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Der alte Mann und die verstaubten Bilder

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19.09.2015
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Der alte Mann und die verstaubten Bilder

Der alte Mann starrte durch das spiegelnde Glas auf die graue Fassade, und die graue Fassade starrte zurück. Ihre Oberfläche war von einem Netz aus Furchen überspannt, von denen manche so fein wie Haarrisse, manche so breit wie ausgetrocknete Flussbetten waren. Die meisten entsprangen aus den Ecken der beiden nebeneinanderliegenden Fenster, in denen der alte Mann schon lange kein Licht mehr gesehen hatte.
Seufzend wandte er sich von dem Glas ab, zog die Vorhänge zu und ließ den Blick durch seine Wohnung wandern. Überall waren Bilder – an den Wänden, auf dem Glastisch, auf den Holzregalen und auf den Fensterbrettern –, und obwohl sie verschiedenste Menschen und unterschiedlichste Momente in seinem Leben zeigten, hatten sie alle etwas gemeinsam: die Staubschicht, die auf ihnen lastete und ihre einst warmen Farben verblassen ließ. Der alte Mann schloss die Augen und lauschte, während er sein stechendes Kreuz massierte. Abgesehen vom Motorenbrummen von der Straße, war das Ticken der Wanduhr das einzige Geräusch, das er hörte, und er hasste die Tatsache, dass sich mit jedem Ticken weitere Staubkörner auf seine Bilder setzten.
Als er nach einiger Zeit die Augen öffnete, fiel sein Blick auf das einzige Bild, das sauber war, das einzige, das er nicht verstauben lassen konnte. Es stand direkt vor ihm auf dem Regal, neben einem aufgerollten Seil. Er nahm das Bild in die Hand, wischte vorsichtig mit seinem Hemdzipfel darüber und betrachtete es lächelnd. Es zeigte eine junge Frau mit haselnussbraunen Haaren und Sommersprossen, die unter tiefblauem Himmel auf einem Sandstrand stand und lebensfroh in die Kamera lachte. Plötzlich spürte er einen Schmerz jenseits des Stechens in seinem Rücken, und seine Finger begannen so stark zu zittern, dass er Angst bekam, er könnte das Bild fallenlassen, woraufhin er es zurück neben das Seil auf das Regal stellte.
Er drehte sich um, öffnete die Vorhänge und starrte wieder durch das spiegelnde Glas auf die graue Fassade. Er wartete, doch nichts passierte; die Lichter blieben ausgeschaltet und die flussbettgroßen Furchen ausgetrocknet. Das letzte Mal, das Wasser durch sie geflossen war, musste Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, zurückliegen. Als es dunkel wurde, drehte sich der alte Mann nach rechts und drückte auf den Wandlichtschalter. Gleichzeitig bemerkte er im Augenwinkel ein Aufflackern an der Fassade. Er drehte den Kopf wieder nach vorne und sah, dass in den beiden Fenstern soeben ein Licht eingeschaltet worden war, gerade stark genug, um die Konturen von Möbelstücken und die Silhouette eines Menschen, der aus dem linken Fenster auf die Straße blickte, zu erkennen.
Der alte Mann stand einige Minuten regungslos da und beobachtete die Silhouette des Fremden durch das Glas. Wer war er? Was dachte er in diesem Moment? Zögerlich hob der alte Mann die rechte Hand und winkte. Der Fremde machte es ihm gleich und winkte zurück. Der alte Mann runzelte die Stirn und schluckte. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte er sich nicht alleine. Es war ein tröstendes Gefühl, doch es linderte nicht den Schmerz, den er spürte, wenn er an die Frau auf dem Bild dachte, die er seit ihrer Jugend kannte. Nichts würde diesen Schmerz jemals lindern, denn nichts konnte das Ticken seiner Wanduhr umkehren und die Farben seiner Bilder vom Grau des Staubes befreien.
Es war lange her, seit er sie das letzte Mal gesehen hatte. Sie waren an einem der letzten warmen Sommerabende einen Tee trinken gewesen. Ob das im letzten oder vorletzten Sommer gewesen war, wusste er nicht mehr genau; die Sommer und die Winter flossen ineinander wie flüssige Farben auf einem Papierbogen, wenn man ihn in die Senkrechte schwenkt.
Heute in der Früh hatte er am Telefon erfahren, dass sie eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht war.
Er hatte schon immer Angst vor dem Tag gehabt, an dem es zu spät sein würde – zu spät, sie zu sehen, ihre Stimme zu hören, mit ihr zu lachen und all die Dinge zu sagen, die er ihr noch sagen wollte. Nun war dieser Tag gekommen, und alles, was übrig war, war Staub. Bei dem Gedanken verschwamm sein Blick auf das spiegelnde Glas allmählich, und er spürte, dass die Flussbetten nicht mehr ausgetrocknet waren; was nun aus den beiden nebeneinanderliegenden Fenstern durch die Furchen der Fassade nach unten zu fließen begann, waren seine Tränen.
Er rieb sich die Augen und hob die Hand noch einmal, um dem Fremden zu winken. Wieder machte dieser ihm jede seiner Bewegungen nach, sogar, als der alte Mann beide Hände in die Luft streckte; er ließ sie auch in demselben Moment sinken, in dem er sie selbst sinken ließ. Anschließend wandte sich der alte Mann von dem Glas ab, rückte einen Sessel heran und stieg ächzend und darauf bedacht, nicht auf das Bild von der jungen Frau zu treten, über den Sessel hinauf auf das Regal. Als er einen Blick über die Schulter und durch das Glas warf, stellte er fest, dass der Fremde ebenfalls auf das Regal in seiner Wohnung geklettert war. Der alte Mann bückte sich und hob das Seil auf, das neben dem Bild lag. Er rollte es aus, befestigte das eine Ende an einem Haken an der Decke und drehte sich anschließend ein letztes Mal um. Die Silhouette des Fremden hielt nun ebenso ein Seil in den Händen und schien ihn über die Schulter anzustarren.
Nachdem er dem Fremden endgültig den Rücken zugekehrt hatte, begannen die Hände des alten Mannes wieder zu zittern. Zuerst knotete er eine Schlaufe in das Ende des Seils, dann hob er das Bild von der jungen Frau auf und betrachtete es ein letztes Mal. Schließlich legte er die Schlaufe um seinen Hals und zog den Knoten so fest er konnte, sodass sein Atem zu einem Röcheln wurde.
Der Gedanke, nur noch einen Schritt vor sich zu haben, war überwältigend. Ein ersticktes Lachen drang aus der Kehle des alten Mannes, doch als er mit den Fingern über das raue Holz des Bilderrahmens strich, verwandelte es sich in ein verzweifeltes Schluchzen. Wie viele Leben er doch geben würde, um ihre Stimme noch einmal hören zu können!
In dem Moment, in dem er den rechten Fuß um ein paar Zentimeter nach hinten über den Rand des Regals bewegte, glaubte er, ein Flüstern zu hören:
„Nicht.“
Das war sie, das war ihre Stimme! Aber nicht die müde, heisere, die er an dem Abend gehört hatte, an dem sie Tee getrunken hatten, sondern die warme, kräftige Stimme der Frau auf dem Bild.
Warum nicht, dachte der alte Mann. Sein rechter Fuß zitterte gefährlich in der Luft. Es gab keinen Grund mehr.
„Doch“, flüsterte ihre Stimme, „mein Bild. Du darfst es nicht verstauben lassen.“
Einige Sekunden verstrichen. Allmählich hörte er auf zu zittern. Er stellte den Fuß zurück auf das Regal, lockerte den Knoten, entfernte die Schlinge um seinen Hals und saugte gierig die Luft ein. Dann wischte er mit dem Hemdzipfel über das Bild der jungen Frau und konnte nicht anders, als ihr Lächeln zu erwidern, denn er wusste, dass sie recht hatte – dies war ein Grund. Vielleicht war er nicht der Größte und Erfreulichste, doch er war und blieb sein Einziger, und das genügte ihm.
Ohne, dass das Lächeln von seinem Gesicht schwand, kletterte der alte Mann zurück auf den Boden und stellte das Bild wieder auf das Regal, auf das es gehörte. Er würde sie wiedersehen, ja er würde sie alle wiedersehen, dachte er, als er den Blick über die verstaubten Bilder an den Wänden schweifen ließ, aber nicht heute, nicht morgen und nicht übermorgen; heute würde er noch Tee einkaufen gehen, morgen würde er die anderen Bilder entstauben, und übermorgen würde er sich überlegen, was er zur Beerdigung anziehen sollte.
Das Lächeln im Gesicht des alten Mannes verblasste erst, als er sich umdrehte und durch das Glas blickte. Die graue Fassade war zwar unverändert, doch das Licht, das aus den beiden Fenstern drang, strahlte nun heller als zuvor, sodass der alte Mann zwei Dinge sehen konnte: erst sah er den Fremden, der mit seinem Hals in der Schlaufe hing und dessen Füße schlaff in der Luft baumelten, dann sah er, dass die Wohnung des Fremden mit seiner eigenen nahezu identisch war, mit dem Unterschied, dass an den Wänden nicht ein einziges Bild hing; auch das Regal, auf dem der alte Mann das Bild von der jungen Frau aufbewahrte, war leer.

 

Hallo Stefan1306

während er seinen stechenden Rücken massierte
Das würde mich sehr interessieren, wie er das hinbekommt. Ich komm ja kaum an meinen Nacken heran.
dass sich mit jedem Ticken ein weiteres Staubkorn auf seine Bilder setzte.
ein schönes Bild, aber wenn ich mir vorstelle, dass bei jedem Ticken ein ! Staubkorn herabrieselt - ich würde das ein fortlassen.

dass die Wohnung des Fremden mit seiner eigenen identisch war
man kann identisch sagen, aber ich würde eher schreiben - (fast) übereinstimmte, nur die Bilder fehlten ...

Eine schöne Geschichte über das Hören der leisen Töne einer anderen Welt, die die meisten Menschen heute nicht mehr vernehmen. Gerne gelesen

Liebe Grüße

Jobär

 

Vielen Dank fürs Lesen und die Rückmeldung! Ich habe deine Vorschläge gerne integriert.
Wegen dem Rückenmassieren: Den unteren Teil des Rückens kann man sich durchaus massieren, indem man nach hinten greift (nicht über die Schulter). Vielleicht ändere ich noch "Rücken" zu "Kreuz", damit das klarer ist.

 

Hallo Stefan1306,

Kreuzbein oder Kreuz könnte mehr Klarheit schaffen, aber nötig ist es nicht. :teach: Abgesehen davon, dass ich in die Gegenden nur unter großen Schmerzen mit meinen Händen käme und es deshalb lieber sein lasse. :bla:

Liebe Grüße

Jobär

 

Dankeschön fürs Lesen und die Rückmeldung, das hat auf jeden Fall geholfen!

 

Der alte Mann stand einige Minuten regungslos da und beobachtete die Silhouette des Fremden durch das Glas. Wer war er? Was dachte er in diesem Moment? Zögerlich hob der alte Mann die rechte Hand und winkte. Der Fremde machte es ihm gleich und winkte zurück.

Hallo Stefan1306,

herzlich willkommen hierorts!

Weiß der Deibel, wann ich den alten Mann und das Meer als junger Mensch las, ich kam und komm darinnen immer noch vor. Ein gebürtiger Fisch fand, dass er in diesem Meisterwerk vorkäme, identifizierte er sich doch mit dem Schwertfisch. Ich war untergewichtig, keine 60 kg bei einem Meter achtundsiebzig, ein Skelett, das allein zusammengehalten wurde durch Sehnen (nicht nur das substantivierte Verb) und Haut. Heute bin ich der alte Mann, durch einen Bierbauch relativ normalgewichtig, dessen Bilder der Erinnerung gefressen und verklärt werden oder unter der Gnade des Vergessenkönnens vergilben. Erinnerungen sind wie's Mobiliar: Sie verstauben, was allemal besser ist als zu verschimmeln (was Bildern ja auch in nicht trockenem Medium widerfahren kann). Aber dass ich mich aufhängen wollte … Da hätt ich ja an der Angel Hemmingways bleiben können ...

Zu Deiner Geschichte, die mal zunächst durch Adjektive (Partizipien zeigen Merkmale des Eigenschaftswortes und können ihm gleichgesetzt werden), die den Tod einer jeden gelingen-wollenden Kurzgeschichte werden können. Schon der erste Satz

Der alte Mann starrte durch das spiegelnde Glas auf die graue Fassade, und die graue Fassade starrte zurück.
schreddert knapp daran vorbei)
Der alte … spiegelnde ... graue … graue …
Du kannst Dir denken, dass zumindest die „graue“ Fassade farblos hätte bleibe können bei ihrer zwoten Nennung, und der "alte" ... während der Erzählung nicht jünger wird.

Ich geh nun mit meinen Vorschlägen (nix anderes sind meine Auslassungen hier) der Reihenfolge des Muttertextes, Deines Textes nach vor

..., manche so breit wie ausgetrocknete Flussbetten waren.
(poetisch wäre „Flussbette“ möglich, würd aber – so fürchte ich – jene verwirren, die meinen, Grammatik wäre statisch). Aber das meint leider auch die Schulgrammatik, die dann den Knüppel der Hilfsverben herausholt zur Rettung der Zeitenfolge
Es war lange her, seit er sie das letzte Mal gesehen hatte. Sie waren an einem der letzten warmen Sommerabende einen Tee trinken gewesen. Ob das im letzten oder vorletzten Sommer gewesen war, wusste er nicht mehr genau; die Sommer und die Winter flossen ineinander wie flüssige Farben auf einem Papierbogen, wenn man ihn in die Senkrechte schwenkt
Kürzer
.., seit er sie ... gesehen hatte. Sie waren … einen Tee trinken gewesen. Ob das … gewesen war, …
Versuch's einmal selber, Du wirst sehn, dass es ohne war gewesen & co geht! Es setzt sich selbstveständlich auch in … hatte gehabt, selbst dem sein würde („wäre“ drängt sich da auf, zumindest mir) fort.

Hier find ich dann den einzig („richtigen“) Fehler in der Verkennung unterschiedlicher Bedeutungen

..., sodass sein Atem zu einem Röcheln wurde.
Du verwechselst da „atmen“ (als Tätigkeit) und „Atem“ (die Luft, die während des Atmens ausgestoßen wird), dem „Odem“ der Poesie, der mit der Seele des Menschen identifiziert wird. Röcheln ist Substantivierung und abgeleitet vom Verb „röcheln“(= „rasselndes atmen“). Nicht der Atem, sondern sein Atmen (Substantivierung des atmen) rasselt (bevorzugt die Lunge, aber das wäre dann wenig poetisch). Und es folgt die nächste Fall
Ein ersticktes Lachen drang aus der Kehle des alten Mannes, …
Ein Lachen kann ersticken, d. h. abbrechen, aber ist es erstickt, kommt es schwerlich noch aus der Kehle … es kommt schlichtweg gar nirgends, denn es ist verstummt! Ganz anderer Art hier:
– dies war ein Grund. Vielleicht war er nicht der Größte und Erfreulichste, doch er war und blieb sein Einziger, und das genügte ihm.
Warun all die Substantivierungen, wenn es einfach nur Adjektive/Attribute zum größten/erfreulichsten/einzigen „Grund“ sind?

Gleichwohl eine gute Idee hinsichtlich der (mindestens) zwo Seelen, ach, in einer Brust in der Spiegelungen des Ich als ein Andrer! Oder anders ausgedrückt - in den Worten Rimbauds

„Je est un autre“,
statt des grammatikalisch erwarteten
„je suis un autre“.

Gern gelesen vom

Friedel,
der vorsorglich kein allzu stürmisches Wochenende wünscht!

 

Vielen, vielen Dank für die Verbesserungsvorschläge! Ich nehme sie mir für die Zukunft zu Herzen und werde sie bei der nächsten Überarbeitung berücksichtigen, jedoch mit einer kleinen Ausnahme: Der "alte Mann" soll an jeder Stelle ein "alter Mann" bleiben, wie auch Hemingways "old man" noch auf der hundertsten Seite ein "old man" war, und nicht bloß ein "man" ;)
Danke nochmal und schönes Wochenende!

 
Zuletzt bearbeitet:

"Old man take a look at my life
I'm a lot like you
I need someone to love me
The whole day through
Ah, one look in my eyes
And you can tell that's true",​
singt Neil Young 1972 zum ersten Mal, da waren wir noch young men und hatten den Blues (es gibt einen young man's blues). Es wäre uns aber nie in den Sinn gekommen, den Strick (als solchen sahen und sehen wir selbst die Krawatte an) zu nehmen. Und das ist es, was mich immer wieder fasziniert, das junge Leute - und dazu rechne ich auf Verdacht hin Dich - einen solchen Hang zu Suizid-Geschichten haben,

lieber Stefan,

aber zunächst Mal ist es in Ordnung, den "alten Mann" als Standard einzuführen (nicht wegen des großen Vorbilds, wenn Variationen über den "alten Mann" oder des "Alten" es täten, sondern weil Dein Kopf es will und kein anderer). Der eigene Kopf ist das wichtigste überhaupt, was einer tragen kann. Alt werden ist keine Leistung an sich. Da braucht man sich nur hinzusetzen, bedienen lassen und warten. Im Ohnesorgtheater - ja, ich kenn auch "Opa wird verkauft" - kommt die Binsenwahrheit, wer lange lebe, werde alt immer wieder gut an. Aber richtig interessant wird es erst, wenn junge Leute - und ich vermute einen jungen Mann hinter Deinem nickname - auf suizidale Gedanken kommen, als könne man so die verlorene Liebe des Lebens definieren, denn in der Tat, was für ein Leben entscheidend war/ist, weiß man erst - wie in allen andern, viel trivialeren Dingen - nachher, also am Ende.

So, genug für heute - außer dem vorsichtigen Hinweis, sich auch mal ans Kommentieren von Geschichten anderer zu trauen. Muss ja nicht von mir sein, was Du dann kommentierst. Trau Dich einfach! Du heißt doch nicht Traudel, womit das eigene Zutrauen abgehakt wäre.

Tschüss & schönes Wochenende vom

Friedel

 

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