Der Alte und der Fluss
DER ALTE UND DER FLUSS (23.02.2003)
Daniel Kirmse
Genau wie wir früher, dachte er, als er seinen Enkel beim Spielen am Bach beobachtete. Staudamm und Überschwemmung hatte das Spiel damals geheißen, als der Bach noch ein Fluss und er noch eine Junge gewesen war. Sie hatten Kanäle in den steinigen Strand gegraben, Dämme errichtet. Selbst geschnitzte Boote hatten auf dem Wasser getrieben bis die Katastrophe hereingebrochen war. Dann waren Rettungsmannschaften zusammengestellt worden, die den Damm zu flicken, die Schäden zu beseitigten hatten. Die die Menschen vor den Gewalten der Natur schützten sollten.
Damals hatte man viele starke Hände gebraucht, um einen Damm zu bauen. Heute reichten die schmächtigen Hände seines Enkels Philip.
Gedankenverloren legte das Kind letzte Hand an den Damm. Noch ein paar wenige Handgriffe und das Bauwerk ürde fertig sein. Bewundernd betrachtete Philip seine Arbeit. Er postierte seine Boote vor dem Damm. Dann stand er auf und sammelte ein paar Steine. Ein, zwei gezielte Würfe genügten, um die Katastrophe auch dieses Mal geschehen zu lassen. Philip beobachtete noch wie die kleine Flut das Spielzeug ein wenig durcheinander wirbelte. Dann hatte er genug.
Philip schaute sich blinzelnd um. Er entdeckte den Großvater auf seiner Bank am Ufer sitzen, und warf noch ein letzten Blick auf den zerstörten Damm, bevor er zu ihm rannte.
„Hallo Opa!“, grüßte Philip, als wäre dieser gerade erst gekommen. Der Kleine setzte sich neben seinen Opa auf die Bank, lehnte seinen Kopf an die Schulter des Alten.
„Na, genug gespielt?“ Der Alte streichelte zärtlich den Kopf des Jungen.
„Ja“, antwortete das Kind erschöpft und zufrieden lächelnd. Seine schmutzige Hand ruhte auf dem Schenkel seines Großvaters.
„Weißt du, als ich so alt war wie du, haben wir auch immer hier am Fluss gespielt.“
"Aber Opa, hier ist doch gar kein Fluss, hier ist doch nur ein Bach!", Philips Neugier erwachte.
"Ja, jetzt ist hier ein Bach, aber früher, früher war hier ein Fluss. Pass auf, ich erzähl dir eine Geschichte über den Fluss. Magst du?" Der Kleine nickte mit offenem Mund und staunenden Augen, er verstand nicht ganz , wo denn der Fluss gewesen sein sollte.
"Weißt du, der Bach war nicht immer so eine kleine, zahme Pfütze, wie er heute ist. Ist dir schon aufgefallen, dass er in einem viel zu großen Bett fließt?“
„Hmmm“, Philip schaute zum Bach. Sah dessen steiniges Ufer, die Böschung. „Nein, Opa“, antwortete er schließlich.
„Nein? Na, nicht so schlimm. Damals, ich war noch ein kleiner Junge, vielleicht so alt wie du heute, da war der Bach ein richtiger Fluss. Und was für ein Fluss das war! Ein fröhlicher Fluss schlängelte sich damals durch unser Dorf und über die Wiesen und Felder und durch den Wald“, geriet der Alte ins Schwärmen. „Er war noch ein wilder Fluss. Im Frühjahr, wenn der Schnee geschmolzen war, da hatte es fast jedes Jahr Hochwasser gegeben. Dann wurde unser kleiner Fluss ein mächtiger Strom. Er überschwemmte die Felder und manchmal sogar das ganze Dorf.“ Ungläubig starrte Philip abwechselnd seinen Opa und den Bach an. Er konnte nicht recht glauben, was sein Großvater da berichtete. Aber immerhin war es eine Geschichte und er hörte gern Geschichten. So ließ er den Alten weiter erzählen:
„Im Sommer dann war er über die vielen Steine gehüpft, die sich ihm in den Weg legten. Und genau wie der Fluss waren wir Kinder durch das Dorf getobt und stellten die tollsten Sachen an. Ach, was hatten wir nicht für Dummheiten im Kopf gehabt!“
„Was habt ihr da gemacht?“ Jetzt würde es doch noch interessant werden.
„Davon erzähl ich dir lieber nichts, sonst kommst du noch auf dumme Gedanken. Und am Ende sagst du, ich hätte dir das alles erzählt und deine Mutter würde mich schimpfen, dass ich dir nicht solche Flausen ins Ohr setzen solle. Na ja. Aber zurück zu unserem Fluss. Genau wie deine Mutter mit mir schimpfen würde, haben die Leute auf den lebensfrohen Fluss geschimpft. Er würde ihnen die Gärten und Felder verwüsten; und das dürfe nicht sein. Also hatten die Leute, die für so was zuständig waren, beschlossen, dass der Fluss gezähmt werden müsse. Und schließlich, als ich mit der Schule fast fertig gewesen war, da bauten sie einen Damm, weiter oben in den Bergen. Sie haben unseren Fluss eingesperrt! Von da an war er braver. Er ist nicht mehr über die Stränge geschlagen, sondern folgte nur noch stur seinem Weg. Aber ein bisschen fröhlich war er dennoch geblieben! Er hüpfte weiter, so wie vorher, über seine vielen Steine, immer noch ein bisschen aufmüpfig. Doch auch wir Jungen hatten nicht mehr diese verrückten Spiele gespielt. Wir wollten ja erwachsen sein; und da haben wir eben mächtig erwachsene Spiele gespielt.“
Philip kuschelte sich an seinen Großvater und hatte Mühe, die müden Augen offen zu halten.
„Das ging eine ganze Zeit, und wir haben uns an unseren neuen Fluss gewöhnt. Und bald hatten wir den alten fast vergessen. Dann, ich hatte deine Oma erst kurz zuvor geheiratet, da haben die Leute gesagt unser Fluss würde viel zu wild sein. Es hatte also nicht gereicht, dass sie ihn eingesperrt haben. Nein. Sie hatten ihm auch noch seine Fröhlichkeit nehmen wollen, damit sie im Sommer mit ihren Booten darauf herumfahren könnten. So hatten dann die Leute, die für so was zuständig waren, beschlossen, dass überall am Fluss Wehre gebaut werden müssten, damit der Fluss nicht mehr so reißend wäre. Von da an war unser Fluss nie wieder fröhlich gewesen. Er war nicht mehr über die Steine gehüpft. Es gab keine Steine mehr, sie hatten sie zum Bau der Wehre benutzt. Und wir Jungen, inzwischen waren wir ja schon Männer geworden, wir gingen an unseren Fluss und sonnten uns, manchmal badeten wir auch, aber lustig war es nur noch selten gewesen.
Später haben sie dann das große Stahlwerk gebaut, da wo dein Vater jetzt arbeitet. Das kennst du doch, nicht wahr?“, Philip nickte müde, „Das Werk brauchte Kohle und Erz. Und da hatten die Leute, die für so was zuständig waren, beschlossen, dass es wichtig wäre, einen Kanal zu bauen, auf dem Schiffe Kohle und Erz zum Stahlwerk würden bringen können.
Sie haben den Kanal gebaut und unser Fluss hatte sein Wasser dafür hergeben müssen. Das war gar nicht lange bevor du geboren wurdest.“
Philip war endgültig eingeschlafen. Der Alte streichelte seine Wangen, gab ihm einen Kuss auf die Stirn. Dann erzählte er die Geschichte zu Ende:
„Damals hatten sie mich gerade in Rente geschickt. Von meinem Fluss war nur dieser kleine Bach geblieben. Sie hatten ihm seine Wildheit genommen, ihn ausgelaugt. Seitdem sitze ich hier. Und manchmal, wenn es ganz still ist, dann erzählen wir uns von den alten Zeiten, wo wir beide noch jung und wild und ungestüm waren ...".