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Der alte Herr Amsel

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01.08.2003
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Der alte Herr Amsel

"Als dann", sprach der alte Herr Amsel, als er nach 56 Jahren Einzelhaft das Tor schloss und das erstemal seit über einem halben Jahrhundert wieder in die Sonne blinzelte.
Er ging über die Strasse und setzte sich auf den Bürgersteig. Ihm war langweilig. Seit 56 Jahren war ihm langweilig, und der Bürgersteig konnte daran auch nichts ändern.
Aus dem Gulli neben Herrn Amsel wuchs ein Gänseblümchen. Es intressierte ihn nicht. Die Dinger sehen immer noch so aus wie damals, dachte er, als er sie mit dem Fuss zermalmte.
Er schaute auf seine Armbanduhr. Es war dreizehn Uhr vierundfünfzig. Es war seit 56 Jahren dreizen Uhr vierundfünfzig. Bei seiner Verhaftung hatte er Wiederstand geleistet. Das war wohl selbst für ein gutes, deutsches Uhrwerk zu viel, dachte er.
Er überlegte was er außer der Uhr noch besass. Neben ihn auf den Bürgersteig lag ein alter Schirm. An der Spitze klebte Blut, ebenfalls ein Überbleibsel von der Festnahme. Seine Halbglatze wurde von einem Hut bedeckt. Außerdem trug er eine chice, schwarze Hose, einen braunen Pullover und darüber einen langen schwarzen Mantel. In seiner Manteltasche hatte er einige Scheine und einen Schlüßel.
Richtig, entsinnte er sich, ich habe ein Haus.
Herr Amsel richtete sich mühsam auf. Er ging die Strasse entlang. Es war morgens und die Strasse war leer.
Sein Bein schmerzte. Vielleicht hatte er eine Kugel im Schenkel, er war sich aber nicht sicher.

Am Rande war ein kleiner Lebensmittelladen. Herr Amsel betrat ihn. Aus dem Radio neben der Kasse vernahm er etwas Fremdes. Wahrscheinlich Musik. Die junge Verkäuferin nickte ihm zu. "Hei..." brummte Herr Amsel bevor er den Satz abbrach und es ebenfalls bei einem Nicken beließ. Noch an der Tür stehend schaute er sich um. Alles war bunt, grell und verwirrend. Seine Augen schmerzten ihn, und er wusste nicht so recht wo er hinschauen sollte. Er ging an einem Regal mit vierzehn verschiedenen Chipssorten vorbei. Er glaubte das es vierzehn waren, nur war er sich nicht sicher ob die dreißig vor der vierzehn kam. Herr Amsel trottete zu einem Getränkekühlfach mit zig verschiedenen Plastikflaschen. Nach langem betrachten entnahm er ihm einen Liter fettarme H-Milch.
Eine Stimme im Radio verlass die Nachrichten. "In seiner Neujahresrede erklährte der Kanzler..."
Plötzlich stand Herr Amsel stramm, die alte Wirbelsäule durchgedrückt, die Mundwinkel nach unten gezogen und starrem Blick zur Decke. Sein rechter Arm zuckte.
"Kann ich ihnen helfen?" fragte die verstörte Verkäuferin.
Herr Amsel trottete zur Trese. "Mich begehrt es nach einem Laib Brot!", sprach der alte Herr Amsel und legte vier Milliarden Reichsmark vor die verblüffte Frau.
Er verließ den Laden ohne Brot, nicht jedoch ohne gegen einen Schrank zu treten und die Jugend zu verfluchen.

Herr Amsel erkannte sein Haus erst, als er demonstrativ von dem türkischen Dönerladen weg schaute. Auf der anderen Straßenseite stand das Haus. Sein Haus. Zwar wusste er nicht mehr wie es aussah, doch entsann er sich, dass es eine rote Türklinke besaß, und irgendwo hier stehen musste.
Er trat durch den Vorgarten. Der Garten war verwildert. Er nahm sich vor, einen Apfelbaum zu pflanzen. Doch im nächsten Moment hatte er den Gedanken vergessen. Er sperrte die Tür auf, und drückte die rote Klinke hinunter.
Die alte, dürre Dame auf dem Sofa gegenüber der Tür starrte ihn wütend an.
Er kannte sie.
Es war seine Frau.
Aber sie war alt. 56 Jahre älter als das letzte mal.
„Das essen habe ich nun wieder abgeräumt, Herman. Warum kommst du bloß immer so spät?“
„Ich war im Gefängnis! Sehr lange!“
Die alte, dürre Frau schaute auf die Wanduhr und ging kopfschüttelnd in die Küche.
Auch Herr Amsel schaute auf seine Armbanduhr. Es war dreizehn Uhr vierundfünfzig. Er entsann sich an die Angewohnheit um vierzehn Uhr zu essen. Er setzte sich auf den Stuhl. Es war ein anderer Stuhl.
„Was hast du mit dem Stuhl gemacht?“ fragte er laut.
Keine Antwort.
Die Einrichtung hatte sich verändert.
Nach einiger Zeit kam die alte, dürre Frau wieder und servierte Herrn Amsel eine kalte Suppe.
Sie setzte sich ihm gegenüber. Sie ass ein Wurstbrot.
Er schaute seine Frau an, und erinnerte sich an einen Ausdruck, den er viele Jahrzehnte vergessen hatte. Seniel, dacht er.
„Was hast du mit dem Stuhl gemacht?“ fragte Herr Amsel.
Er fragte deshalb, weil ihm der Stuhl sehr wichtig war.
Hoher Besuch saß schon auf diesen Stuhl.
Gute, deutsche Ware, dachte er.
„Wir haben ihn Ilse gegeben.“
Ilse?
Wer war Ilse?
„Ilse?“
Die alte, dürre Frau schaute nicht einmal vom Teller hoch.
„Wir haben in ihr zur Hochzeit geschenkt!“
„Ich war auf keiner Hochzeit!“
Nun blickte sie doch auf.
„Wo warst du denn?“
„Im Gefängnis!“
Seine Frau war entrüstet.
„Wenigstens zur Hochzeit deiner Tochter hättest du kommen können!“
Ilse war seine Tochter.
Ohne den Löffel berührt zu haben verließ er das Haus wieder.
Ilse Amsel, dachte er.

„Ilse Amsel!“ sagte er. Der Polizeibeamte mit der seltsamen grünen Jacke schaute ihn an.
„Ilse Amsel?“ fragte er.
„Geben sie mir ihre Adresse!“
Der Polizist ging zu einem Kollegen und tauschte mit ihm einige Worte aus.
„Entschuldigen sie, aber ich bin nicht berechtigt derartige Informationen weiterzugeben.“
Herr Amsel war zutiefst entrüstet, ballte seine Faust und stellte sich auf die Zehnspitzen.
„Sie wissen wohl nicht mit wem sie reden!“
Er zückte aus seiner Tasche einen sehr alten Ausweis mit dem Foto eines sehr jungen Mannes in Uniform und hielt ihn den Polizisten vor die Nase.
„Mein Herr“ schrie er „ich kann ja wohl erwarten, dass ein Landestreuer Staatsdiener wie sie es sein sollten mir weiterhilft!“
Herr Amsel wollte seine Tochter ausfindig machen. Sie hatte seinen Stuhl. Es war seiner. Seiner, weil ihm der Stuhl sehr wichtig war.
Hoher Besuch saß schon auf diesen Stuhl.
Gute, deutsche Ware, dachte er.
„Ich bin immerhin sein Leibwächter gewesen und ich muss die Adresse von Ilse Amsel wissen!“
„Wessen Laibwächter?“
Hoher Besuch saß auf diesem Stuhl.
Die Kugel in seinem Bein – er war sich nicht ganz sicher – tat ihm weh.
„Nach drei abgewehrten Anschlägen kann ich ja wohl erwarten dass…“
„Hören sie alter Mann…“
Herr Amsel bemerkte die krumme Nase des Beamten. Sie missfiel ihm. Er wusste was das hieß. Er wusste es nur zu gut.
„Sie gehören zu dem Pack…“ zischte er „Zu diesen…“

Verbittert war er als er fluchend die Wache verließ.
Verbittert und voller Hass.
Er schaute auf die Uhr.
Es war dreizehn Uhr vierundfünfzig.
Zeit zu sterben.

 

Hallo,
die Geschichte ist stilistisch gut geschrieben und auch gut aufgebaut.
Inhaltlich empfinde ich es als etwas problematisch, dass ein alter Nazi 56 Jahre in Haft sitzt, dass er danach noch seine alten Klamotten bekommt, und dass in ihnen noch Geld steckt. Vielleicht könnte man ihn 1970 oder so wieder rauslassen ( das ist zwar für jemanden der heute lebt schwerer zu beschreiben aber das wäre realistisch und geändert hätten sich die Zeiten auch ).

"...und legte vier Milliarden Reichsmark vor die verblüffte Frau."


Das Geld im 3.Reich war zwar die Reichsmark, aber die Inflation gab es im Jahre 1923. Der alte Herr wird wohl kaum 4 Milliarden Reichsmark in der Tasche gehabt haben.


gruß

Phil

 

Hallo Phil!
Naja... um ehrlich zu sein habe ich für die Geshcichte keinerlei Recherchen betrieben. Hatte nur eine Idee, ein bisschen freie zeit und Inspiration von anderen geshcichten hier und dachte ich schreib mal was, ob ich das kann. Schreib sonst nie und habs auch nicht vor, aber manchmal hab ich einfach lust und dann denk ich nciht viel nach und schreib einfach. mein Plan war ursprünglich noch eine lange egshcichte zu machen wie sich Herr Amsel auf die suche nach dem Stuhl zu machen auf dem Hitler saß, aber dann hatte ich keine lust mehr und ahbe einfach geschrieben "zeit zu sterben" und schluss!
Inhaltlich hat sie wohl deswegen fehler, weil es eben ein spontanes geschreibsel war.
Ciao
Nick

 

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