bemerkt, der auf einem seiner Äste saß. »Nja, nja, die Dorfmenschen da im Tal hatte ich schon einige Tage vorher bemerkt, nja, ich meine, ich bemerkte, wie sie begannen, einige Tannen am Waldrand zu essen.« Zu essen? Das verstand der Apfelbaum nicht recht. Aßen Menschen denn Bäume? Bisher hatten die Menschen lediglich die Früchte des Apfelbaums gegessen, sein Holz hatte noch niemand probiert. »Nja, die kamen und hauten die Bäume um, nja, dann zerpickten sie sie in mundgerechte Stücke und aßen sie dann, nja.«. Seltsam war das schon, aber vielleicht zählten sie ja durch einen erlesenen Geschmack zu den Delikatessen. Bei Gelegenheit musste er sich bei einer der Tannen unbedingt erkundigen. Wenn sie denn redeten! Tannen waren sehr mundfaul und schwiegen die ganze Zeit über, sodass da überhaupt kein Gespräch zustande kommen konnte. »Mein Nest war in dem Baum«, sagte der Specht noch, bevor er davon flog. Der Apfelbaum dachte sehr lange über diesen Vorfall nach.
Es wurde heiß, es wurde Zeit für Äpfel. Früchte, Pärchen, Stiche.
Die Sonne zeigte sich immer weniger, es wurde immer kühler, der Apfelbaum ermüdete mehr und mehr, Äpfel trug er schon längst nicht mehr und auch sein Haar war schon ganz schütter geworden; er wollte schlafen, sich der Ruhe hingeben und schlafen. Ein stiller Raum, ein Traum, Tag auf Tag, weiß blau weiß.
Die Sonne ging kaum auf, schüttelte das Land mit donnernden Küssen. Der Apfelbaum wunderte sich, warum das Land in so eine Dunkelheit getaucht war. Immer wieder blitzte und donnerte es, aber dieses Blitzen und Donnern, noch lauter, noch blendender, kam nicht aus den Wolken, es fand am Boden statt. Ein Gewitter, wie er es noch nie gesehen hatte, tobte da am Boden. Es blitzte überall, der wilde Donner beherrschte das Land in jedem Winkel, eine gefährliche, Tod bringende Herrschaft. Der Apfelbaum erkannte Vögel zwischen den schwarzen Wolken, Vögel, die, starr und schwarz, gemeinsam flogen; sie legten dort in der dunklen Höhe Eier, endlos taten sie das, und die Eier stürzten alle zu Boden, in den noch dunkleren. So etwas hatte der Apfelbaum noch nie in seinem langen Leben gesehen. Vögel, die ihre Eier in der Luft legten; der Nachwuchs würde den Sturz doch überhaupt nicht überleben, er würde auf den finsteren Boden aufschlagen und wäre tot, bevor er auch nur einen Atemzug Luft in sich geholt hätte. Die Luft stank. Sie stank nach Krankheit und Verwesung. Auf vielen Flächen brannte es, zur Herrschaft des Donners gesellte sich die des zehrenden Feuers hinzu. Voller Angst schloss der Apfelbaum seine Augen und Ohren.
Heiß wurde es nicht. Es wurde immer kühler, der Apfelbaum ermüdete mehr und mehr und auch sein Haar war schon ganz schütter geworden; er wollte schlafen, sich der Ruhe hingeben und schlafen. Ein donnernder Raum, ein Traum, schwarz rot schwarz.
Die Sonne ging auf, weckte das Land. Ruhe war eingekehrt. Die Stille beängstigte den Apfelbaum.
Es wurde heiß, es wurde Zeit für Äpfel. Früchte, Stiche.
Die Sonne zeigte sich immer weniger, es wurde immer kühler, Müdigkeit, keine Äpfel, schütteres Haar, Schlaf, Ruhe und Schlaf. Ein Raum, ein Traum, weiß blau weiß.
Die Sonne ging auf, weckte das Land. Das Land war wieder grün, ein dunkles Grün zwar, aber immerhin wieder grün. Der Apfelbaum sah vor sich einen Zaun; wie der wohl hier her gekommen war? Weitere Gedanken konnte sich der Apfelbaum darüber nicht machen. Er bemerkte ein Feuer auf einem der Berge in der Ferne beim Fluss. Es war der Berg linksseits des Flusses. Er brannte, riesige Flammen zerfraßen seine Haut. Wieder trifft es die Tannen, trauerte der Apfelbaum. Sie waren entfernte Verwandte, aber sie waren Verwandte.
Es wurde heiß, es wurde Zeit für Äpfel. Äpfel.
Immer weniger Sonne, immer kühler, Müdigkeit, Schlaf, Ruhe und Schlaf. Ein Raum, ein Traum, weiß blau weiß.
Die Sonne ging auf, das Land erwachte. Es grünte dunkelgrün. Der Apfelbaum schüttelte sich, verschlafen blickte er die Landschaft an. Sie war immer noch wunderschön. Das Dorf war gewachsen, eigentlich war es nun ein Städtchen. Auf dem Berg linksseits des Flusses thronte ein riesiges Gebäude. Die Tannen waren verschwunden, ein kahler Berg mit einem Menschenhaus war zurück geblieben. Vielleicht standen die Tannen ja auf der Rückseite des Berges.
Es wurde heiß. Der Apfelbaum wollte keine Äpfel mehr tragen. Er wollte nicht. Also wuchsen keine Äpfel in seiner dunkelgrünen Krone.
Immer weniger Sonne, immer kühler, Müdigkeit, Schlaf, Ruhe und Schlaf. Ein Raum.
Die Sonne ging auf, das Land war schon längst erwacht. Der Baum spürte Stiche tief in seinem Inneren, tief im Stamm. Er stöhnte laut. Es schmerzte.
Es wurde heiß. Es krachte laut. Der Stamm des Baums brach auseinander, er stürzte zu Boden und prallte hart auf. Viele Äste waren weg gebrochen. Der Baum lag im Gras, er hatte auch den Zaun herunter gerissen, und sah an seinem Stamm entlang. Aus dem Boden sah er einen Stumpf heraus stehen, seinen Stumpf. Harz floss aus allen Wunden, es würde nichts mehr helfen. Käfer krabbelten aus Stamm und Stumpf, es waren Tausende, sie knabberten an seinem Holz, die mundgerechten Stücke fraßen sie genüsslich, schlangen sie herunter. Der Baum lag auf eine Weise im Gras, dass er nun die Landschaft sehen konnte, die sich schon immer hinter ihm befunden hatte und die er nie hatte betrachten können. Jetzt sah er sie. Er hatte am Fuß eines Berges gestanden, aber er hatte nicht allein gestanden: Der ganze Berg stand voller Apfelbäume, alle standen sie schön in Reih und Glied. Ihre Äpfel leuchteten wie stolze Feuer im dunkelgrünen Hang. Menschen gingen durch die Reihen der Apfelbäume.
Die Sonne zeigte sich immer weniger, es wurde immer kühler, der Baum ermüdete mehr und mehr, Äpfel trug er schon längst nicht mehr und auch sein Haar war schon ganz schütter geworden; er wollte schlafen, sich der Ruhe hingeben und schlafen. Er schloss also die Augen und schlief sogleich. Er spürte seinen Körper kaum mehr, als sei er verloren in einem zeitlosen stillen Raum. Der Baum hatte einen Traum.