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Der Anruf
Ich atmete tief ein. Tief aus. Ein. Aus. Ein. Aus. Schloss meine Augen. Legte das Handy auf das Bett. Die Decke war ganz zerknittert. Ich strich es mit zittriger Hand glatt. Atmete tief ein, tief aus. Ganz still und heimlich schlich eine Träne aus meinem Auge. Sie rann so langsam und schnell zu gleich ohne einmal zu stoppen, oder einen Umweg zu nehmen. Sie mit der Hand wegzuwischen würde zeigen, dass ich weinte. Würde zeigen, dass ich schwach sei. Würde zeigen, dass ich etwas vermisse. Doch diese Genugtuung lies ich nicht zu. Ich atmete tief ein. Tief aus. Eine zweite Träne rann über mein Gesicht. „Sie werden trocknen."
45 Stunden und 18 Minuten zuvor.
„Guten Morgen Niedersachsen! Heute erreichen wir bis zu 15 Grad. Es wird tagsüber bewölkt sein. Vereinzelnd können Regenschauer Euch den Tag vermiesen. Man glaubt es kaum, aber gegen Abend kann sogar die Sonne rauskommen. Hoffen wir mal das Beste.“ Ich schmunzelte. Diese Nachrichtensprecher haben wirklich zu viel Traubenzucker intus. Es war Mitte Juli und alles andere als Sommer, Sonne, Sonnenschein. Mich störte das recht wenig. Ich mochte es nicht, wenn es zu warm war. Man würde ja ins schwitzen kommen und das mochte ich so gar nicht. Winter. Frühling. Das waren meine Lieblingsjahreszeiten. Im Winter scheint die ganze Welt in Frieden zu leben und im Frühling erlebt man eine Neugeburt. „Don’t go breaking my heart …“, kam es aus dem Radio. Wie passend, dachte ich und musste wieder schmunzeln. Die Radiosender wussten wirklich mit der Musik umzugehen. Ich schaute auf die Uhr. 5 Minuten waren vergangen. Zeit den Teebeutel rauszunehmen. Morgens brauchte ich immer meinen Chai Tee mit einem Schuss Milch. Bevor ich nach oben ging, schaltete ich noch das Radio aus. „Genug mit schmalzigen Songs“, sagte ich zu mir selbst.
In meinem Zimmer war es mittlerweile kalt. Sehr kalt. Nachdem ich beide Dachfenster zu zog, schnappte ich mir meinen Laptop und setzte mich auf mein Bett. Facebook, Twitter und Co. öffneten sich mit einem Mal. Drei neue Nachrichten, zwei „Gefällt mir“ und eine Freundschaftsanfrage. „DasVinci möchte mit Ihnen befreundet sein.“ Ich nahm einen großen Schluck. Einen vielleicht zu großen. Der Tee war vielleicht auch noch etwas zu heiß. Meine Augen wurden mit einem Mal groß und ich schnalzte mit der Zunge. Warum musste der Tee auch immer so heiß sein? Ich beförderte die Tasse vorerst, auf meinen kleinen Nachttisch, ins Aus.
Mein Handy vibrierte. Ich kratzte mich kurz an der Stirn und nahm das Handy um zu sehen, wer mir schrieb. Na super, dachte ich, nur Werbung von meinem Anbieter. Ich legte es wieder neben mich. Immer griff bereit, falls jemand schreiben würde.
Am rechten Bildschirmrand blinkte es. Neue Nachricht von Sirina. Ich stockte. Sirina? Was will sie denn? Widerwillig klickte ich auf den Brief.
Hey Cousinchen. Wie geht es dir? Schon lange nichts mehr von dir gehört. Dachte ich melde mich mal wieder bei dir. Was machst du denn so? Liebe Grüße von uns allen.
„… von uns allen“ Die letzten Wörter kann ich nur schwer glauben. Bestimmt nicht von allen. Von einer Person ganz bestimmt nicht. Nicht von allen. Nein. Vielleicht ein paar, aber bestimmt nicht von allen. Ganz besonders nicht von einer Person. Ich schüttelte den Kopf. Eigentlich wollte ich nicht antworten, aber ich tat es. Da sie sicherlich sah, dass ich online war.
Dein Cousinchen kannst du dir sonst wohin stecken. Ich bin nicht deine Cousine. Was ich mache oder wie es mir geht, interessiert dich doch eh nicht. Hat es das die letzten Jahre? Nein. Also lass mich in Ruhe und ihm kannst du ausrichten, dass er mich mal kreuzweise kann.
Das hätte ich gerne geschrieben. Doch ich tat es nicht. Stattdessen schrieb ich:
Hallo. Mir geht es sehr gut danke. Ach momentan sind Ferien. Da gibt es nicht viel zu tun. Grüße
Die Taste Enter schickte die Nachricht direkt an den Empfänger und ich hoffte, dass dieser auch ja nicht in Erwägung zog zu antworten. Ich wollte gerade offline gehen, als es wieder blinkte. Zu spät. Jetzt war ich an eine Unterhaltung gebunden. Ich biss mir auf die Lippe und überlegte kurz, ob ich nicht einfach offline gehen sollte. Doch die Mail öffnete sich wie von selbst. Ich las. Nicht freiwillig.
Das freut mich, dass es dir gut geht. Ach du hast Ferien, dann gehst du also noch zu Schule? Abitur nehme ich an? Weißt du er nennt dich immer noch seine Prinzessin…
Wieder kratzte ich mich an der Stirn. Schnaubte kurz und legte den Laptop zur Seite. Zeit für einen Schluck Tee. Ich verzog das Gesicht. Er war kalt. Kalt wie manch einer aus meiner sogenannten "Familie" Väterlicherseits. Die Worte hallten noch in meinem Kopf, als ich unter der Dusche stand. „Weißt du er nennt dich immer noch seine Prinzessin“. Diese Worte taten auch nach 13 Jahren weh. Ich wusste nicht warum. Doch sie taten weh. Ich entschloss mich nicht zu antworten. Genug war genug. Prinzessin. Seine Prinzessin. Als wäre ich ein Besitz. Es verfolgte mich den ganzen Tag. Die ganze Nacht. Konnte mich kaum konzentrieren, kaum schlafen.
Am nächsten Morgen wachte ich auf und fühlte mich krank. Depressiv. Körperlich am Ende. Warum nur? Nur wegen dieser Nachricht? Diesen Worten? Die Situation war ungewohnt für mich. Zeit für Ablenkung dachte ich mir und ging online. „Zwei neue Nachrichten“. Zwei? Doch nicht von … Ich biss mir wieder auf die Lippe. Doch genau von IHR. Ein schnelles kratzen an der Stirn machte das auch nicht besser.
Hey. Ich bins nochmal. Sorry, wenn ich damit etwas zu weit gegangen bin, aber ich dachte du solltest das wissen. Wir haben dich alle nicht vergessen. Grüße Sirina =)
Ja, ist klar.
Falls du etwas über ihn wissen möchtest, kann ich dir sicherlich helfen. Er würde sich auch gerne mit dir unterhalten. Wenn du möchtest, gebe ich dir seine Nummer? Liebe Grüße Sirina
Es war leise. Keiner war zu Hause. Eltern waren arbeiten. Ich war alleine. Mit ihm Kontakt aufnehmen? Er war der Grund, warum wir so oft umgezogen sind. Er war der Grund, warum ich kaum Freunde habe. Er war der Grund für alles. Er war schuldig gesprochen. Das Urteil konnte auch keiner mehr widersprechen. Dagegen klagen. Es war meine Entscheidung. Meine Entscheidung ihn in die kleinste Kiste zu stecken und zu verbannen. Nie an ihn zu denken. Ihn nie zu vermissen. Ich konnte nichts vermissen, was ich nicht kannte.
Meine Eltern trennten sich, als ich sieben war. Ich erinnere mich nicht an die Zeit davor. Woran ich mich aber noch gut erinnern kann, ist als meine Mutter und ich nachts geflohen sind. Beide stritten mal wieder. Meine Mutter kam zu mir ins Zimmer und sagte ich solle die Tür verschließen und erst wieder aufmachen, wenn sie mich darum bat. Als meine Mutter das Zimmer verließ, verschloss ich die Tür, nahm mein Teddy in die Hand und kauerte mich in eine Ecke. Ich erinnere mich, dass ich ganz ruhig war, ein paar einzelne Tränen rannen über mein Gesicht, ich hatte Angst, aber ich war bereit zu handeln, wenn etwas passieren würde. Wäre bereit alles zu machen, falls etwas passieren würde. Falls etwas passieren würde. Geschreie. Klopfe an meiner Tür. Wieder Geschreie. Dann, etwas klatschte. Stille. Wieder Geschreie. So ging das eine ganze Weile. Nach einer Zeit schlief ich ein und wurde wach als ich ein leises klopfen an meiner Tür hörte. Vorsichtig näherte ich mich der Tür, spinkste durch das Schloss. Es war meine Mutter. Ich atmete auf und schloss die Tür auf. In dieser Nacht verließen wir meinen „Vater“.
Meine Mutter bekam das alleinige Sorgerecht. Ein paar Mal traf ich ihn noch. Immer mit einer Aufsicht. Doch ich hatte immer Angst vor ihm. Fühlte mich nie wohl in seiner Gegenwart. Geschenke von ihm wollte ich nicht. Schließlich brach der Kontakt ganz ab, was ich nie bereute. Meine Mutter heiratete einige Jahre später. Ich war damit einverstanden und schon bald, verschwand mein leiblicher Vater aus meinem Leben und mein neuer Vater ersetzte ihn.
Später erfuhr ich, dass uns mein leiblicher „Vater“ verfolgte und drohte. Mit Aussagen wie „Sie ist nicht meine Tochter“ oder „Wenn ich sie sehe, bringe ich sie um“ schoss er sich schließlich ins Abseits. Er existierte nicht mehr für mich.
Zurück in der Gegenwart, rang ich mit mir selbst. Sollte ich Kontakt aufnehmen? Ja? Nein? Was würde passieren, wenn? Tausend solcher Fragen schossen mir durch den Kopf.
Schließlich fasste ich einen Entschluss. Ich gab Sirina meine Nummer mit der Bitte sie an „ihn“ weiterzugeben. Ich hatte keine Ahnung wie ich reagieren würde, wenn er anrufen würde. Wusste nicht was ich sagen würde. Ich wusste nur, dass ich ihn hören wollte. Ich wollte, dass er mich anfleht ihn zu verzeihen.
Es war schon weit über 21 Uhr, als plötzlich mein Handy vibrierte. Unbekannte Nummer. Mein Herz schlug schneller. Meine Atmung wurde kürzer, meine Hände schwitziger. Ich starrte das Handy an. Mit zittrigen Händen hob ich das Handy an mein Ohr.
"Hallo, meine Prinzessin!“ Die Welt blieb stehen. „Hallo? Sarah? Bist du noch dran?“ Ich legte auf.
Ich atmete tief ein. Tief aus. Ein. Aus. Ein. Aus. Schloss meine Augen. Legte das Handy auf das Bett. Die Decke war ganz zerknittert. Ich strich es mit zittriger Hand glatt. Atmete tief ein, tief aus. Ganz still und heimlich schlich eine Träne aus meinem Auge. Sie rann so langsam und schnell zu gleich, ohne einmal zu stoppen, oder einen Umweg zu nehmen. Sie mit der Hand wegzuwischen würde zeigen, dass ich weinte, würde zeigen, dass ich schwach sei, würde zeigen, dass ich etwas vermisse, dass ich nie erlebte. Doch das ließ ich nicht zu. Ich atmete tief ein. Tief aus. Eine zweite Träne rann über mein Gesicht. „Sie werden trocknen."