Was ist neu

Der alte Mann und das Meer

Mitglied
Beitritt
12.01.2003
Beiträge
43
Zuletzt bearbeitet:

Der alte Mann und das Meer

Er roch ganz deutlich den Duft der Blumen. Viele bunte Blütenköpfe ließen die Wiese vor dem Fenster aussehen wie einen reich bestickten Stoff, auf dem die Sonne vielfarbige Punkte aufleuchten ließ.

Und doch schloß er die Augen vor dem schönen Bild, um sich ganz und gar den Wogen süßer Erregung hinzugeben, die sich am ausgebleichten Strand seiner Seele schäumend brachen, geleitet vom sanften und doch energischen Rhythmus der Tiden. Von bekannten Ufern und fremden Gestaden erzählten raunend diese Wellen, warfen ab und zu ein Stück holzige Vergangenheit auf den Sand, das er erstaunt betrachtete, oder auch verschlungene grüne Wurzeln, die vielleicht ein innerer Sturm der Tiefe entrissen hatte. Während er sich treiben ließ, sah er manchmal nach unten in die grenzenlose Dunkelheit, erahnte dort die Existenz von großen friedfertigen Wesen, die seine Reise unsichtbar begleiteten und beschützten. Und gelegentlich hob er entzückt den Kopf, die Augen gegen das Licht gerichtet, und war glücklich, wenn der Schatten einer Möwe über sein Gesicht glitt und der herbe Schrei des Tieres sich unter das Rauschen der Brandung mischte.

Die leichte Berührung an seinem Handgelenk kam ihm vor wie ein zarter, feuchter Kuß. Er drehte langsam seinen Kopf und erblickte nasse, wilde Strähnen in einem lächelnden Gesicht. Doch bevor er sich für den Kuß bedanken konnte, wirbelte das Geschöpf herum und tauchte ab. Im Aufspritzen des Wassers sah er für einen Moment das Schimmern einer von prachtvollen Schuppen glänzenden Haut und zuletzt, wie zum zärtlichen Abschied, kurz eine Flosse winken, bevor sich die Oberfläche wieder beruhigte.

Er lächelte.

Und dann tobte und schäumte das Meer, und er hatte das Gefühl, in einen furchtbaren Strudel gezogen zu werden. Verwirrt öffnete er die Augen.

"Na endlich, Herr Schäfer!"

Die Frau beugte sich über ihn und sah ihm forschend ins Gesicht. "Na, haben Sie etwas Schönes geträumt? Aber jetzt werden wir schön artig ins Bett gehen, es ist nämlich schon arg spät."

Herr Schäfers Augen blieben leer und ausdruckslos, sein zahnloser Kiefer mahlte tonlos im faltigen Gesicht. Während die kräftige Pflegerin an seinem Stuhl die Bremsen löste und ihn herumdrehte, warf er einen letzten Blick auf die blühende Wiese draußen in der Dämmerung. All die gelben, roten und blauen Blumen... Er wollte zurück in sein Meer, er wünschte sich, weglaufen zu können und hineinzuspringen, abzutauchen in sichere Tiefen wie das seltsam schöne Wesen von vorhin.

Die Pflegerin rangierte seinen Stuhl in das kleine Zimmerchen, in dem er allein wohnte, stellte ihn vor das Bett und begann, den alten Mann hineinzuheben. Er schloß wieder die Augen, als sie mit geübten Griffen begann, die Verschlüsse seiner Inkontinenz-Vorlage zu lösen, und innerhalb von zehn Minuten hatte ihn die Frau für die Nacht vorbereitet.

"Gute Nacht, Herr Schäfer, und bis morgen. Süße Träume!" Die Frau tätschelte ihm aufmunternd die Hand wie einem kleinen Jungen, der sich das Knie aufgeschürft hat. Dann ging sie leise hinaus und schloß die Tür. Er weinte lautlos in der dunklen Stille seines Zimmers, und seine Tränen schmeckten wie salzige Tropfen des Meeres.

 

Hi Trainspotterin!
Wunderschön! Mir gefiel deine Geschichte fast besser als Hemmingways "The old man and the sea", bei deiner Geschichte blicke ich zumindest durch (was bei Hemmingway nicht ganz der Fall war). Besonders der letzte Abschnitt ist dir gelungen, aber auch die Beschreibung des Meeres.
Warum erlebt der alte Mann das Auwachen als "furchtbaren Strudel"?

Eine kleine Kritik habe ich noch: Die Pflegerin "parkt" ihn vor dem Bett. Ich finde das nicht so den richtigen Ausdruck, oder meinst du, die alten Leute im Altersheim werden einfach wie Dinge behandelt? Dann solltest du das vielleicht noch ein bisschen stärker herausarbeiten.

Ich wünsche dir einen schönen Abend!
Liebe Grüsse,
Marana

 

Hallo Trainspotterin,

Deine Geschichte ist schön geschrieben, Ausdrücke wie eine „Wiese, wie ein reich bestickter Stoff“, „ein Stück holzige Vergangenheit“ fand ich treffend und vorallem unverbraucht.
Durch die Gegenüberstellung von Realität und Traumwelt machst Du eine unausgesprochene Aussage, diese (eigentlich Unbequeme) steht wiederum im Kontrast zu der ruhigen Sprache.

Alles Gute,

tschüß... Woltochinon

 

Vielen Dank für euer Lob, liebe Kollegen!

@ Marana:

Der "furchtbare Strudel" war eigentlich als Synonym für das Gefühl des Aufwachens gedacht. Plötzlich ist das sanfte Treibenlassen vorbei und etwas "zieht" den alten Mann in die Wirklichkeit, reißt ihn brutal aus seinen Träumen. Hab auch schon überlegt, ob ich das vielleicht noch mal ändern sollte...

Das "Parken" des Rollstuhls habe ich wieder herausgenommen. Dadurch wollte ich einen leicht verächtlichen Unterton herausklingen lassen, so wie auch bei dem "gehen wir jetzt schön ins Bett", um den Unterschied zwischen Traum und Realität deutlicher zu machen. Aber ich glaube, das ist gar nicht unbedingt nötig.
(Falls jetzt gerade ein in diesem Beruf Beschäftigter wütend schnaubt: Ich habe höchsten Respekt vor Altenpflegerinnen und -pflegern und dem, was sie bei ihrem Job so mitmachen müssen. Es ist aber auch leider so, daß bei der aktuellen Pflegestufenregelung die Pflegebedürftigen in ein viel zu enges Zeitschema gepreßt werden müssen, wofür das Pflegepersonal nichts kann. Manche geben ihr Letztes, um trotz dieser Beschränkungen diesen Menschen noch einen lebenswerten Alltag zu verschaffen.)


LG

Die Trainspotterin

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom