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- 02.02.2004
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Der alte Wasserturm
Die in der Betonbrüstung gespeicherte Sommerhitze wärmte seine Schenkel. Zehn Meter über dem Boden wehte eine leichte Brise und die Luft roch nach frisch gemähtem Gras. Hier oben fühlte sich David wohl, ein paar Bierchen, was zu rauchen, und alle Probleme zerstreuten sich im Wind. Kein Steinmann, der sich für den grössten Malermeister unter der Sonne hielt und seinem Lehrling im ersten Lehrjahr nicht mal ein Stück Kellerwand überliess. Böden abdecken und Pinsel reinigen, das war alles.
"Vom alten Steinmann kannste was lernen", sagte sein Onkel immer, "der führt den Pinsel wie Picasso."
"Picasso war ein Künstler, Steinmann bloss ein Wandstreicher."
"Steinmann ist der beste, dass du's mir ja nicht mit ihm versaust."
"Wie denn, ich darf ja nur Pinsel reinigen und die Werkstatt fegen."
"Das hat noch keinem geschadet", und damit war das Gespräch beendet.
Seit dem tragischen Unfall vor zwei Jahren war Onkel Ludwig sein Vormund. Er zog in die elterliche Wohnung, versoff Davids Unterhaltsgeld und interessierte sich nur für die Glotze.
Der alte Wasserturm wurde zu Davids Reduit, hier oben hatte er seine Ruhe, nicht mal sein bester Freund wusste von diesem Platz.
Ronny, im zweiten Lehrjahr bei Malermeister Steinmann, hatte Talent. Durfte sogar mal ein Zimmer alleine streichen. Ronny war ein klasse Kumpel. Dank seinen eins neunzig bei hundert Kilo suchte niemand Stress mit ihnen, wenn sie zu zweit um die Häuser zogen. Leider gab's bei der Geburt Probleme mit der Sauerstoffversorgung, was ihn früh schon zum Aussenseiter werden liess. David kümmerte das nie, vielleicht weil er auch auf der Reservebank sass. Ronny war der einzige Mitschüler, der zur Beerdigung seiner Eltern kam. Ein trauriges Grüppchen, das sich an einem nasskalten Herbsttag auf dem Friedhofshügel einfand. Neben ein paar neugierigen Dorfbewohnern, dem Pfarrer und David, waren da noch Onkel Ludwig, Steinmann und eben - Ronny.
Davids Beine baumelten über dem Abgrund. Jetzt einfach fallen lassen. Das Kribbeln in der Magengrube war sofort da, seine Hände verkrampften sich an der Mauerkante, der Kopf hielt ihn wie immer zurück. Tief sog David die kühle Abendluft ein, sein Blick wanderte über Hausdächer, hinüber zum Flutlicht des Fussballplatzes, dahinter das leuchtende Band der Autobahn. Feierabendverkehr, wie damals, ein Lastwagenfahrer hatte während der Fahrt seine Unterlagen sortiert, das Stauende lag in einer Kurve. Zwei Stunden hatte die Feuerwehr gebraucht, um die beiden Insassen aus dem total zerquetschten Toyota herauszuschneiden. Er vermisste seine Eltern.
Am Fusse des ausgedienten Wasserturms zeugten leere Farbdosen, Bierflaschen und Chipstüten vom kreativen Zeitvertreib der Dorfjugend. David beugte sich leicht vor, versuchte das neuste Graffiti aus der Vogelperspektive zu erkennen. Eine gerupfte Griechenlandflagge mit einer Null-Euro-Münze in der Mitte.
"Hallo!"
David fuhr zusammen, konnte einen Sturz gerade noch verhindern und rutschte auf die Plattform. Sein Herz klopfte bis zum Hals.
"Spinnst du?", krächzte er.
Ein hochgewachsenes Mädchen mit weissem Trägerleibchen und blauen Shorts lehnte neben der Luke an der inneren Turmwand. Ihre Füsse steckten in Espadrilles mit Zebramuster.
"Sorry, wollte dich nicht erschrecken."
Sie ging, nein sie schwebte zum Rand der Plattform und beugte sich vor.
"Schöne Aussicht hier oben."
Dabei löste sie das Gummiband und überliess die schwarzen Haare dem Spiel der Abendbrise.
David war beeindruckt von ihrem schlanken Körper, dem über ihre Brüste gespannten Stoff und den sonnengebräunten Beinen. Das Fussgelenk zierte ein kleines Tattoo. Eine Feder, oder doch ein Sternzeichen?
"Kennen wir uns?" David lehnte sich linkisch gegen die Betonbrüstung.
"Loreana. Aber sie nennen mich Lory." David starrte sie fasziniert an.
"Und du bist?"
"Ähm, David", sagte er unsicher. "Du bist nicht von hier, oder?"
"Wie man's nimmt. Siehst du das Gebäude dort drüben?"
"Du meinst das Zickenheim?" David schoss die Röte ins Gesicht. Neben dem Friedhof gut zu erkennen, ein Klinkerbau, quadratisch umzäunt mit fünf Meter hohem Maschendraht, in jeder Ecke ein Flutlichtmast.
"Tschuldige, wollte nicht ..."
"Passt schon. Wer nicht zickt, geht unter. Jetzt bin ich ja draussen."
"Warst du in der Geschlossenen?"
"Nicht wirklich, aber wer die Regeln vergisst, kriegt Arrest. In letzter Zeit gibt's für jeden Pups Isolationshaft. Das reinste Guantánamo."
"Ich dachte, du bist draussen?"
Lory ging leicht in die Knie und sprang mit einem Satz auf die Brüstung.
David bekam ein flaues Gefühl im Magen, was, wenn die Lory bereits suchten und ihn hier fanden. Er mit einer flüchtigen Zicke.
"Nun guck doch nicht so bescheuert, die suchen immer erst einen Tag später."
Als ob sie seine Gedanken lesen konnte.
"Die meisten von uns finden sich von selber wieder ein, wir bösen Mädels brauchen ab und zu etwas Freiraum."
Mit ausgebreiteten Armen balancierte Lory auf dem schmalen Mauervorsprung. Mörtel löste sich, prasselte nach kurzem Fall auf die leeren Spraydosen.
"Hei, pass auf, da geht's runter." David trat einen Schritt auf Lory zu und packte ihren Arm. Sie liess sich auf die Mauer sinken und schaute ihm direkt in die Augen.
"Mach dich locker, Junge." David hielt sie einen Tick zu lange fest, im nächsten Augenblick spürte er warme Lippen, ihre suchende Zunge, schwarze Haare fielen ihm ins Gesicht, er roch Holz und Tannennadeln, sah Pilze und Laub, einen ganzen Haufen Laub, ihre Hände auf seinen Haaren, ihre Hände in seinem Nacken. Sie zog ihn hoch, schmiegte sich an ihn. Er wusste nicht, wie ihm geschah, sie lagen auf der baufälligen Mauer, seine Gefühle fuhren Achterbahn.
"Nicht denken", hauchte sie ihm ins Ohr, "einfach fallen lassen."
Davids Eingeweide verkrampften sich.
"Nicht!" Entgeistert blickte er in Loreanas Gesicht, liess von ihr ab und trat einige Schritte zurück.
"Was willst du von mir?" Sie rollte sich auf den Bauch, Mörtel rieselte auf die Plattform.
"Du gefällst mir, ich hab nur diese Nacht, danach suchen sie mich. Also, worauf wartest du?"
David war verwirrt, hier war ein weibliches Wesen, dass mit ihm ohne Bedingungen rummachen wollte, ihm, der noch nie richtig ein Mädchen - gut, da war zwar mal etwas mit Hannelore in der Oberstufe, aber die war auch noch Jungfrau und wollte es, dank strenger Erziehung, auch bleiben. Mehr als Fummeln über dem Pulli und Küssen mit Zunge war nicht. Dann, mit fünfzehn im Skilager verführte ihn eine Köchin, sie hatte Alkoholprobleme. Er beschaffte Wodka, die Übergabe fand in der Waschküche statt. Dort durfte er das erste Mal eine nackte Brust anfassen, während sie sich die Wodkaflasche und dann ihn vornahm. Es war verwirrend, und schön, aber doch falsch. Er machte die ganze Nacht kein Auge zu, hatte Angst, ihr am Morgen beim Frühstück zu begegnen. Doch soweit kam es gar nicht. Ein Lagerleiter fand sie vor Tagesbeginn sturzbetrunken neben dem Ofen, in der Hand eine leere Wodkaflasche. Noch vor dem Frühstück hatte man sie bereits in den nächsten Bus gesetzt.
"Lass uns schwimmen", rief Lory und rannte los.
Ihr Pferdeschwanz hüpfte auf und nieder - waren die Haare vorhin nicht offen? Überraschend flink zog Lory ihr Leibchen über den Kopf, David erhaschte einen kurzen Blick auf einen schwarzen Skorpion oberhalb der Hüfte, dann verschwand Lory im Inneren des Turms. Atemlos und verwirrt von seinen Gefühlen folgte ihr David zur Dachluke. Was hatte Lory vor? Aus dem Inneren drang leises Geplätscher. Es dauerte einen Moment, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten.
"Komm her, die Uhr tickt", raunte Lory, die auf dem Rand des Wasserbeckens sass, ihr Körper spiegelte sich auf der Wasseroberfläche - woher kam das viele Wasser? Und dieses Leuchten?
Lorys Füsse steckten noch in ihren Espadrilles, ansonsten war sie vollkommen nackt.
Davids Hose wurde eng, zittrig näherte er sich ihrem Körper, er wollte sie küssen, doch sie nahm seinen Kopf und schob ihn zwischen ihre Brüste. Ein süsslicher Geruch, unangenehm und schwer, die Erinnerung schlug ohne Vorwarnung zu, der LKW faltete den Toyota zusammen, als wäre er aus Papier. Der Motorblock presste das Leben aus den beiden Körpern, auslaufendes Öl mischte sich mit Blut.
"Nimm mich, David, tu es."
Er riss sich los, keuchte, sah ihr ins Gesicht. Augen voller lodernder Flammen, wurden von kaltem Grau erstickt, zuletzt blieben nur zwei tiefschwarze Löcher. David erstarrte.
Lorys Haarband bröselte zu Asche, ihr Haar wurde vom Ansatz her weiss, verfilzte Strähnen wucherten aus einer sich rot ädernden Schädeldecke. Lory, oder was mal Lory gewesen war, öffnete einen zahnlosen Mund. Fauliger Atem traf Davids Gesicht.
"Komm zu miiir, Daviiiid!", krächzte die Fratze und ihr schrilles Lachen frass sich in Davids Kopf.
Angewidert stiess er die Kreatur von sich und taumelte zurück.
Lory sah ihn entstetzt an, das Gummiband sass wieder an der richtigen Stelle, straff gebunden hielt es dichtes, schwarzes Haar zusammen, Shorts und Leibchen bedeckten ihren Körper. Mit rudernden Armen kippte sie unaufhaltsam nach hinten über den Beckenrand. Doch statt auf eine spiegelnde Wasseroberfläche zu treffen, war da nichts als gähnende Leere. David schnellte nach vorne, versuchte sie zu packen. Ein spitzer, nicht enden wollender Schrei, ein dumpfer Aufschlag.
"Lory!", schrie David in die Tiefe, das Echo verhöhnte ihn aus dem Abgrund, in der rechten Hand hielt er eine Espadrille.
Das Becken war vorhin doch noch randvoll mit Wasser? Sein Mageninhalt drängte nach oben.
Ich habe Lory umgebracht. Er fing an zu würgen.
Ich habe sie gestossen. Aber war das nur Einbildung?
Diese alte Vettel, dieser Zombie, eine Ausgeburt der Hölle.
David zitterte, konnte kaum atmen.
"Loreana!", rief er noch einmal. Keine Antwort. Er musste Hilfe rufen. Und dann? Dann bargen sie einen zerschlagenen Körper aus der Tiefe, nahmen David mit, verhörten ihn. Was er denn mit Lory da gemacht habe? Ob er sie auf den Turm gelockt, sie sich gewehrt hat? Lauter solchen Scheiss.
Nein. Das konnte er nicht zulassen. Wer hat denn hier wen? Wer wollte denn ums Verrecken ficken? Nein, diesen Schuh würde er sich nicht anziehen. Den Schuh, diesen verdammten Zebra-Latschen. Er schleuderte die Espadrille zur Dachluke hinaus. Kalter Schweiss rann ihm über den Nacken, sein Atem ging stossweise, doch eins stand fest. Das hier hat nie stattgefunden, er war nie auf diesem Turm, sollten die vom Zickenheim sie doch suchen, bis sie schwarz wurden. Lory ist abgehauen, einfach über alle Berge.
Rasch zog David sein T-Shirt an, schlüpfte in die Sneakers, schnappte sein Zeugs und rannte die Treppe hinunter. Nachdem er sich versichert hatte, dass niemand in der Nähe des Turms war, schlüpfte er aus der Stahltür.
Gerade wollte er sich auf sein Rad schwingen, da erblickte er zwischen Turm und Waldboden etwas Blaues. Lorys Espadrille, mit seiner DNA dran, ist ja heute kein Problem mehr. Schnell bückte er sich und stopfte den Latschen in seinen Rucksack. Dann trat er energisch in die Pedale und fuhr den schmalen Waldweg Richtung Dorf. Er roch den Waldboden, fauliger Atem, hörte Vogelgekreisch, ein gackerndes Lachen. Er schaute sich panisch um, überhängende Äste streiften seinen Arm, knochige Hände griffen nach ihm, er stöhnte und schwitzte, sine Oberschenkel fingen an zu brennen. Endlich entliess ihn der Wald, Schotter wurde zu Asphalt. Schwer schnaufend liess er das Rad bergab rollen, die ersten Häuser flogen an ihm vorbei und mit jeder weiteren Strassenlaterne liess seine Anspannung etwas nach, David fing an zu lachen, immer hysterischer, bis die Kraft nachliess und er in stilles Schluchzen verfiel.
***
Der Sommer ging, die Tage wurden kürzer. Doch anscheinend vermisste niemand ein Mädchen mit weissem Top und Zebra-Espadrilles. Nicht einmal im Lokalteil der Tageszeitung fand sich eine Suchmeldung. Ob er im Heim nachfragen sollte? Entschuldigung, vermissen sie zufällig ein Mädchen namens Loreana? Die liegt im Wasserturm.
Super Idee, David. Doch sein Gewissen liess ihm keine Ruhe. Kaum eine Nacht ohne Albträume. Gestern noch schwamm er in einer Kloake, rundherum ragten kalte Fliesen auf. Plötzlich durchbrach eine Fratze die Wasseroberfläche und schrie ihn an. "Bring mir meine Espadrille, David!"
Dann zog ihn etwas in die Tiefe, erst als sich seine Lungen mit Wasser füllten, wachte er schweissgebadet auf, lag im Leintuch verheddert neben seinem Bett. Er stand auf, lief zu seinem Rucksack und nahm die Espadrille heraus. War alles Einbildung? War er einfach zu bekifft und hatte diesen alten Latschen per Zufall gefunden?
"Du siehst heute aber Scheisse aus, David."
Ronny hielt ihm den Spliff hin und David winkte ab.
"Hab wieder mal kaum geschlafen letzte Nacht."
"Dann nimm doch auch einen Zug, bringt dich auf andere Gedanken."
Ronny liess die Spitze aufglühen, den Rauch stiess er genussvoll Richtung Himmel. Süsslicher Dunst waberte über den Hinterhof, umspielte die übervollen Müllcontainer und verflüchtigte sich im Geäst der alten Linde. Sie hatten Mittagspause und nutzten das schöne Wetter.
"Haste Stress mit deinem Vormund?"
"Onkel Ludwig? Nö. Der musste sogar am Wochenende zu IKEA, die von der Schutzbehörde meinten, mein altes Kinderbett sei eine Zumutung, Gesundheitsbedenken und so."
"Gesundheit..., was? Nee is klar, Rauchen auf 'ner durchgelegenen Matratze - geht ja gar nicht."
David grinste, nahm Ronny den Spliff ab und inhalierte tief.
"Biste verknallt?"
David musste husten.
"Wie ... verknallt, in wen denn?"
"Was weiss ich, meldest dich ja kaum noch."
"Bin grad nicht so gut drauf. Steinmann traut mir nix zu, inner Schule steh ich aufm Schlauch und ..."
Sollte er ihm vom Wasserturm erzählen? Und wenn Ronny ihn auslacht?
Aber so konnte es nicht weitergehen. Jede Nacht derselbe Stress, wenn das nicht aufhörte, würde er am Ende noch durchdrehen. Vielleicht lag es nur an seinem schlechten Gewissen, vielleicht sollte er mit einer Taschenlampe nachschauen gehen. Aber alleine? Keine zehn Pferde brächten ihn noch einmal auf den alten Wasserturm. Gut, wenn Ronny dabei wäre, aber wie konnte er ihn ohne viel zu verraten dazu bewegen? Schliesslich wollte er nicht als Verrückter dastehen, sollte sich alles als Einbildung herausstellen …
"Und dann was?"
"Hä?"
Ronny griff sich den Joint. "Hei, das Zeug ist zu schade, um einfach abzubrennen."
"Weisste wo es sich auch gut rauchen lässt?", fragte David betont lässig.
Ronnys gerötete Augen betrachteten über die Glut hinweg eine Krähe, die gerade auf einen Müllsack einhackte.
"Wo?"
"Aufm Wasserturm."
"Ach, bei den Graffitibrüdern?"
"Nein oben, auf der Plattform."
"Ist da nicht Einsturzgefahr?"
"Quatsch, steht bloss auf dem Schild, um Penner fernzuhalten."
"Aber ist doch sicher'n Schloss vor ..."
"Durchgerostet, was is nun?"
"Weiss nicht", grunzte Ronny. War weder Zustimmung, noch Ablehnung.
"Diesmal bring ich den Alk und das Dope mit, ok?"
Die Krähe hatte inzwischen was Essbares gefunden, sah aus wie verbranntes Hühnchen.
"Wir müssen los, Alter, keine Lust auf Steinmanns Standpauke."
Ronny drückte den Rest des Joints auf den Asphalt und warf den kalten Stummel nach der Krähe, die laut protestierend aufflatterte.
"Was ist nun mit heut Abend? Ich könnte vielleicht sogar schwarzen Afghanen besorgen."
"Du kannst Schwarzen besorgen?" Ronny pfiff durch die Zähne. "Respekt, dann also halb acht am Turm."
David hatte noch keinen Plan, wie er Ronny das fehlende Dope erklären sollte, aber er musste endlich Gewissheit haben, dass im leeren Wasserturm keine Leiche mit schwarzen Haaren lag. Die Albträume mussten ein Ende haben.
***
Sie sassen auf dem Turm, liessen die Beine baumeln und knallten sich die Birne mit der Distillers Edition aus Ludwigs Vorrat voll. Lagavulin, rauchig wie Lagerfeuer. Keine Ahnung, wie er seinem Vormund das Fehlen seiner einzigen Liebhaber-Flasche erklären sollte, aber er wollte Ronny keinen Fusel vorsetzen, schliesslich hatte er ja auch keinen Afghanen dabei, und vielleicht vergass er …
"Hei, Alter, wasn jetzt mit Dope?", fragte Ronny wie aufs Stichwort, hatte die Flasche fast im Alleingang geleert. Jetzt musste sich David einen Ruck geben, die Sache endlich klären, bevor die Party platze.
"Ich möcht dir was zeigen. Hast du schon mal einen Wasserturm von innen gesehen?"
David kramte seine Stablampe aus dem Rucksack, während Ronny ihn anglotze, als hätte der ihn eben zum Schaukeln auf den Spielplatz eingeladen.
"Keine Ahnung, was da drinnen spannendes zu finden ist, aber bitte, für Afghanisch' Frühstück mach ich alles ..." Er wankte hinter David her, der froh war, sich vorerst nicht weiter erklären zu müssen. Noch bevor sie die Luke erreichten, vernahm David eine Bewegung.
Eine schlanke Gestalt lehnte lässig an der Turmwand. Wie angewurzelt blieb David stehen, im Licht der untergehenden Sonne erkannte er einen Pferdeschwanz, weisses Top, blaue Shorts. Aber das war unmöglich ...
"Na ihr zwei, was geht?", raunte Lory.
"Hoppla, wer bisn du?", lallte Ronny und stellte sich neben David.
"Ronny, nicht, das ist bloss ..."
"Hallo David, bringst du mir meine Espadrille?"
"Ach, ihr kennt euch? Also doch. David, du alter Schwede. Warum wolltest du mir nix von deiner Freundin erzählen?"
"Das ist nicht meine Freundin."
"Nicht? Hm, auch gut. Hallo schöne Frau, ich bin Ronny."
David wollte ihn festhalten, doch er war bereits ein paar Schritte auf Lory zugegangen.
"Hallo Ronny, hast du vielleicht meine Espadrille gesehen?"
"Nein, und der leckere Whisky iss leider auch alle, aber mein Kollege hätt was zu rauchen da und - oh?"
Lory hatte sich Ronnys Nacken geschnappt und küsste ihn leidenschaftlich auf den Mund.
"Ronny, nicht, das ist 'ne Falle." Lory schaute über Ronnys Schulter und David sah wieder diese hässliche Fratze, die gleichen schwarzen Löcher, die verfilzten grauen Strähnen im Wind.
"Bleib weg, David", zischte sie, "ich will ihn - oder meine Espadrille."
Ronny war völlig weggetreten, erkannte nicht Lorys wahres Wesen, ein Zombie mit Atem wie stinkender Kompost. David drehte sich der Magen um, Lorys bleiche Knochen um Ronnys Hals, ihre Finger in seinem Schritt. Kein Zweifel, diesmal kein Vorspiel, Lory wollte ihr Opfer sofort.
Davids Angst wurde durch aufkeimende Wut verdrängt, wie oft war er nachts schweissgebadet aufgewacht, auf der Netzhaut das Nachleuchten einer grässlichen Fratze, täglich die nagende Ungewissheit, ob Loreana nicht doch ein Mensch aus Fleisch und Blut ...
Er umklammerte die Taschenlampe, Lory schob Ronny Richtung Einstieg, drückte ihren Unterleib fest an sein Becken. Ronny grunzte, schmatze und leckte an Lory herum, David würgte, sah seinen Freund mit diesem Monster rummachen, ehe beide im Einstiegsloch verschwanden. David rannte zu seinem Rucksack zurück. Hastig suchte er nach dem Unglücksding, den Beweis, dass er das alles nicht nur geträumt haben konnte. Die Espadrille mit Zebramuster. Mit der Taschenlampe in der einen, und dem Stoffschlappen in der anderen Hand, spurtete er zum Einstiegsloch zurück.
Vertrautes Geplätscher drang an sein Ohr, dazwischen Lorys schrilles Lachen, Ronny grunzte vergnügt. David knipste die Taschenlampe an, zwei Körper am Beckenrand, das Déjà-vu Gefühl war übermächtig. David kämpfte gegen den Schwindel an. Lory war nackt, ein Fuss steckte in einer Espadrille, den Zwilling hielt David fest in der Hand. Ronny stand mit runtergelassener Hose und steifem Schwanz vor Lory, knetete ihre Brust und fummelte ihr zwischen den Beinen rum. Augenblicklich begann die Verwandlung, diesmal aber hatte Lory ihr Opfer fest im Griff, Ronny stiess pfeifend die Luft aus, starrte ungläubig auf die erschlaffende Brust, an seiner Hand klebten Hautfetzen, daran zogen sich Fäden zu Lorys blanken Rippen.
"Scheisse, David, was ...?" Ronny schien mit einem Schlag nüchtern zu sein, konnte sich aber nicht aus den Klauen des Monsters befreien. Er drückte mit der freien Hand auf Lorys Schulter, rutschte ab, Fleisch löste sich vom Knochen, klatschte auf den Boden. Ronny verdrehte die Augen und hing bewusstlos in Lorys Umklammerung.
"Hei, Lory, schau mal!", rief David und hielt die Espadrille in die Höhe.
Lory warf ihren grässlichen Fratzenschädel herum, die schwarzen Augenhöhlen blitzten. Als sie ihren Schuh erkannte, lockerte sie den Griff und drehte sich herum. Ronny sackte zusammen und kam mit unnatürlich verdrehten Beinen auf dem Boden zu liegen. Lory stützte sich derweil auf den Beckenrand.
"Zieh ihn mir an", sagte sie und streckte David den Fuss entgegen. Rot lackierte Nägel, ein schöner Kontrast zum Feder-Tattoo, das jetzt eher an einen Salamander erinnerte. Der gepanzerte Körper umschmeichelte den Knöchel, der schwarzgelbe Schwanz ringelte sich um die Fessel. Ein Meisterwerk, wie echt schmiegte sich der Salamander jetzt um die Wade, wandte sich über das Schienbein hoch zum Knie. David fuhr mit dem Finger sachte die Linien nach, nie hatte er etwas Anmutigeres gesehen, eine säuselnde Stimme an seinem Ohr. "Schön, nicht wahr?"
Jetzt war er dem Salamander ganz nah, ein prächtiges Farbenspiel überzog den pulsierenden Körper, genau wie in Lorys Augen, diesen kalten, schwarzen Löchern, fauliger Atem, knochige Finger. Etwas regte sich am Boden.
"Autsch, mein Kopf, Alter was ..." Ronny stöhnte, versuchte benommen seine Beine zu sortieren.
David erkannte zu spät, dass er in die Falle getappt war. Lory packte zu, umklammerte ihn wie eine Jagdspinne die Fliege. David versuchte vergeblich, diesem Schraubstock aus blanken Ellen und Speichen zu entkommen. Gegen sein Winden schleifte Lory ihn zum Beckenrand.
"Zieh mir endliche meine Espadrille wieder an!"
Seine Finger umklammerten fest den Zebrastoff, die Knöchel traten weiss hervor. Nicht einmal in Trance hatte er seinen Trumpf aus der Hand gegeben. Ihm wurde schwindlig, konnte kaum noch atmen. Er musste ihn ausspielen.
"Dann hol in dir", keuchte David und schleuderte die Espadrille in den Abgrund des leeren Wassertanks.
"Nein, nicht …", kreischte Lory und lockerte für einen Augenblick die Umklammerung.
David rutschte unter ihr durch und war der Vettel schon fast entkommen, da packte sie ihn bei den Haaren. Ein Schmerz wie tausend Nadeln, David konnte sich nicht wehren, musste der Pein nachgeben, Lory zog ihn hoch, über den Beckenrand.
"Du hättest ihn mir anziehen sollen!", kreischte Lory und drückte mit der freien Hand seinen Hals zu. David würgte, der Raum drehte sich. Er blickte in den Abgrund, feuchte Zugluft trieb ihm die Tränen in die Augen, alles verschwamm. Gleich würde er in die Tiefe stürzen.
Der Schlag kam unerwartet, Lorys Kopf kippte zur Seite. Ein Aufschrei des Erstaunens gurgelte aus Lorys Rachen, der Griff um Davids Hals lockerte sich.
"Lass meinen Freund in Ruhe, du Schlampe!"
Breitbeinig stand Ronny vor Lory, mit beiden Händen die Stablampe umklammernd, an der ein Stück Kopfhaut mit weissen Strähnen klebte. Den zweiten Schlag setzte Ronny auf die Brust, Knochen splitterten, ausgefranste Fleischfetzen flogen durch die Luft. David hing derweil schwer keuchend über der Brüstung.
"David, weg von der Kante!"
Ronny holte erneut aus und traf diesmal voll ins Zentrum. Lory verlor das Gleichgewicht, kippte hintenüber. Mit einem ohrenbetäubenden Schrei fiel sie in die Tiefe. Dem dumpfen Aufschlag folgte gespenstische Stille. Nur das Keuchen der beiden Freunde hallte von den gekachelten Wänden zurück.
Ronny zog David am T-Shirt hoch und hielt ihn fest.
"Was war das für 'ne Scheisse? Und dann diese Espadrille?"
"Ich kann dir das erklären", krächzte David.
Ronny schielte in den Abgrund. "Ist Sie tot?"
"War Sie überhaupt lebendig?", fragte David und riss sich los.
"Scheiss drauf, wir müssen hier weg." Er schnappte seine Tasche und rannte zur Wendeltreppe. David hinter ihm her, der Lichtkegel der Taschenlampe hüpfte über die Stufen. Ronnys Schatten tanzte gespenstisch an der Krümmung der Turmwand, David hatte Mühe, die Stufen zu treffen.
Als sie auf den Vorplatz des Wasserturms stolperten, stöhnte Ronny auf und zeigte nach oben, David folgte der Richtung seines Zeigfingers und sah zuerst eine weisse Fahne im Wind wehen. Dann erkannte er sie, eingehüllt in weissem Stoff, den linken Arm wie die Freiheitsstatue in die Höhe gereckt, in der Hand eine blauweisse Espadrille.
"Du hättest sie mir anziehen sollen!", donnerte es vom Turm und der Wald warf die Worte zehnfach zurück. Das war zu viel für Ronny und David, beide sprangen wie auf Kommando auf ihre Räder und rasten los, keiner schaute zurück. Tiefhängende Äste schlugen ihnen entgegen, kratzten Arme und Beine auf, keiner der beiden bremste, nur raus aus dem Wald. Wieder wurde David vom Déjà-vu Gefühl überrollt, ein Krächzen hinter ihm und er kam vom Weg ab, konnte sich gerade noch fangen. Eine Krähe flog lautstark an ihm vorbei, drehte ab und verschwand im Dunkel der Bäume. Ronny hatte bereits die asphaltierte Strasse erreicht, David hetzte ihm hinterher. Der letzte Satz dröhnte in seinem Kopf.
Als die ersten Strassenlaternen auftauchten, hatte David zu Ronny aufgeschlossen, der schluchzendes Kichern von sich gab. Konnte aber auch das Quietschen von Ronnys Rad sein, ein alter Dreigänger mit Nabenschaltung, der eigentlich Ronnys Mutter gehörte. Auf dem Gepäckträger war ein offener Weidenkorb festgezurrt. Bei der wilden Fahrt durch den Wald hatten sich allerlei Blätter und kleine Äste darin verfangen. Zwischen dem ganzen Grünzeug sah David noch eine andere Farbe durchschimmern, eine Farbe, die so in der Natur kaum vorkam. Du hättest sie mir anziehen sollen, David.