Der Anker - eine seltsame Weihnachtsgeschichte
Bist Du jemals am heiligen Abend...
...durch die verschneiten Straßen einer Küstenstadt gestapft und hast Dich gewundert, dass aus vielen der hell erleuchteten Wohnungen ein bestimmtes Lied erklang?
Dies ist die wundersame Geschichte über einen Anker der Hoffnung.
Die Schiffsglocke der Forch Gock schellte wieder. Sie klang seltsam entfernt, obwohl sie keine zehn Meter weit weg hing.
Seit drei Tagen glitt der Schoner nun schon viel zu langsam durch die dichteste aller Nebelbänke.
Roller, so nannten sie den Steuermann, schlug fröstelnd den Kragen seines schweren Mantels hoch, weil er seit gefühlten 10 Stunden in den stillen weißen Dunst dieser kalten Dezembernacht starrte.
Das Schiff war in diesem Jahr auf der ganzen Welt unterwegs gewesen und die Besatzung hatte viele aufregende Abenteuer zusammen erlebt
Aber jetzt bog sich die komplette Mannschaft unter der Last der ein Jahr andauernden Reise wie die alten Planken ihres geliebten Schiffes. Also war nicht nur Roller heute Nacht müde und verzweifelt.
Es war Heiligabend und alle wollten heim zu ihren Familien. Aber das Ende ihrer langen Fahrt lag genauso im Nebel wie das Schiff. So trieben sich Teile der Mannschaft an Deck herum und blickten starr in den nicht enden wollenden Nebel dieser nicht enden wollenden Nacht.
Und wieder ging die Schiffsglocke. Eine klingende Warnung für eventuelle Schiffe in der Nähe, die wie immer in den letzten Tagen ohne jede Antwort im alles umhüllenden Nebel verhallte.
Keiner sprach mehr ein Wort. Es lag eine unheimliche Spannung über dem alten Schoner, denn so langsam musste sich jeder an Bord eingestehen, dass sie schon seit mindestens zwei Tagen jede Orientierung verloren hatten. Es gab deswegen keine Vorwürfe, keinen Streit, nur dieses alles erdrückende Schweigen, dass im Laufe der letzten Tage auch von der hintersten Ecke der kleinsten Kajüte Besitz ergriffen hatte.
Irgendwer spielte auf dem Schifferklavier das Lied vom Anker der Forch Gock und die Männer an Deck stimmten, ganz leise zuerst, in das eigentlich sehr schöne Lied mit ein. Heute klang es eher düster. Die tiefen, sonoren Männerstimmen hörten sich an wie ein dunkles Gebet, wie der tiefste aller Wünsche, so heilig und romantisch wie die Seefahrt selbst. Heim... heim... nur heim!
Roller ließ beim Singen seinen Blick über das Schiff schweifen. Er sah die Dunstwolken über den Köpfen der Männer. Dann schaute er lange in ihre Augen und Gesichter. Zu seinem Erstaunen sah er dabei etwas Seltsames vor sich gehen. Mit jeder gesungenen Strophe, jedem Wort, dass beim Singen über die spröden Lippen kam, wich mehr und mehr die Müdigkeit aus den Gesichtern. Las er dort zuerst noch Angst und Verzweiflung, wichen diese seemännischem Trotz, dann Hoffnung und dann machte sich ganz langsam, anfangs noch unsicher, fragil eine Zuversicht breit, die von Strophe zu Strophe an Stärke gewann, bis sie am Ende fast blendete.
Schließlich löste Roller seinen Blick für einen Moment, weil er bemerkte, dass immer mehr der Männer erstaunt in den Himmel blickten. Also ging auch sein Blick voller Neugier nach oben und plötzlich musste er aufhören zu singen. Er stand mit offenem Mund da, den Kopf im Nacken, und ließ diesen besonderen Moment einfach auf sich wirken.
Denn als ob der Gesang der Mannschaft als Stoßgebet der Verzweiflung erhört worden war, riss der Nebel auf und der klare Sternenhimmel kam leuchtend zum Vorschein. Noch nie zuvor in seinen vielen Jahren auf See schienen dem Steuermann die Sterne so wunderschön zu funkeln. Lächelnd stimmte er wieder in das Lied ein. Mit jedem Wort kamen mehr Männer nach oben, bis sich schließlich die komplette Mannschaft an Deck befand. Ganz langsam wurde allen klar, dass die Zeit im Nebel nun bald vorüber war.
Immer lauter und kräftiger klang der Gesang nun über das Deck. Und ganz plötzlich riss auch vor ihnen der dichte Nebel auf, wie ein schwerer grauer Vorhang, der mit Leichtigkeit in Fetzen gerissen wurde.
So schwamm die Forch Gock, dieser stolze Dreimaster, durch die glatte See und über das Meer hinweg erklang der wohl kräftigste und lauteste Gesang, den die sieben Wetmeere je gehört hatten.
Doch dann verstummte das Lied ganz plötzlich.
Denn sobald sich ihre Augen wieder daran gewöhnt hatten in die Ferne blicken zu können sahen Roller und der Rest der Besatzung, in weiter Entfernung noch aber deutlich als solche erkennbar, die flimmernden, vertrauten Lichter ihrer Heimatstadt.
Mit einer nie gekannten Wucht durchströmte sie ein wunderbares Glücksgefühl und die Kälte, die lange Reise, die lähmende Ungewissheit des Nebels; all das war schlagartig vergessen. Die gesamte Mannschaft brach mit ihm zusammen in unbeschreiblichen Jubel aus. Die Männer lagen sich lachend in den Armen und klopften sich vergnügt auf die schweren Schultern.
Die verschollen geglaubte Forch Gock wurde sehr schnell von Land aus gesichtet und es gab ein großes Aufatmen bei allen Frauen und Kindern, die schon die Befürchtung hatten, dass sie zumindest dieses, vielleicht sogar alle weiteren Weihnachtsfeste ohne ihre Männer und Väter verbringen würden. Rasch eilten sie an die Pier, um die Männer in ihre Arme schließen zu können.
So verbrachte die dankbare Besatzung das heilige Fest wider Erwarten doch noch im Kreise ihrer Lieben, weswegen es das schönste Weihnachtsfest von allen für die Seeleute und ihre Familien wurde.
Die Geschichte dieser Ankunft ging schneller um die Welt, als das schnellste aller Schiffe.
Und für all diejenigen, die endlich wieder nach Hause kommen, aber auch für die, deren Väter und Männer ihren Weg aus dem Nebel nie mehr finden, ist der Anker der Forch Gock, der in diesem Lied besungen wurde, ein Zeichen der Zuversicht und Hoffnung geworden. Ein Licht in der Dunkelheit.
Und wie gesagt: wenn Du die Ohren spitzt und ganz still bist, während der Schnee leise um Dich herum fliegt, dann kannst Du hören wie viele Familien in den Küstenstädten dieser Welt das Lied über den Anker am heiligen Abend zusammen singen. Und wenn Du einen Blick in ihre Fenster werfen kannst, dann wirst Du in Ihren Augen all das sehen, was Roller an diesem magischen Abend in den Augen der singenden Seemänner gesehen hat.