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Der Angriff der Zwerge
Es war womöglich schon fast Mittag, als die Zwerge in meiner Küche auftauchten. Sie waren nicht größer als einen halben Meter, trugen Anzug und Krawatte, hatten Handys und Laptops bei sich und öffneten meinen Kühlschrank.
Es war womöglich gegen Mittag, und ich war von einem lauten Poltern erwacht. Jeder Mensch sollte Pläne und Ideen haben. Ich hatte seit langem die Wohnung nicht verlassen und war damit beschäftigt, mich täglich umzubringen, indem ich Hardenbergs Weizenwasser in mich hinein schüttete. Vor vielen Dutzend Stunden hatte ich mein zweihundertstes Bewerbungsgespräch gehabt (es ging um den Job in einer Bratwürstelbude) und seit der Absage die Zeit zuhause mit Trinken, Fernsehen und Schlafen zugebracht. Irgendetwas hinderte mich schon seit meinem sechsten Geburtstag daran, mich auf diesem Drecksplaneten wohl zu fühlen, und seit meinem sechzehnten Geburtstag versuchte ich, den Effekt mit Saufen abzumindern. Normalerweise funktionierte es so gut, dass ich die Nachrichten, Talkshows und Werbespots im Fernsehen überstand, ohne grüne Pickel im Gesicht zu bekommen.
Als ich aus meinem Suff aufwachte, sah ich, dass sich in der Küche - in meiner Küche - eine Klappe im Boden geöffnet hatte, aus der diese Kerle krochen. Ich sag’s ganz offen, es ist sowieso nicht leicht, in meiner Wohnung zu existieren. Ich lebe im Dachgeschoss im vierten Stock, und unter mir wohnt eine Speedmetalband, die es mir unmöglich macht, Pflanzen zu züchten. Wenn diese Band mit ihrer täglichen Session fertig ist, kann auch die stundenlange Beschallung mit Mozartplatten nichts mehr gut machen. Die Pflanzen hauchen einfach ihr Chlorophyll aus, und das war’s dann - Selbstmord. Pflanzen, die Selbstmord begehen. In meiner Wohnung gibt’s das.
Die Zwerge räumten meinen Kühlschrank aus, begannen zu frühstücken und tauschten laut dabei Zahlen aus („8, 88 Prozent!“ – „27-Tausend!“ – „Achtundachtzig-plus!“ – „Bei 30,4 Übernahme!“ – „Neuntausend entlassen!“).
Von mir nahmen sie keine Notiz, als ich mich vorsichtig zur Klappe im Boden begab. Eine Leiter führte drei Meter nach unten und endete in etwas, das wie ein Bergwerksstollen aussah. Jedenfalls war es nicht die Wohnung der Speedmetalband unter mir, das sah ich gleich - es lagen keine leeren Whiskyflaschen und bewusstlosen nackten Weiber herum. Ich starrte auf die Klappe, dann wieder zu den Zwergen und rieb mir die Augen. Ich überlegte, ob ich etwas an der Situation, falls sie real war, ändern sollte. Zum Beispiel, indem ich ein Glas Hardenberg trank und mich wieder hinlegte. Aber diese Scheißzwerge machten einen solchen Lärm, sie waren einfach nicht mehr zu ignorieren. Deshalb holte ich meinen Regenschirm mit Eichenholzgriff, ein Erbstück meines Vaters. Ich hatte einen Entschluss gefasst. Ich würde die Kerle wieder dorthin zurücktreiben, wo sie hergekommen waren!
Als ich mit dem Regenschirm auf den Tisch schlug, stoben sie schreiend nach allen Seiten auseinander. Ich jagte hinter ihnen her und ließ den Regenschirm durch die Luft kreisen. Bei ihrer Flucht durch die Zimmer schmissen die Zwerge Regale um und warfen mit Geschirr und leeren Weizenwasser-Flaschen um sich, die ich mit dem Schirm abwehrte, während ich sie gleichzeitig durch die Räume trieb. Sie installierten sekundäre Kampfschauplätze, indem sie die Wasserhähne in Bad und Küche aufdrehten oder, wenn genug Zeit war, kleine Feuerchen anfachten, um die ich mich zwischendrin kümmern musste. Sowie sie merkten, dass sie Oberwasser bekamen, gingen ihre Schreie in triumphierendes Gelächter über und ihre Hamstergesichter strahlten. Jetzt begannen sie, mich gezielt zu attackieren, indem sie mir Bücher an den Kopf warfen und dann schnell wegstoben – eine Scheißmethode, die bei AGE OF EMPIRES Shoot’n’run heißt. Außerdem schienen es immer mehr zu werden, und mit einem Mal waren auch weibliche Zwerge darunter, die Kostüme trugen und Handtaschen und Aktenkoffer dabei hatten.
Die Zwerge riefen: „Alles muss verbessert werden!“, und wuselten flink um mich herum und an mir vorbei. Viele hatten jetzt Hämmer und Äxte in den Händen und kleine Teams gebildet, die sich über die Möbel hermachten. Geschrei, Gelächter und Lärm vermischten sich.
Ich stand nur noch da, außer Atem, als das Telefon klingelte. Der Würstelbudenbetreiber war am Apparat (wumm! traf mich Kafkas Prozess am Hinterkopf), um mit mir über den Job zu sprechen, für den ich mich beworben hatte, „Sie wissen schon, letzte Woche...“. Er war jetzt doch an mir interessiert (wumm! Der Dierke-Weltatlas), aber ich konnte mich nicht richtig auf das Gespräch konzentrieren. Daran waren nicht nur die Tolstoi- und Dostojewskigeschosse schuld, die regelmäßig gegen meinen Kopf krachten, sondern auch die Tatsache, dass die Zwerge damit angefangen hatten, meine Wohnungseinrichtung aus dem großen Mansardenfenster zu schmeißen. Soeben kippte meine Waschmaschine nach draußen. Ich schrie: „Jetzt wartet nur!“ und bat den Würstelmeier, mich kurz zu entschuldigen, er möge bitte in der Leitung bleiben, nur bis ich die Zwergenbande umgebracht hätte. Er sagte: „Kein Problem.“ Ich warf das Telefon beiseite, holte erneut aus und ging auf die Zwerge los, die taktisch klug auseinander liefen, um die Richtung meines Angriffs zu zersplittern. Ich blieb bald keuchend stehen, dabei fiel mein Blick auf die Klappe - oh Gott! - es strömten noch mehr dieser nadelgestreiften Teufel in meine Wohnung! Sie schafften schweres Gerät herauf, Spitzhacken, Motorsägen und elektrische Meißel. Auch Zwergenfrauen waren wieder mit dabei, sie trugen Antifaltencremes bei sich, ähnelten Uschi Glas und grinsten in die nichtvorhandenen Kameras. Eine Handvoll Zwerge hatte begonnen, mit einem Presslufthammer die Zimmerwände durchzubrechen. „Alles muss verbessert werden!“, riefen sie, während sie arbeiteten.
Ding-dong. Es klingelte. Wahrscheinlich kommt jetzt auch noch mein Vermieter, dachte ich, riss die Tür auf und sagte: „Was ist?“ Draußen stand Dave, der Schlagzeuger der Metalband, ein massiger Typ in Lederklamotten, und fragte vorsichtig, ob ich es nicht leiser stellen könnte. Ich antwortete: „Vielleicht hilfst du mir dabei, es leiser zu stellen?“
Er bekam große Augen, als er in meinem Wohnzimmer die Felder von Austerlitz erblickte, dazwischen die Gnome, die kreischten und herumwuselten oder auseinander bauten, schlugen oder sägten, was in ihren Radius geriet. Ein halbes Dutzend von ihnen hieb synchron mit Äxten auf meinen Kiefernschrank ein. „Alles muss verbessert werden!“, riefen sie im Chor.
„Mann, jetzt gibt's Rock'n'Roll!“, sagte Dave und legte mir seine Pranke auf die Schulter. „Ich hol die anderen!“ Er verschwand nach unten.
Minuten später hatte die Band ihre Anlage bei mir aufgebaut und dröhnte die Zwerge in tausend Watt mit Iron Maidens "Die with your boots on" gegen die Wände. Das war der Soundtrack für das Finale! Ich packte die nach allen Seiten kopflos fliehenden Zwerge, sobald sie begannen, konvulsivisch zu zucken, und deaktivierte sie. Sie schienen über ihre Laptops virtuell miteinander verbunden zu sein, vielleicht waren sie so eine Art vergrößerter Virusangriff, aber egal: Ihre Schwachstelle waren jedenfalls die Akkus - wenn man die entfernte, erlosch die Lebensenergie. Die Zwerge wählten noch verzweifelt ein paar Nummern mit dem Handy, zappelten zuletzt kurz und wild rum, - und erstarrten dann. Zehn Minuten, und die Schlacht war vorbei.
Die Wohnung sah aus, als wäre ein Asteroidenschwarm durchgeflogen; verschiedene Brandstellen rauchten vor sich hin. Dazwischen lagen die Einzelteile meiner Möbel, die ausgeschalteten Zwerge und ihre Handys, von denen manche polyphon klingelten, piepsten, summten, rappten oder wie Frösche rülpsten.
Mein Blick fiel auf mein Telefon. Ich nahm es vom Boden auf. Der Würstelbrater war natürlich nicht mehr in der Leitung. Hätte mich auch gewundert, phantasieloses Arschloch. Und dann zeigte Dave auf das Fenster und rief: „Scheiße, Mann!“. Ich schaute nach draußen. Über die Stadt. Und ich sah Klappen. Überall. Hunderte. Hunderte von geöffneten Klappen.