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Der alte Mann am Marktplatz
Ich wurde erschlagen. Eigentlich war der Marktplatz irgendwo in Kabul genau so, wie er mir beschrieben wurde. Trotzdem wurde ich erschlagen. Von den unzähligen Gerüchen, die sich vermischten. Dem Stimmgewirr aus Sprachen aller Herren Länder. Von den angebotenen Lebensmitteln, Werkzeugen, Spielsachen und einem beträchtlichen Teil an Dingen, die ich nicht kannte. Von der fremdartigen Musik, von der ich nicht wusste, woher sie kam und von der erdrückenden, stickigen Hitze. Vor allem aber wurde ich von den Menschen erschlagen, diesen unendlich viele Menschen, die sich durch die schmalen Wege zwischen den Ständen drängten.
Seit ein paar Tagen befand ich mich in der Stadt, erst jetzt fand ich die Zeit, die Stadt anzusehen. Nun war mir schwindlig, als hätte mir tatsächlich jemand eine Keule über den Schädel gezogen. Es fühlte sich an, als zöge mir jemand den sandigen Boden unter meinen Füßen fort. Ich taumelte durch die Menschenmassen und fand etwas abseits des Getümmels ein schattiges Plätzchen. Es war die Schwelle eines Hauseingangs, doch ich hatte Angst, dass meine Beine unter mir nachgaben, also setzte ich mich. Ich zog eine Flasche Wasser aus meinem Rucksack, trank so viel meine Übelkeit zuließ und kippte mir zur Abkühlung etwas davon in den Nacken. Meine Gedanken klarten langsam auf, ich versuchte, ruhig zu atmen. Für einen Moment schloss ich die Augen, doch hinter meinen Lidern tanzten Farben wild auf und ab, deshalb öffnete ich die Augen wieder und starrte auf meine Sandalen. Immer wieder trank ich kleine Schlucke, bald fühlte ich mich besser.
Ich sah auf und beobachtete das Treiben des Marktes. Ein Händler, der lautstark seine Ware anpries, hatte auf dem Tisch vor sich die verschiedensten Dinge ausgebreitet: Eine Sammlung von Taschenmessern, Wegwerf-Handys, Armbanduhren, Taschenlampen und ein Samurai-Schwert. Waren das daneben Fidget Spinner? Ich schüttelte den Kopf darüber, dass es diesen Quatsch auch hier gab.
Unweit von mir stritt eine Gruppe von Männern auf paschto, wie ich vermutete. Es schien eine hitzige Diskussion zu sein. Ein kleiner, dicker Mann schwang eine aufgerollte Zeitung, um seine Worte zu unterstreichen. Der junge Mann - vielleicht Mitte zwanzig – unterbrach ihn. Da schlug der Dicke ihm mit der Zeitung auf den Kopf und sagte etwas. Alle lachten, auch der junge Mann rang sich zu einem Lächeln. Dann sprachen sie weiter und der Ärger schien vergessen.
Abseits des Gedränges saß ein alter Mann im Schneidersitz auf einer dünnen, türkisfarbenen Decke. Er hatte graues Haar, ein faltiges Gesicht und ein blassen, traurigen Schleier in den Augen. Vor ihm lag nichts als ein kleiner Koffer in sehr gutem Zustand, fast wie neu, davor ein Preisschild in Postkartengröße. Hundert Afghani, umgerechnet etwas mehr als ein Euro.
Eine Frau kam vorbei und hielt ihm wortlos ein paar Münzen hin, doch er schüttelte den Kopf und sprach zu ihr, dann ging sie weiter. Sie wirkte nicht gekränkt, aber verwirrt.
Neugierig stand ich auf, langsam, um meinen Kreislauf zu schonen, und ging zu ihm hinüber. Vor ihm blieb ich stehen, sah in den Koffer. Er war leer bis auf eine zusammen gefaltete Weltkarte und einen Kompass. Der alte Mann sah zu mir herauf, gegen die Sonne blinzelnd. In seinen Zügen lag Güte und Melancholie.
Ich ging in die Hocke, das erschien mir respektvoller. Ich kramte in meinem winzigen Wortschatz und fragte dann auf dari: „Wissen Sie denn nicht, dass diese Dinge viel mehr wert sind?“
Er winkte ab und sagte etwas, das ich nicht verstand, deshalb bat ich ihn, es langsam zu wiederholen.
„Ich würde sie auch verschenken“, sagte er. „Ich möchte sie nur nicht irgendjemandem geben.“
Er sah, dass ich nicht verstand, also sagte er: „Ich möchte diese Dinge in den richtigen Händen wissen.“
„Warum behalten Sie sie dann nicht?“, fragte ich.
Er lächelte mit dem Mund, nicht aber mit den Augen, dann sagte er: „Diese Dinge belasten mein Herz.“
Er schwieg für einen Moment und betrachtete mich mit forschend. „Bitte, nehmen Sie es mit. Alles.“
Wie er es sagte, klang es mehr nach einer Bitte als nach einem Angebot.
„Okay“, sagte ich, obwohl ich nicht wusste, was ich mit dem Zeug sollte, und kramte in meiner Tasche.
„Nein, nein. Ich will kein Geld. Bitte, nehmen sie nur.“
„Sind Sie sicher?“
„Ja“, sagte er, klappte den Koffer zu und streckte ihn mir hin.
Als ich den Koffer entgegennahm, lachte er, und diesmal erreichte die Freude seine Augen, sein ganzes Gesicht. Ich bedankte mich und wollte gehen, doch dann wandte ich mich noch einmal zu ihm um.
„Warum wollen sie diese Dinge loswerden?“
Der Alte seufzte. „Das waren meine Träume.“