Der Amoklauf
Der Amoklauf
Der Gang ist leer, die Türen verschlossen – es herrscht Stille um mich herum. Hinten am schwarzen Brett steht ein Schüler und scheint irgend etwas zu suchen. Zwei Jahre ist es her – ich stand oft da vor dem Brett, genau wie er. Ich gehe langsam durch den Gang, an den vielen verschlossenen Türen der Klassenzimmer vorbei. In meinem Kopf taucht ein Bild auf.
"Du Nichtsnutz! Du bist so doof wie du lang bist! Aus dir wird nie etwas werden!" Und hinter mir spottendes, unterdrücktes Lachen meiner Mitschüler. Ich gehe weiter. Wie oft bin ich durch diesen Gang, diese Flure geschritten? Unzählige Male! Hinter den Türen höre ich Stimmen – Lehrer, die ihrem vermeintlichen Job nachgehen. Unterrichten. Erziehen. Erziehen? Lehrer, die ihre besonderen Lieblinge haben. Lehrer, die Leute wie mich auf dem Kieker haben. Wir, wir haben keine Chance bei ihnen. Sie haben ihr Urteil über uns längst gefällt. Wir können machen, was wir wollen – einmal unten durch, immer unten durch. Der Geruch des Schulhauses bringt ein Würgen in meinen Hals. Ich versuche es runterzuschlucken.
Plötzlich höre ich hinter einer der Türen die mir sehr vertraute Stimme. Das ist er! Er befriedigte seine Lustgefühle daran, seine Schüler zu tyrannisieren. Er tut es noch, ich höre es ganz deutlich. Die Hände, die ich in den Manteltaschen verborgen habe, ballen sich zu Fäusten. Er hatte im Sekretariat meine Eltern angerufen, während ich weinend und wimmernd daneben stand, Angst und Schrecken in meinen Augen. Die Tür war offen – alle Mitschüler und Lehrer, die vorbei gingen, konnten seine laute und deutliche Stimme vernehmen und schienen plötzlich lange Ohren zu bekommen. Ich bekam stattdessen rote Ohren. OK, ich hatte Mist gebaut. Aber warum musste das jeder erfahren? Warum sprach er in einem derart abfälligen Ton über mich zu meinem Vater, als sei ich ein Stück Dreck? Ich habe das nicht mit Absicht getan! Ich wollte das nicht! Es ist einfach so passiert! Aber niemand glaubt mir! "Ihr Sohn ist nicht tragbar für unsere Schule!" brüllte er. Neugierige Blicke. Verachtende Blicke. Triumphierende Blicke. Zuhause würde mich eine deftige Tracht Prügel erwarten. Es war nicht das erste Mal. Und nicht das letzte Mal. Ich wurde schließlich der Schule verwiesen – einen wie mich wollte man nicht haben. Nun stehe ich hier, in demselben Gang, höre den Tonfall desselben Paukers. Meine rechte Faust umschließt einen harten Gegenstand in der Manteltasche. Ich brauche jetzt nur meinen Mut zusammen zu nehmen, die Tür öffnen, den Revolver aus meiner Manteltasche herausholen, auf ihn zielen – und dann würde alles umgekehrt sein. Dann würde ER voller Angst und Schrecken sein – und das Lustgefühl würde auf MEINER Seite sein, wenn ich endlich abdrückte. Es würde ein herrlicher, ein ergötzender Moment sein......
Er wird niemanden mehr tyrannisieren können. Mein Herz schlägt bis zum Hals. Meine linke Hand greift zur Türklinke, will sie herunterdrücken. Plötzlich fällt mein Blick unvermittelt zur Decke über der Tür. Ich halte inne. Eine Spinne hat sich dort ein Netz gebaut und ist dabei, sich ein Stück weit abzuseilen. Mein Blick bleibt an dem Spinnennetz kleben – und andere Bilder tauchen vor mir auf. Fette Schlagzeilen in der Boulevard-Presse: "Ex-Schüler schießt unschuldigen Lehrer und Familienvater brutal nieder!" – "Lehrer kaltblütig von gewalttätigem Schüler ermordet". Sondersendungen im Fernsehen. Wie brutal ist unsere Jugend? Wie können sich hilflose Lehrer schützen? Jeder dieser Gedanken und Bilder scheint mich in dieses Spinnennetz da oben hineinzuziehen.
Schließlich finde ich mich vollkommen hilflos in dem Netz wieder, alle ergötzenden und herrlichen Gefühle wie weggeblasen – während der verhasste Pauker triumphierend auf mich zu krabbelt und mich mit widerwärtigem und verspottendem Grinsen umspinnt und genüsslich verspeist.
Ich nehme die Hand von der Klinke, wende mich Richtung Ausgang und verlasse die Schule.