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Der alte Mann und das Meer
Er roch ganz deutlich den Duft der Blumen. Viele bunte Blütenköpfe ließen die Wiese vor dem Fenster aussehen wie einen reich bestickten Stoff, auf dem die Sonne vielfarbige Punkte aufleuchten ließ.
Und doch schloß er die Augen vor dem schönen Bild, um sich ganz und gar den Wogen süßer Erregung hinzugeben, die sich am ausgebleichten Strand seiner Seele schäumend brachen, geleitet vom sanften und doch energischen Rhythmus der Tiden. Von bekannten Ufern und fremden Gestaden erzählten raunend diese Wellen, warfen ab und zu ein Stück holzige Vergangenheit auf den Sand, das er erstaunt betrachtete, oder auch verschlungene grüne Wurzeln, die vielleicht ein innerer Sturm der Tiefe entrissen hatte. Während er sich treiben ließ, sah er manchmal nach unten in die grenzenlose Dunkelheit, erahnte dort die Existenz von großen friedfertigen Wesen, die seine Reise unsichtbar begleiteten und beschützten. Und gelegentlich hob er entzückt den Kopf, die Augen gegen das Licht gerichtet, und war glücklich, wenn der Schatten einer Möwe über sein Gesicht glitt und der herbe Schrei des Tieres sich unter das Rauschen der Brandung mischte.
Die leichte Berührung an seinem Handgelenk kam ihm vor wie ein zarter, feuchter Kuß. Er drehte langsam seinen Kopf und erblickte nasse, wilde Strähnen in einem lächelnden Gesicht. Doch bevor er sich für den Kuß bedanken konnte, wirbelte das Geschöpf herum und tauchte ab. Im Aufspritzen des Wassers sah er für einen Moment das Schimmern einer von prachtvollen Schuppen glänzenden Haut und zuletzt, wie zum zärtlichen Abschied, kurz eine Flosse winken, bevor sich die Oberfläche wieder beruhigte.
Er lächelte.
Und dann tobte und schäumte das Meer, und er hatte das Gefühl, in einen furchtbaren Strudel gezogen zu werden. Verwirrt öffnete er die Augen.
"Na endlich, Herr Schäfer!"
Die Frau beugte sich über ihn und sah ihm forschend ins Gesicht. "Na, haben Sie etwas Schönes geträumt? Aber jetzt werden wir schön artig ins Bett gehen, es ist nämlich schon arg spät."
Herr Schäfers Augen blieben leer und ausdruckslos, sein zahnloser Kiefer mahlte tonlos im faltigen Gesicht. Während die kräftige Pflegerin an seinem Stuhl die Bremsen löste und ihn herumdrehte, warf er einen letzten Blick auf die blühende Wiese draußen in der Dämmerung. All die gelben, roten und blauen Blumen... Er wollte zurück in sein Meer, er wünschte sich, weglaufen zu können und hineinzuspringen, abzutauchen in sichere Tiefen wie das seltsam schöne Wesen von vorhin.
Die Pflegerin rangierte seinen Stuhl in das kleine Zimmerchen, in dem er allein wohnte, stellte ihn vor das Bett und begann, den alten Mann hineinzuheben. Er schloß wieder die Augen, als sie mit geübten Griffen begann, die Verschlüsse seiner Inkontinenz-Vorlage zu lösen, und innerhalb von zehn Minuten hatte ihn die Frau für die Nacht vorbereitet.
"Gute Nacht, Herr Schäfer, und bis morgen. Süße Träume!" Die Frau tätschelte ihm aufmunternd die Hand wie einem kleinen Jungen, der sich das Knie aufgeschürft hat. Dann ging sie leise hinaus und schloß die Tür. Er weinte lautlos in der dunklen Stille seines Zimmers, und seine Tränen schmeckten wie salzige Tropfen des Meeres.