Der alte Röhl
Der Wind trieb Schnee vor sich her, er pfiff um die Hausecke, rüttelte an den Fensterläden und fuhr heulend in den Kamin. Eine dicke Eisschicht hatte die Fensterscheiben bedeckt, doch im Schankraum des Dorfkruges war es anheimelnd warm.
Zu dieser späten Stunde saßen nur noch drei Gäste am Stammtisch. Es waren Hein Reimers, Großknecht auf dem Johms-Hof, Gerd Harms, Forstaufseher des hiesigen Reviers und Fritz Timmermann, der einen eigenen kleinen Hof bewirtschaftete. Der Wirt hatte seinen Platz hinter dem Tresen verlassen und sich zu seinen Gästen gesellt. Sie waren in ein angeregtes Gespräch vertieft, vor ihnen dampften die Groggläser. In einem besonders warmen Winkel, in der Nähe des Kachelofens, döste Kuddel, ein alter Vorstehhund, zuckend in Träumen längst vergangener Jagdabenteuer. Plötzlich hob er seine Schnauze und blickte aufmerksam zur Tür hin.
Und schon wurde die Tür geöffnet und ein dick eingemummter Mann, den Kopf mit einer Pelzmütze bedeckt, trat über die Schwelle. Er blieb einige Sekunden stehen, stampfte ein paar Mal fest auf, schüttelte den Schnee von seiner Kleidung und schob sich schnaufend in die Schankstube. "’n Abend allerseits. Fürchterliche Nacht heute."
"’n Abend Willem, so spät noch auf den Beinen? Komm, setz dich man zu uns."
Der Mann nahm seine Mütze vom Kopf, zog die Jacke aus und hängte beides an einen Haken gleich neben der Tür. Dann trat er an den Tisch, klopfte zur Begrüßung zweimal auf die Tischplatte und ließ sich ächzend auf einem Stuhl nieder.
Willem Gerken war von untersetzter Gestalt, mit wettergegerbtem Gesicht und einem ungestutzten, grauen Schnauzbart. Er war Junggeselle und verdiente seinen Unterhalt mit Gelegenheitsarbeiten, half hier einem Bauern bei der Ernte, arbeitete dort als Holzfäller. Oft machte er auch Besorgungen für Dr. Siemers, den Landarzt, und kam so ziemlich weit in der Gegend herum. Wenn es irgendetwas Neues gab, erfuhr er es meist zuerst.
"Was gibt’s Neues, Willem?" fragte Gerd Harms ihn auch sogleich.
Willem Gerken war aber nicht der Mann, der sich schnell aus der Ruhe bringen ließ. "Jochen, bring uns noch ‘ne Runde, aber mit der doppelten Menge Rum", wandte er sich an den Wirt und rieb sich die frostroten Hände.
Jochen Wellers, der Wirt, erhob sich behäbig und schlurfte davon.
"Nun erzähl schon, was gibt’s Neues in der Welt?" drängte Gerd Harms.
Willem Gerken kratzte sich hinter dem Ohr. "Tja, was gibt’s Neues", wiederholte er die Frage und starrte eine ganze Weile gedankenversunken vor sich hin. "Da gibt’s eigentlich nur eine Sache. Ich weiß aber wirklich nicht, was ich davon halten soll."
"Was ist das denn für ‘ne Sache?" schaltete sich Jochen Wellers ein, der eben mit den gefüllten Groggläsern zurückgekehrt war.
"Erst mal muss ich ‘nen ordentlichen Schluck nehmen...also prost... ah...ja...so, nun ist mir schon besser." Willem Gerken schien den Grog wirklich benötigt zu haben.
"Also, dann will ich es euch mal erzählen, die Sache hat mich nämlich ganz schön durcheinandergebracht", begann er endlich. "Ich hatte für den Doktor eine Besorgung gemacht und war auf dem Rückweg. Es muss so gegen acht Uhr gewesen sein, heute Abend. Als ich durch den Schnee stapfte, kam ich mir vor, als ob ich der einzige Mensch war, der sich zu dieser Zeit noch im Freien herumtrieb. Überall strahlten mir die Lichter aus den Fenstern entgegen, hinter denen die Leute in ihren warmen Stuben am Ofen hockten. Auf der verschneiten Straße konnte ich keine Spuren entdecken, was meinen Unmut nur noch verstärkte. Ich fror und war froh, bald am Ziel zu sein. Ich freute mich schon auf den heißen Glühwein, den mir Else, die Haushälterin des Doktors, brauen würde. Wenn es besonders kalt ist, macht sie mir nämlich immer einen Glühwein.
Als ich da also so lang stiefelte, bemerkte ich auf einmal, dass ich hier draußen doch nicht ganz allein war, sondern in einiger Entfernung vor mir noch jemand ging. Ich trabte ein bisschen schneller und hatte den Kerl auch schon bald eingeholt. Es war der alte Röhl.
Was macht denn der hier? wunderte ich mich. Ich wusste nämlich, er hatte sich in der letzten Zeit nicht recht wohl gefühlt und sollte eigentlich das Bett hüten.
Als ich nun auf gleicher Höhe mit ihm war und ihm ins Gesicht blickte, erschrak ich heftig. So etwas Abgemagertes hatte ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen. Ich schwöre euch, sein Gesicht bestand nur noch aus Haut und Knochen. Außerdem war er für diese Jahreszeit viel zu leicht angezogen. Er trug nicht mal ‘ne Jacke und hatte an den Füßen nur Pantoffeln.
Ich sprach ihn also an und fragte, was er in seinem Zustand hier draußen zu suchen hätte, ob er sich den Tod holen wolle, in dieser dünnen Bekleidung, ohne richtiges Schuhwerk. Aber der Alte schien mich gar nicht zu bemerken und trottete einfach weiter, das bleiche eingefallene Gesicht stur nach vorn gerichtet.
Der ist total durchgedreht, sagte ich mir. Das Beste ist wohl, ich nehme ihn einfach bei der Hand und bringe ihn nach Hause. Doch dann fiel mir etwas auf! Ich sah nämlich, dass seine Pantoffeln überhaupt keine Abdrücke im Schnee hinterließen.
Das kann ja nun beim besten Willen nicht angehen, dachte ich mir, auch wenn jemand noch so dünn und klapprig ist. Ich guckte also noch mal genau hin, ob ich mich nicht doch geirrt hatte. Aber ich hatte mich nicht getäuscht, es waren keine Spuren vorhanden, außer meinen eigenen natürlich. Und, was soll ich euch sagen, als ich wieder aufsah, da hatte sich der Alte doch heimlich verdrückt. Wie vom Erdboden verschluckt. Genau an der Stelle war er mir entwischt, wo die Straße nach Harmstorf abzweigt.
Nun, was sollte ich machen? Ihn in der Dunkelheit zu suchen, hatte ja wohl kaum Sinn. Mir blieb also nichts anderes übrig, als weiterzugehen, doch die Sache wollte mir einfach nicht aus dem Kopf.”
"Das kann ich dir nachfühlen, Willem", bemerkte Heinz Reimers, "dass der so einfach verschwindet..."
"Tut mir leid Jungs", beendete Jochen Wellers das Gespräch. Der Wirt war aufgestanden und blickte auf die Uhr. "Sperrstunde ist schon durch, und morgen ist ja auch noch ein Tag."
"Na, dann lass uns man", sagte Fritz Timmermann und erhob sich von seinem Platz. Die anderen folgten seinem Beispiel. "Denn tschüß, bis morgen."
Als sie auf die Straße traten, trieb ihnen der Wind Schneeflocken ins Gesicht. Das Thermometer musste weit unter den Gefrierpunkt gesunken sein.
Fritz Timmermann und Heinz Reimers verabschiedeten sich sogleich, sie hinterließen tiefe Spuren im Schnee.
Willem Gerken schlug den Kragen seiner Jacke hoch und wandte sich an Gerd Harms: "Um noch mal auf den alten Röhl zu sprechen zu kommen... Ich hab’ ja gesagt, dass ich mir so meine Gedanken machte. Aber als ich im Haus des Doktors ankam, war ich immer noch nicht klüger geworden. Ich wollte gerade zu Else in die Küche, da kam Dr. Siemers zur Haustür herein. Völlig durchgefroren war der. Also gingen wir gemeinsam in die Küche, um uns heißen Glühwein machen zu lassen.
Nun, als wir da so beisammen saßen, fragte ich den Doktor, so ganz nebenbei, wo er denn so spät noch gewesen wäre. Und weißt du, was er da geantwortet hat?"
"Nee, wie soll ich das denn wohl wissen", brummte Gerd Harms, während er heftig von einem Fuß auf den anderen trat. Willem Gerken räusperte sich und brachte seinen Mund ganz nah an das Ohr seines Nebenmannes. "Der Doktor hatte drei Stunden am Krankenbett des alten Röhl zubringen müssen, bis der Alte gegen acht Uhr verstarb", sagte er schließlich, wobei er seine Pelzmütze noch tiefer ins Gesicht zog. "Ich muss vorhin einem Gespenst begegnet sein."