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Der alte Mann
Und plötzlich ist es Abend. Die Sonne ist bereits in ihrer Wolkendecke eingeschlafen, und der alte Mann sitzt immer noch mit seiner Zigarre auf der Terrasse. Die Zigarre ist eine der letzten ihrer Art, und der alte Mann raucht sie mit Andacht. Auf dem Gartentisch vor ihm steht ein etwa zur Hälfte gefüllter Aschenbecher neben einem beinahe leeren Weinglas.
Der alte Mann zieht bedächtig an seiner Zigarre, um sich durch den Rauch von innen wärmen, denn sobald die Sonne verschwindet, wird es kalt, das weiß er. Das hat er sein ganzes Leben lang immer wieder erfahren. Nach einer Weile des Nachsinnens drückt er den Zigarrenstummel im Aschenbecher aus, nimmt das Weinglas und erhebt sich mühsam von der Bank, auf der er gesessen hat. Er ist müde, und doch vergisst er sein altes Ritual nicht, er vergisst es nie, nämlich zart mit seiner rauen Fingerkuppe über die Inschrift der Bank zu fahren. Die Inschrift lautet „Philemon und Baucis“.
Der alte Mann betritt das an die Terrasse angrenzende Schlafzimmer und stellt das Weinglas auf der Kommode, auf der unzählige gerahmte Fotografien stehen, ab. Er würdigt diese jedoch keines Blickes, er hat sie oft genug gesehen, entledigt sich seiner Alltagskleidung und begibt sich schließlich zu Bett.
Normalerweise schläft er schnell ein, der alte Mann, er hat einen guten Schlaf, beinahe so fest wie die Sonne an wolkenverhangenen Tagen. Heute aber will es ihm nicht gelingen, seine Ruhe zu finden. Die Matratze ist hart, und seine Glieder schmerzen, aber vielleicht hat er vorhin auch einfach zu lange die Inschrift in der Bank betrachtet. Das Leben des alten Mannes ist einfach; es ist einfach, solange der alte Mann die Inschrift und die Fotografien auf der Kommode ignoriert.
Der alte Mann schließt die Augen. Es tauchen Bilder auf, die er nicht sehen will, die er nicht kennen will. Es tauchen Bilder auf, die er schon einmal gesehen hat, die er kennt wie nichts Anderes auf der Welt. Der alte Mann öffnet die Augen. Die Bilder sind weg. Stattdessen klafft ein Abgrund in der Dunkelheit vor ihm auf, und er muss sich entscheiden: für oder gegen das Schließen der Augen. Die Entscheidung wird ihm abgenommen, denn plötzlich erscheinen die Bilder, obwohl er die Augen weit aufgerissen hat. Er wehrt sich. Die Bilder lassen sich nicht verdrängen, heute sind sie hartnäckig. Und plötzlich, der alte Mann kann nichts dagegen tun, holen die Bilder ihn ein, nehmen ihn ein, und mit ihnen kommt die Erinnerung, und sie kommt mit einer Wucht, dass der alte Mann das Gefühl hat, sich setzen zu müssen, obwohl er doch auf dem Rücken liegt.
...
Es war einer jener besonders schlimmen Tage gewesen, an denen einfach nichts funktionieren wollte: Nachdem er sich morgens mit Theresa wegen irgendeiner Nichtigkeit so in die Haare gekriegt hatte, dass sie schrie, sie werde mit den Kindern ans andere Ende des Kontinents ziehen, hatte er wortlos seinen Mantel genommen, auf den üblichen Abschiedskuss verzichtet und war wütend vor sich hinmurmelnd zur Straßenbahn geeilt.
Diese hatte Verspätung, sodass er eine gute halbe Stunde zu spät zur Redaktionskonferenz kam, auf der er eigentlich einen Vorschlag der Titelseite für den kommenden Tag hätte präsentieren sollen – diese Aufgabe hatte ihm natürlich bei seiner Ankunft schon einer dieser karriereversessenen Jungspunds weggeschnappt. Stattdessen musste er zwei Artikel übernehmen, deren einer thematisch höchst uninteressant und banal war und deren anderer übermäßig viel Recherche- und Archivarbeit erforderte. Er hätte sich am liebsten irgendwo verschanzt, um seinem Umfeld zu entfliehen. Er war zornig auf Theresa und verletzt wegen ihrer Bemerkung, und konnte sich nicht auf seine Arbeit konzentrieren, aber wenn er es doch versuchte, hatte er bald wieder Theresas Stimme im Ohr.
Irgendwann gab er es auf, er war von Natur aus nicht willensstark genug, und verließ die Redaktion. Zumindest den banalen Artikel konnte er auch zuhause schreiben. Doch als er dort ankam, fehlte von Theresa und den Kindern jede Spur. Er wunderte sich. Christians Zimmer war übertrieben ordentlich aufgeräumt, und bei Lotte lagen nur einige Bücher gestapelt auf dem Boden.
Er setzte sich auf die Terrasse, auf die Bank, die die Inschrift „Philemon und Baucis“ trug, er hatte Theresa die Bank zu ihrer Hochzeit geschenkt, in der Hoffnung, ein bis ins hohe Alter von Liebe erfülltes Leben mit ihr zu verbringen. Seufzend fuhr er mit der Fingerkuppe über die Inschrift. In ihrer Ehe war er schon immer der Romantiker und Träumer gewesen und Theresa dafür sein komplettes Gegenteil, die andere Seite derselben Medaille, die absolute Pragmatistin und Realistin. Die Sonne streichelte sanft sein Gemüt, als er die vergangene Zeit Revue passieren ließ. Darüber fielen ihm die Augen zu, und aus unerklärlichen Gründen ruhte er, auf der Bank ausgestreckt, den ganzen Nachmittag lang.
Vier Stunden später. Ein Geräusch. Schrill und hoch. Theresas Stimme? Langsam und mit verquollenen Augen richtete er sich auf. Nein, nicht Theresas Stimme. Eine Türklingel. Seine Türklingel. Theresa, Christian, Lotte. Endlich. Erleichtert erhob er sich und wankte zur Tür.
Vor der Tür zwei Polizisten, ein großer beleibter und ein kleiner hagerer, neben ihm ein Hund. Asterix, Obelix und Idefix, schoss es ihm durch den Kopf. Obelix öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Er hörte nur Brocken, längst nicht alles. Drei Personen auf der Autobahn – Unfall – Lastwagen – Verunglückt – Tot – Tot – Tot – Tot, alle drei. Und vor ihm tat sich ein dunkler Abgrund auf, und er ließ sich bereitwillig hineinfallen, und fiel, und fiel, und fiel, und traf nirgends auf, und fiel, und fiel, und fiel.
...
Der alte Mann liegt in seinem Bett, und vor ihm tut sich ein dunkler Abgrund auf, und er fällt, und fällt, und fällt, und trifft nirgends auf, so sehr er sich auch an den Bettpfosten festklammert, er fällt trotzdem. Er zittert am ganzen Leib, Schweißperlen benetzen seine Stirn, seinen Hals, seinen Rücken. Er ist gefesselt ans Bett, er kann sich nicht rühren, er fällt nur, immer weiter, in ein Loch, er hat Angst, aber er kann nicht klar denken, er hat nur diese Angst, diese furchtbare, entsetzliche Angst. Er reißt die Augen auf, die er zuvor fest zusammengekniffen hat, und es flimmert vor ihnen.
Langsam gewöhnen sich seine Augen an die Dunkelheit, und er löst die Hände von den Bettpfosten. Er atmet schwer, die Luft im Zimmer riecht nach abgestandenem Zigarrenrauch, und der alte Mann quält sich aus dem Bett, um die Terrassentür zu öffnen. Kühle Luft durchströmt den Raum und macht die Gedanken des alten Mannes klarer.
Er sieht noch einmal Bilder vor seinem inneren Auge, nie vergessene Gesichter, und es zuckt und sticht in seinem Herzen. Dann aber übermannt ihn der Schlaf und nimmt alle Bilder und Träume von dem alten Mann.
Es ist Abend, es ist wärmer geworden, und die Sonne wirft ihre letzten Strahlen auf die Erde, und der alte Mann sitzt mit seiner Zigarre auf der Terrasse. Die Zigarre ist die letzte ihrer Art, und der alte Mann raucht sie mit Andacht. Auf dem Gartentisch steht ein fast voller Aschenbecher neben einem leeren Weinglas, und auf der Bank stehen sorgfältig aufgereiht die Fotografien von der Kommode. Ihnen allein gilt die Aufmerksamkeit des alten Mannes, lange und liebevoll und nachdenklich betrachtet er die in rötliches Sonnenlicht getauchten Bilder. Schließlich drückt er die Zigarre im Aschenbecher aus, fährt mit der flachen Hand über die Inschrift „Philemon und Baucis“ und lehnt sich zurück. Die Sonne wärmt ihn noch einmal, er genießt es mit geschlossenen Augen. Der alte Mann ist ganz ruhig, geduldig wartet er, bis die Sonne ihrer Erschöpfung nicht mehr standhalten kann und untergeht.