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Der alte Mann und das Ei
Ich betrat den Planeten Astari mit nichts als meinem Gehstock und den Kleidern am Leib. 90 Jahre Vergangenheit hatte ich zurückgelassen: Familie, Freunde, Geld. Einige nahmen's mir übel, bloß dem Geld war alles egal. Meine Erinnerungen, die nahm ich natürlich mit. Alle, die ich noch hatte, und wegen der verdammten Krankheit waren das nicht allzu viele. So hatte ich heute früh vergessen, wo ich das Flugticket verstaut hatte. Hektisch hatte ich danach gesucht, bis ich es in der Innentasche meiner Jacke fand, die ich schon die ganze Zeit trug.
Ich mochte nicht daran denken, dass ich keine Rückfahrkarte besaß. Es zog mich ohnehin nicht heim. Auf der Erde hatte ich in einer nervösen Schlange Reisender gewartet. Hier fluchte niemand, weil alles so lange dauerte. Die Zeit war hier niemandes Feind.
Astari begrüßte mich mit dem Duft von Frühling, dem Rauschen von mächtigen Baumkronen und dem Gefühl, endlich die Endstation erreicht zu haben. Ich stand mitten im Geäst des Einen Baumes, dessen Triebe breit wie Straßen waren und kaum merklich schwankten. Ein Blick hinauf: Das lichte Blätterdach hoch oben verbarg die Sonne, spielte mit dem Licht und klang wie ewig rauschende Gischt.
Ich stützte mich auf meinen Gehstock und ging einige Schritte den Ast entlang. Der Fußweg war wie eine tiefe Kerbe; unter mir war glatt geschliffenes Holz. Die Astari-Baumeister hatten links und rechts mannshoch die dicke Rinde stehen gelassen, damit niemand in den Abgrund fiel. Gut für mich, war ich doch zeitlebens nicht ganz schwindelfrei gewesen – mir wurde immer noch anders, wenn ich an meinen ersten Schulausflug auf den Turm des Kölner Doms zurückdachte. Ich strich mit den Fingerkuppen über das Holz; es fühlte sich warm an – lebendig.
Am Empfang der Brutstätte erwartete mich hinter einer Theke eine Astari-Henne in weißem Kleid mit blauem Schal. Die dünnen Arme der Betreuerin waren von Flaum bedeckt, ihre krallenhaften Finger benutzten ein Klemmbrett als Fächer. Auf der Theke standen Schokoladen-Männlein mit Schleifen: Geschenke zur Begrüßung, vermutlich gesponsort von einem irdischen Wohlfahrtskonzern.
»Herr Steganus«, sprach die Henne mich an und klapperte mit dem Schnabel. »Im Namen des Ewigen Phönix von Astari begrüße ich dich. Wähle eines der Männlein, und begleite mich in dein Zimmer.«
»Danke!« Ich schob den nächstbesten Schokomann in meine Jackentasche und hoffte, dass er nicht zu schnell schmelzen würde.
»Ich bin Fürsorgerin Kec-k. Ich bin sicher, du wirst hier auf Astari einige erfreuliches Dinge erleben. Deine Unterkunft hat eine fantastische Aussicht. Gleich da vorne ist der Aufzug.« Die Henne ging voraus, gar nicht vogelhaft. Über eine Hängebrücke erreichten wir einen Stamm mit einer rustikalen Schiebetür. Kec-k öffnete und ließ mir den Vortritt. Die Kabine war von innen holzvertäfelt, und aus verborgenen Lautsprechern klang Vogelgezwitscher. Ich schloss die Augen und schwebte gen Himmel. Der Aufzug glitt durch den Stamm nach oben, hielt, und entließ uns in die Brutwipfel des Planeten.
»Wir nennen dies unsere Nester, aber soweit ich weiß, stellt man sich bei Ihnen zuhause etwas anderes unter diesem Begriff vor.« Kec-k klapperte mit dem Schnabel. »Hier oben sind unsere Eier der Strahlung unserer Sonne nahe, und fern von den Bedrohungen der Sumpfgeister tief unten.«
»Sumpfgeister?«
»Das ist unser arkaner Glaube. Wir wissen es inzwischen besser, aber wer legt alte Gewohnheiten schon gerne ab?«
Ich musste grinsen. »Bei uns auf der Erde ist es so ähnlich.« Ich blieb stehen und ließ den Blick schweifen. Hier, nahe unter dem Blätterdach, war es wärmer als unten, und ein leichter Wind spielte mit Laub, Licht und Schatten. Die Äste waren auch hier noch dicker als ein Mensch, aber sie schwankten merklich. Man hatte mich davor gewarnt. Glücklicherweise war ich noch nie seekrank geworden.
Zwischen den Ästen waren Seile festgezurrt, erzeugten ein dichtes Netz, in das schalenförmige Miniatur-Habitate eingebettet waren. Jedes durchmaß vielleicht zehn Meter und war drei Meter hoch. Ich sah hier und da Fürsorgerinnen umherlaufen, aber hauptsächlich gingen Menschen spazieren oder saßen gemütlich auf polierten Ästen, palaverten, genossen Licht, Luft und den Rest ihres Lebens.
Sie alle waren alt. Sie alle trugen helle, farbige Umhänge. Und darunter, deutlich sichtbar, ein Astari-Ei vor dem Bauch.
Ich streichelte mein Ei. Ich hütete es wie einen rohen Diamanten. Nein, ein schlechter Vergleich. Diamanten waren für ihre Stabilität bekannt. Eier nicht. Ich hütete mein Ei wie*... nun, um ehrlich zu sein*... wie meine eigenen. Ich bewahrte es auch ganz in der Nähe auf, nämlich in meinem Schoß, unter meiner Robe. So saß ich in meinem Nest, ließ einfach den Blick schweifen, beobachtete die kleinen, bunten Vögel im Baum, wie sie Insekten jagten und mir ab und zu überhebliche Blicke zuwarfen. Vermutlich, weil ich keine Flügel besaß. Tja, in dieser Hinsicht waren sie besser dran, das war nicht zu bestreiten. Auch in anderer Hinsicht. Sie waren Teil eines Schwarms. Für ihr ganzes Leben. Dies galt für mich erst jetzt.
Als ich des flatterhaften Verkehrs im Baum überdrüssig wurde, befahl ich meiner Brille, eine Comedy-Serie abzuspielen. Am liebsten mochte ich diese englischen Komiker, denen nichts zu peinlich war. Sie brachen mit Normen wie ein Nussknacker eine harte Schale, so dass etwas Weiches, Leckeres zum Vorschein kam. Etwas wie das Lachen, das ja angeblich Leben verlängern konnte. Meines vermutlich nicht wesentlich, aber der Versuch konnte nicht schaden.
Ich verlor mich in jener Welt, in der es keine Bedürfnisse gab als den nächsten Witz, bis mir jemand an die Schulter griff. Ich schob die Brille hoch, und fast hätte ich mein Ei vergessen und wegrutschen lassen, als ich Lisa erkannte.
»Na, mit dir hätte ich hier ja als letztes gerechnet«, sagte sie und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Lisa! Wir haben uns ja seit ... seit ...«
»... unserer Scheidung nicht gesehen, ganz genau. Bietest du einer alten Frau keinen Sitzplatz an?«
»Doch, hier ... bloß deine Lieblingspralinen habe ich gerade nicht da.«
Lisa setzte sich neben mir auf das breite Sofa, das sich innen halb um das Nest zog. Sie hatte die silbernen Haare mit einem roten Band in einen strengen Zopf gezwungen, und ich konnte den Blick nicht von den unzähligen Lachfältchen um ihre dunklen Augen nehmen. Ich versuchte krampfhaft, jetzt bloß nichts falsches zu sagen, also schwieg ich. Lisa nicht: »Ich nehme alternativ dieses Schokomännchen da. Und wenn du jetzt behauptest, ich hätte mich überhaupt nicht verändert, schmeiße ich dich vom nächsten Ast.«
Ich griff nach der bunt eingepackten Süßigkeit. »Wir könnten mal was neues probieren: Gerecht teilen.«
Lisa verzog das Gesicht. »Du redest schon wie unsere fliegenden Gastgeber.«
»Die Astari sind Laufvögel.« Ich reichte Lisa die Schokolade.
»Immer noch der alte Neunmalklug.«
Ich seufzte. »Woher wusstest du, dass ich hier bin?«
»Ganz einfach, ich war auf dem Heimweg vom Seniorenturnen und hab dich gesehen. Zeigst du mir dein Ei, wenn ich dir meins zeige?«
»Ich wette, das wolltest du mich schon immer mal fragen. Leider trage ich überhaupt nichts drunter, und das Recht, zwischen meine Beine zu sehen hast du ungefähr zur gleichen Zeit verwirkt wie ich das Recht, meine Tochter täglich zu sehen.« Dabei streckte ich Lisa die Zunge raus.
»Punkt für dich«, sagte Lisa und knabberte Schokolade. »Wie steht's?«
»Ich weiß nicht«, gab ich zu, »aber vermutlich auf beiden Seiten dreistellig.«
Nachdenklich sah Lisa hinüber zu den anderen Nestern. Überall saßen alte Leute – Menschen, Astari, andere Rassen von den nahen Sternen, palaverten, aßen, schliefen, starben, und brüteten dabei ihre Eier aus. Mit einer Geduld, die nur aufbrachte, wer keinen wichtigeren Termin mehr hatte als den Tod. »Es ist so friedlich«, sagte Lisa und streichelte ihr Ei unter ihrem Umhang. »Und so einfach.«
»Ich habe etwas darüber gelesen.« Ich runzelte die Stirn, weil ich mich nicht genau erinnern konnte. »Die Astari hatten ein paar üble Probleme. Früher. Es war also nicht immer so einfach und friedlich. Leider habe ich mal wieder die meisten Details vergessen.«
Lisa nickte. »Du hast dich immer nur an die Dinge erinnert, die dir wichtig waren. Die Fußballergebnisse, den Busfahrplan, meine Unzulänglichkeiten. Die Astari hatten früher Angst, dass ihre Küken von Sumpfgeistern besessen schlüpfen, wenn sie die Eier auch nur einen Moment aus den Augen lassen.«
Ich erinnerte mich. »Sie haben ausgewachsene Glaubenskriege angezettelt, richtig?«
»Die südliche Hälfte des Planeten besteht auch heute noch hauptsächlich aus radioaktiver Asche und Knochenfragmenten. Sie haben hier eine ganze Reihe Filme darüber. Solltest du dir ansehen. Übrigens importieren sie diese Schokolade von Tau Ceti, wusstest du das?« Lisa reichte mir den Rest des Schokomännchens. »War eine verdammt gute Idee von den Hennen, das Brüten uns Alten zu überlassen, die eh nichts besseres zu tun haben, und stattdessen ihren aufgeplusterten Hähnen sowas wie Vernunft beizubringen. Ein Vorbild an Emanzipation für die ganze verdammte Galaxis, wenn du mich fragst.«
Vorsichtig drehte ich mein Ei, um es gleichmäßig zu wärmen. Jetzt bloß nichts falsches sagen. »Was macht mein Nachfolger?«, fragte ich.
Lisa deutete mit dem Kinn unbestimmt nach vorn. »Ist vor zwei Wochen zu den Sumpfgeistern gegangen. Sein letzter Flug. Warum fragst du?«
»Er war auch hier?«
Mit einem Seufzer wandte Lisa den Blick nach oben. »Ich dachte, Eifersucht muss man am Empfang abgeben. Vielleicht ist's auch schon zwei Monate her. Spielt eh keine Rolle, schätze ich. Wir sind nicht hier, um Stunden oder Minuten zu zählen. Sondern um mal was wichtiges zu machen.« Sie sah mich an. »Ist noch was von der Schokolade übrig?«
Eine fast vergessene Schublade in meinem Kopf öffnete sich knarzend einen Spalt. Ich wusste nicht mehr, was darin lag, und der Spalt war nicht breit genug, um hinein zu sehen. Es war keine Schokolade, da war ich mir sicher. Es war etwas wichtigeres. Etwas, das bitterer war, und trotzdem schmeckte.
Etwas, das mich von jetzt an wieder begleiten würde. Das ich beschützen würde. Wie das mir anvertraute neue Leben, das sich zwischen meinen Beinen an meiner Wärme labte.
»Alle Achtung, die Astari sind noch pfiffiger als ich dachte.« Ich schob mir den Rest Schokolade in den Mund, bevor sie anderswo verschwand. »Ich glaube nicht an Zufälle oder Schicksal. Weißt du, wie weitläufig die Brutwipfel sind? Die Hennen haben mich sicher absichtlich in deiner Nähe einquartiert.«
»Eins ist sicher: Kein männliches Wesen wäre empathisch genug, um auf diese Idee zu kommen. Im ganzen Universum nicht.«
»Irgendwas Wichtiges wurde beim Urknall anscheinend ziemlich ungleichmäßig verteilt. Wäre sonst zu langweilig geworden.« Ich legte Lisa sanft den Arm um die Hüften. Sie ließ es geschehen. Grinste. Streckte mir die Zunge raus.
»So ist das also«, sagte sie.
Wir lachten, bis sich die Leute in der Umgebung zu uns umdrehten.