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Der Angriff
Aus der U-Bahn ausgestiegen lief ich wie üblich zielstrebig in Richtung Rolltreppe, Aufgang Sonnenallee, als mir wieder dieser alleine für sich sitzende, ältere Mann auf einer Bank für wartende Fahrgäste auffiel. Erst gestern fiel er mir schon sofort ins Auge - es war um etwa die gleiche Zeit. Mit seiner einerseits auffallend abgetragenen Kleidung aus kariertem Hemd, brauner Lederjacke und einfacher Jeanshose und dem, auf seinem Schoß aufgeklappten, schwarzen Laptop andererseits bildete er einen ungewöhnlichen optischen Kontrast für die umherstreifenden Fußgänger hier im Untergrund.
Gestern wie heute tippte er scheinbar unentwegt etwas auf seine Tastatur ein - und beobachtete dabei die an ihm vorüberziehenden Menschenmengen.
Am dritten hintereinanderfolgenden Tag schließlich, es war ein Donnerstag und er saß auch heute wieder an demselben Platz und schrieb, beschloss ich, ein wenig später in meine Arbeit zu gelangen und mich stattdessen eine Weile genau neben ihn auf die Bank zu setzen.
Ich hatte nicht den Eindruck, dass er mich bemerkt hätte. Seine zehn Finger tippten weiterhin ruhig und ungehemmt auf seine Tastatur. Blind selbstverständlich - denn er beobachtete ja unentwegt die Passantenströme, die an ihm vorüberzogen. Als ich ihm ein wenig über die Schultern sah, um meine Neugierde zu befriedigen, erschrak ich zunächst. Denn der Bildschirm seines Laptops war zu meiner Überraschung völlig leer und schwarz. Ich musste unwillkürlich wieder zu ihm hinaufblicken, sein abwesendes Gesicht wahrnehmen; es schien mir wie in einer Art Trance eingefroren zu sein - hochkonzentriert und routiniert.
Ich sah mich kurz um, ob uns vielleicht einer der Passanten gerade beobachten würde. Dann beschloss ich, ihn etwas zu fragen. Ich fragte ihn einfach: "Was machen Sie hier?"
Ohne sein Schreiben zu unterbrechen oder mich auch nur anzusehen antwortete er mir: "Was machen Sie hier?"
"Das geht sie nichts an!" kam es mehr spontan als überdacht aus mir heraus.
"Das macht nichts." fügte er schnell meiner Antwort hinzu.
Ich machte daraufhin einen neuen Anlauf: "Ihr... ihr Laptop scheint nicht eingeschaltet zu sein. Der Bildschirm ist völlig dunkel und die Einschaltdioden leuchten nicht!"
"Ich weiß. Aber auch das spielt keine weitere Rolle. Ich hätte sowieso keine Gelegenheit mehr, meine eingegebenen Daten nochmal abzurufen."
"Aber..." Ich war gerade so verwirrt, dass ich ersteinmal kurz über meinen nächsten Satz sinnieren musste.
"Gott weiß, was ich für ihn tue. Ich helfe ihm dabei, die Menschen im Auge zu behalten."
Ach du Scheiße! überkam es mich plötzlich. Besser, ich wär doch gleich in die Arbeit gegangen... Ich stand auf, wollte noch kurz ein "na dann noch viel Spaß!" loswerden als der Mann noch weiter zu mir sprach:
"Heute wird es jedoch der letzte Tag für diese Menschen hier sein."
Während ich neben ihm stand, mit meinem Aktenkoffer in der rechten und meinem Schirm in der linken Hand wurde ich wieder stutzig: "Was meinen Sie damit?"
"Ich meine damit, dass auch Sie diesen Tag nicht überleben werden."
Ich blickte mich um. Was zur Hölle erzählt der Kerl mir da? Nur Schwachsinn? Oder doch was dran? Die Passanten liefen wie jeden Morgen die Bahnsteige entlang, manche stiegen aus den haltenden U-Bahnen aus, manche hinein, einige fuhren die Rolltreppen hinauf, andere hinab. Nichts Ungewöhnliches konnte ich an diesem Morgen an diesem Ort entdecken.
"Hören Sie mal! Ich weiß ja nicht, wie Sie auf ihre Einfälle kommen. Aber ich sehe hier keinerlei Anzeichen dafür, dass dieser Tag nicht ganz genauso wie jeder andere auch verlaufen sollte!" Während ich so sprach, dachte ich wieder an mein Büro und dass es längst Zeit wäre wieder zu gehen.
Ich war noch so von dieser Unterhaltung und den Gedanken über meinen bevorstehenden Tagesablauf abgelenkt, dass ich zunächst gar nicht bemerkte, als einige Passanten um mich herum unvermittelt zu laufen begannen. Es waren nicht nur einzelne, wenige, die vielleicht noch schnell ihren Anschlusszug bekommen wollten und deshalb zu rennen anfingen. Nein, es war, als es schließlich auch mir auffiel, eine ganze Gruppe von Menschen, die sich, jeder einzeln für sich, durch den noch in gemäßigter Geschwindigkeit fortbewegenden übrigen Menschenstrom durchschob. Wie ein reißender Fluss zogen sie aber schon schnell auch die übrigen Menschen zunehmend schneller hinter sich her. Auch sie begannen zu laufen - wenn sie es konnten. Manche Menschen, besonders die älteren, verstanden aber erst gar nicht, was gerade passierte. Ihnen blieb nichts anderes als ohne Unterlass verwirrt um sich zu blicken; und damit die ersten Opfer zu sein.
Der Giftgasangriff brach völlig unerwartet in die belebten U-Bahn-Schächte ein, still und schleichend. Nicht das Gas war es, das den plötzlich aufkommenden Lärm an die Spitze trieb. Es waren die entsetzten Schreie der Menschen, die auf den letzten Tag ihres Lebens nicht vorbereitet waren. Die ihn zu ihrem Leidwesen noch nicht einmal auch nur erahnten.