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Der alte Mann und das Mädchen
„Es muss gerade erst passiert sein“, sagte der alte Mann.
„Was denn?“, fragte das kleine Mädchen und zupfte dabei zappelnd an ihrem rosa Kleid herum.
Der Mann schielte sie an. Er konnte sich nicht erinnern, wann sich das Mädchen neben ihn auf die Parkbank gesetzt hatte.
„Siehst du nicht denn Krankenwagen da drüben?“, antwortete er schließlich und deutete mit seinem Gehstock Richtung Straße.
„Ach das. Da ist einer gestorben“, antwortete das Mädchen gelassen, während sie mit ihren kleinen Füßen hin und her wippte.
„Woher willst du das wissen?“, fragte der alte Mann.
„Ich weiß es eben“, erwiderte das Mädchen.
„Du bist wohl eine ganz Schlaue, was? Erinnerst mich an meine Tochter, die wusste auch immer alles“, sagte der alte Mann und sah sie von oben herab an. Für einen kurzen Moment saßen
beide einfach nur da und starrten den Krankenwagen an.
„Wie alt ist sie denn?“, fragte das kleine Mädchen.
„Wie alt ist wer?“, entgegnete der alte Mann verwirrt.
„Na deine Tochter!“, antwortete das Mädchen ungeduldig, dabei suchte sie unter der
Bank nach kleinen Steinchen.
„Oh. Ich schätze, sie war nicht viel älter als du es jetzt bist. Weißt du, sie wurde leider schwer krank und ist schon im Himmel.“ Der alte Mann starrte nachdenklich auf den Boden und bemerkte nicht, wie sich das Mädchen vor ihn stellte und ihn anstarrte.
„Warum sind die so bunt?“, fragte sie den alten Mann und holte ihn damit aus seinem Tagtraum.
Er sah, wie das kleine Mädchen auf die obersten Knöpfe seines alten, dunkelgrauen Mantels zeigte. Es war offensichtlich, dass die oberen zwei Knöpfe nicht die ursprünglichen waren, denn sie passten so gar nicht zu den anderen.
„Sag mal wo sind eigentlich deine Eltern?“, lenkte der Mann ab.
„Meine Mama hat gesagt, ich soll hier auf meinen Papa warten“, antwortete das Mädchen und fuchtelte dabei mit ihren Haaren herum.
Der alte Mann nickte skeptisch und grummelte etwas, das ein „Aha“ hätte werden können. „Warum sind die so bunt?“, wiederholte das Mädchen die Frage im exakt gleichen Tonfall wie zuvor. „Ok, ok. Ich erzähle es dir ja. Aber dann hörst du auf so rumzuzappeln.“
Das kleine Mädchen sprang zurück auf die Bank und grinste den alten Mann erwartungsvoll an.
Er räusperte sich.
„Damals, bevor meine Frau von mir gegangen war, hatten wir eine Schneiderei mit der größten Knopfsammlung, die du dir vorstellen kannst. Es kamen sehr oft Leute zu uns, die einen Knopf verloren hatten und wir waren sehr stolz darauf ihnen immer einen passenden anbieten zu können.
Ich habe in dieser Zeit Hunderte von Knöpfen angenäht. Abgesehen von der Buchhaltung war es nun mal das Einzige, was ich zum Geschäft beitragen konnte.
Richtig nähen konnte ich ja nicht. Meine Frau hingegen war eine äußerst begabte Schneiderin, sie nähte die schönsten Kleider und war dafür in der Stadt bekannt. Nur mit Zahlen hatte sie es nicht so.“ Der Mann lachte und sah dabei skeptisch zu, wie das kleine Mädchen Grashalme vom Wegrand zupfte.
„Wo ist sie denn hingegangen?“, fragte das Mädchen mit abgewandtem Blick.
„Wo ist wer hingegangen?“, erwiderte der alte Mann.
„Na deine Frau!“, antwortete das Mädchen und verdrehte die Augen. Der Mann suchte nach einer passenden Erklärung und beobachtete wie das Mädchen versuchte auf der Wegbegrenzung zu balancieren.
„Weißt du mein Kind“, begann er beschwerlich. „Als meine Tochter in den Himmel kam, wurde meine Frau sehr traurig. Sie wollte nicht, dass ihr Kind alleine im Himmel ist, ohne seine Mutter. Also beschloss sie eines Tages auch in den Himmel zu gehen, um bei ihr zu sein.“
Der Mann blickte in das erstaunte Gesicht des Mädchens.
„Und warum bist du dann nicht mit in den Himmel gegangen?“, fragte das Mädchen.
„Oh das wollte ich. Sogar noch vor meiner Frau“, entgegnete er. „Ich ging zu der großen Brücke am Rande der Stadt, die über den Fluss führt, dort sollte meine Reise beginnen. Aber als ich dort ankam, entdeckte ich auf einmal diesen Knopf.“ Er tippte mit seinem Finger auf den obersten Knopf an seinem Mantel.
Das Mädchen trat näher heran um den Knopf näher zu betrachten. Er war grün und hatte ein schimmerndes Wolkenmuster, das ihn irgendwie verrückt aussehen ließ.
Der Mann fuhr fort: „Der Knopf lag einfach so da, direkt vor meinen Füßen. Glaub mir, ich kenne eine Menge Knöpfe, aber so einen hatte ich noch nie zuvor gesehen. Jemand musste ihn dort auf der Brücke verloren haben und war vielleicht schon auf dem Weg in unsere Schneiderei. Mich störte der Gedanke, dass zum ersten Mal jemand zu uns kommt, dem wir keinen passenden Knopf anbieten können. Also hab ich ihn aufgehoben und bin wieder nach Hause gegangen.“
„Und wem hat der Knopf gehört?“, unterbrach ihn das Mädchen.
„Das kann ich dir leider nicht beantworten, er wurde nie abgeholt.“
„Und der da?“, fragte das kleine Mädchen und zeigte diesmal auf den zweiten Knopf. Es war ein großer, goldener, mit einer verschmierten, schwarzen Aufschrift darauf. Der alte Mann holte tief Luft.
„Nachdem meine Frau sich auf die Reise zu unserer Tochter gemacht hatte, war ich erneut fest entschlossen ihr zu folgen und hatte vor wieder zu der Brücke zu gehen. Es war Abend und ich wollte gerade die Tür der Schneiderei abschließen, als plötzlich ein Mann in einem goldenen Kostüm vor mir stand. Er war Musiker und fragte mich mit tiefer Stimme ob der Laden schon geschlossen hat.
Er erklärte mir, dass er in drei Tagen einen Auftritt in der Stadt habe und dafür dringend noch goldene Knöpfe benötigte.
Ich sagte ihm, dass ich leider keine goldenen vorrätig habe, sie aber bestellen könne. So machte ich am nächsten Morgen die Bestellung und verschob meine Reise erneut aufgrund eines Knopfes. Ich konnte ja nicht mit gutem Gewissen zu der Brücke gehen, ohne dem Mann vorher seine bestellten Knöpfe auszuhändigen.
Sein Name war Elvis Presley, und als er seine Knöpfe abholte, war er so froh darüber, dass er mich kurzerhand zu seinem Konzert einlud. Es stellte sich heraus, dass er einen enormen Bedarf an Knöpfen hatte, weil er am Ende jeder Show seine Jacke ruckartig aufriss, sodass alle Knöpfe kreuz und quer durch den Raum flogen.
Am Ende begleitete ich ihn auf seiner Welttournee und versorgte ihn unterwegs weiter mit Knöpfen. Zum Dank schenkte er mir diesen Knopf aus echtem Gold, mit einem Autogramm von ihm drauf.“
Der alte Mann klopfte mit dem Griff seines Gehstocks leicht gegen den goldenen Knopf, ein metallischer Klang ertönte. Das kleine Mädchen unterbrach ihre Purzelbäume, um den Knopf zu untersuchen. Sie entdeckte, dass jemand die Initialen „EP“ mit einem schwarzen Filzstift auf den
Knopf geschrieben hatte.
„So haben mich diese simplen Knöpfe mehr als einmal vor einer Dummheit bewahrt. Deshalb habe ich sie mir an meinen Mantel genäht, damit sie mich immer daran erinnern“, erklärte der alte Mann.
„Wo bleibt denn nun dein Vater?“, fragte der alte Mann ungeduldig.
„Der kommt bald, Mama hat gesagt, dass es etwas dauern kann“, antwortete das Mädchen.
Beide schwiegen kurz, dann drehte sich der alte Mann zu dem kleinen Mädchen, das diesmal ganz still auf der Bank neben ihm saß.
„Weißt du, wenn man so alt ist und so viel erlebt hat wie ich, denkt man wieder oft an die Reise in den Himmel. Nur dass ich dazu jetzt keine Brücke mehr brauche.“
Der alte Mann setzte ein Lächeln auf und zwinkerte dem kleinen Mädchen zu. Dann kramte er eine alte Lederbrieftasche aus seinem Mantel, zückte ein abgegriffenes Familienfoto aus ihr hervor und starrte es an.
„Es ist wirklich verblüffend, wie sehr du meiner Tochter ähnelst. Nach all den Jahren vermisse ich sie immer noch sehr.“
Plötzlich rief das Mädchen: „Ich glaube, da kommt mein Papa!“, und deutete aufgeregt auf die
andere Straßenseite, wo noch immer der Krankenwagen stand.
Der alte Mann erkannte nun das Gebäude, vor dem der Krankenwagen stand. Es war seine alte Schneiderei. Die Eingangstür öffnete sich und zwei Rettungssanitäter schoben eine Trage heraus,
auf der ein bewusstloser Mann lag.
Als der alte Mann das Gesicht des Bewusstlosen sah, überkam ihn plötzlich einen stechender Schmerz, als hätte jemand ein Messer in seine Brust gerammt.
Wie in einem Spiegel erkannte er sein eigenes Gesicht und verstand: „Der Mann auf der Trage bin ich!“ Notarzt und Sanitäter kämpften mit allen Mitteln um das Leben des Mannes und verloren. Der Mann auf der Trage war tot.
Der Schmerz ließ nach. Erschöpft nahm der Mann seine Hand von der Brust und versuchte zu Atem zu kommen. Doch es war nicht länger die Hand eines alten Mannes, sein Gesicht war faltenlos, jegliche Gebrechen wie weggeblasen. Er schaute wild um sich. Es war alles so klar:
Das Zwitschern der Vögel, der Geruch in der Luft.
Dann blickte er in das lächelnde Gesicht des kleinen Mädchens und erkannte seine Tochter.
„Da bist du ja! Lass uns nach Hause gehen, Mama wartet schon.“