Der Altar des Nosferatu
der altar des nosferatu
Der Altar des Nosferatu
Patricia irrte schon seit Stunden im Wald umher, ohne zu wissen aus welcher Richtung sie kam, noch in welche sie gehen sollte. Ihr einziger Begleiter war ihr treuer Schäferhund Benno, der ihr auf Schritt und Tritt folgte. Vor drei Jahren schenkte ihr ihr Verlobter einen Welpen, kurz bevor er auf eine sechsmonatige Geschäftsreise ging. Gleich nach seiner Rückkehr wollten die beiden heiraten – ganz romantisch in weiß. Doch es sollte nicht dazu kommen. Das Flugzeug mit dem er seine Rückreise antrat stürzte über dem Meer ab. Man hat keine Überlebenden gefunden. Dieser Hund und ein silbernes Kreuz um ihren Hals waren alles, was sie noch an ihn erinnerten. Das Kreuz fand man in der Jackentasche des Toten und gab es ihr. Seitdem war es eine Art Glücksbringer für sie.
Mühsam bahnten sich die zwei ihren Weg durch das dichte Unterholz und stießen schließlich auf eine kleine Lichtung. Erschöpft ließ sich Patricia ins weiche Gras fallen und strich sich mit dem rechten Ärmel ihrer Jacke über die nasse Stirn. „Wie konnte das nur passieren?“, fragte sie sich. Ihr war es einfach unbegreiflich wie sie sich einfach so – trotz Karte – verlaufen konnte. Und dabei hatte es doch so schön angefangen: Schon vor einem Jahr buchte die Vierundzwanzigjährige einen Flug nach Rumänien um endlich mal wieder von ihrer langweiligen Büroarbeit in den Staaten ausspannen zu können. Als sie dann vorgestern endlich ankam verschlief sie aufgrund des anstrengenden Flugs erst mal den ganzen Nachmittag in ihrem Hotelzimmer. Da sie sich ja schon vorher über das Land informiert hatte, wusste sie dass es rings um ihren Ferienort eine atemberaubend schöne Landschaft mit Bergen und Wäldern gab. Heute morgen hatte sie erst die Karte für die nähere Umgebung an einem kleinen Zeitungsstand gekauft und sich voller Tatendrang mit ihrem Hund auf den Weg gemacht. Die eingezeichneten Wege auf der Karte hatte sie nicht verlassen, soviel stand für sie fest. Umso ratloser blickte sie sich auf der kleinen Lichtung um und streichelte ihren vierbeinigen Freund. Sie zog ihre Jacke aus und ließ sich von den Strahlen der Sonne wärmen.
Nach einer Ewigkeit wie ihr schien stand sie wieder auf und überquerte die Lichtung um am gegenüberliegenden Ende wieder vom dichten Unterholz verschlungen zu werden. Wieder musste sie mit alle ihrer Kraft gegen die Zweige der Bäume ankämpfen, die sich ihr entgegenstreckten und ihr Vorwärtskommen nur noch mehr erschwerten. Neidisch sah sie auf ihren Hund hinunter, den die tief hängenden Zweige nicht im geringsten störten. Er kam auch so wesentlich schneller voran als seine Herrin, so dass sie ihn einige Male zurückrufen musste. Irgendwann wurde der Bewuchs lichter und sie stand plötzlich vor einem steil abfallenden Hang, der sich unter ihr wieder im Wald verlor. Sie war unentschlossen was sie jetzt tun sollte. Noch einmal durch den Wald wollte sie auf keinen Fall und auch sonst gab es keinen Weg oder etwas das man als solchen bezeichnen hätte können. Nur nebenbei bemerkte sie, dass sie ihre Jacke liegen lassen hatte. „Auch egal, ich werde ja bald wieder im Hotel sein“, murmelte sie leise vor sich hin. Ihr wurde jetzt schon ganz schwindelig bei dem Gedanken dass sie vielleicht wirklich diesen Hang hinabsteigen würde. Plötzlich hatte sie so ein Gefühl, als ob jemand sie aus einer gewissen Entfernung heraus beobachten würde. Unruhig drehte sie sich einige Male im Kreis. Als sie sich vergewissert hatte, dass niemand in ihrer Nähe war, atmete sie tief ein und aus. Gerade als sie sich noch einmal kurz hinsetzen wollte um sich völlig zu beruhigen, hörte sie aus dem Wald hinter sich ein lautes Knacken. Starr vor Schreck stand sie am Abgrund und suchte mit den Augen den Wald ab. Auch Benno spitze seine Ohren um auch jedes noch so kleine Geräusch wahrnehmen zu können. Aber er knurrte nicht. Er hatte keine Witterung aufgenommen. Patricias Puls raste, Angstschweiß bedeckte ihre Stirn und das Blut rauschte in ihren Ohren. Das Herz schlug der jungen Frau bis zum Hals. Sie konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen und als sich das Knacken noch einmal und jetzt deutlich näher als vorher wiederholte, drehte sie sich in Panik um und rannte den Abhang hinunter. Da die Dämmerung bereits einsetzte sah sie kaum mehr wohin sie ihren Fuß setzte. Unaufhörlich trat Patricia auf kleine Steine die unter ihrem Gewicht davon zu rutschen drohten. Dornige Büsche die hier und da Halt gefunden hatten zerfetzten ihre Kleidung und hinterließen blutige Kratzer auf ihrer zarten Haut. Sie stolperte mehr als sie lief und es grenzte an ein Wunder, dass sie sich Nichts gebrochen hatte als sie endlich das untere Ende des Hangs erreichte. Immer noch panisch drehte sie sich kurz um und blickte auf den oberen Teil des Abhangs hinauf wo sie noch wenige Minuten zuvor selbst gestanden hatte. Als dann auch noch ein Schatten dort auftauchte konnte sie nichts mehr halten und sie rannte laut schreiend und in Todesangst in den Wald hinein.
Die Bäume standen hier unten so dicht, dass es fast kein Durchkommen gab, auch wenn hier das Unterholz fast vollständig verschwunden war. Die Zweige der Bäume trafen sie hart im Gesicht und hinterließen immer mehr Kratzer auf ihrer Haut. Immer weiter drang sie in den Wald ein und die Schwärze um Patricia nahm immer mehr zu. Irgendwann kam fast kein Sonnenlicht mehr bis auf den Waldboden und sie kam nur noch durch Tasten vorwärts wenn sie nicht frontal gegen einen Baum prallen wollte. Schon nach wenigen Minuten lehnte sie sich völlig erschöpft gegen einen dieser grünen Riesen. Ihr Brustkorb hob und senkte sich in einem wahnsinnigen Tempo, ihr Puls raste noch mehr und ihre Lungen verlangten nach viel Sauerstoff. Sie nahm ihre Umgebung nur optisch wahr, denn das Rauschen in ihren Ohren war so laut, dass es jedes andere Geräusch übertönte. Einige Minuten stand sie so da, den Rücken gegen den Baumstamm gepresst und versuchend sich wieder ein wenig unter Kontrolle zu bringen. Benno sah sein Frauchen nur verständnislos an, denn für ihn war die Hast durch den Wald nicht viel mehr als ein Spiel. Langsam beruhigte sich ihr Atem wieder und sie konnte sich auch wieder akustisch auf ihre Umgebung konzentrieren. Wieder hörte sie ein leises Knacken, das aus der Richtung zu kommen schien aus der sie gerade erst gekommen war. Gehetzt sah sie sich um, wie ein Reh das sich in Sicherheit vor seinen Häschern gefühlt hatte. Wieder ein Knacken, diesmal lauter und deutlich näher als das Erste. Ein eiskalter Schauer lief ihr den Rücken hinunter und ihre Nackenhärchen stellten sich auf. Eine Bewegung! Sie versuchte den genauen Punkt auszumachen an der sie die Bewegung mehr geahnt als gesehen hatte. Angestrengt kniff sie die Augen zusammen aber in dieser gottverdammten Dunkelheit war es fast unmöglich etwas zu erkennen. Wieder ein Knacken, so als ob etwas sehr Schweres auf dürre Äste treten würde. Dann das Geräusch von splitterndem Holz und etwas, das sich anhörte als ob ein Tier mit seinen Hufen auf dem Waldboden scharren würde. Patricia wollte und konnte einfach nicht so lange warten bis dieses Etwas auf sie zukam. Mit einer blitzschnellen Bewegung war sie um den Baum herum und bewegte sich so schnell wie es möglich war weiter, weg von diesem Ding. Es kam immer näher. Von einem Moment auf den anderen lichtete sich der Wald und sie stand wieder vor einem Abhang, der diesmal noch steiler und gefährlicher aussah. Doch es kam so unerwartet, dass sie ins Rutschen geriet und den Hang hinunterschlitterte. Laut schreiend versuchte sie verzweifelt sich mit den Füßen dagegen zu stemmen aber es half alles nichts. Die Haut ihrer Hände hing schon bald in Fetzen als sie immer verzweifelter nach einem Halt suchte der ihre unfreiwillige Rutschpartie beendete. Durch ihr Geschrei hindurch hörte sie ein Jaulen, das von oben kam. Diese Wahrnehmung brachte sie noch mehr aus der Fassung und sie schlitterte noch schneller den Hang hinab. Von ihrer teuren Jeans war nichts mehr übrig außer ein paar Stofffetzen die hier und da noch einen Teil ihrer Beine verdeckten. Den großen Felsblock auf den sie zuraste sah sie fast zu spät. Mit einem verzweifeltem Sprung zur Seite versuchte sie ihm auszuweichen. Doch das hatte nur zur Folge dass sie sich überschlug. Patricia hatte mir ihrem Leben abgeschlossen. Sie wagte es zu bezweifeln, dass sie diesen Sturz überlebte. Plötzlich spürte sie einen Schlag auf ihren Kopf: sie war auf einen flachen großen Stein geprallt, der so auch ihren Sturz bremste. Es war das Letzte an das sie sich erinnern konnte. Sie verlor auf der Stelle das Bewusstsein. Dunkles rotes Blut lief unter ihrem Kopf hervor und über den Stein. Rinnsale bildeten sich und langsam entstand eine große Lache die im Dämmerlicht fast schwarz aussah.
Es vergingen nur wenige Minuten in denen sie so dalag als ihr regungsloser Körper hochgehoben und davon getragen wurde. Mehrere Äste streiften Ihren Träger, doch er ließ sich nicht beirren und fand trotz der Einsetzenden Dunkelheit schnell und sicher einen Weg durch den Wald. Nur kurze Zeit später wurde sie auf ein weiches großes Bett gelegt. Langsam wurde sie von ihrer zerfetzten Kleidung befreit. Hände machten sich an ihren zahlreichen Wunden zu schaffen und als diese versorgt waren ließ man sie allein.
Als sie wieder erwachte befand sie sich in einem warmen und sehr gemütlichem Himmelbett. Sie war bis knapp unter das Kinn mit einer spitzenverzierten schweren Decke zugedeckt. Ihr Kopf schmerzte noch immer an der Stelle, an der sie aufgeschlagen war, aber als sie danach tastete spürte sie überhaupt nichts. Weder eine Wunde noch Blut. „Seltsam, das kann doch gar nicht sein“, dachte sie als sie sich an den Aufprall erinnerte. Selbst ihre Hände waren unversehrt. Instinktiv wollte sie nach dem silbernen Kreuz greifen, das sie als Glücksbringer immer um den Hals trug. Doch es war weg! Unruhig blickte sie sich um. Das Bett war das einzige Möbelstück in diesem Zimmer. Es gab weder Bilder, noch Spiegel, noch ein Nachtschränkchen oder dergleichen. Schon allein das Bett war riesig wenn sie so darüber nachdachte, aber in diesem Raum wirkte es selbst bei dieser Größe noch winzig. In einigen Metern Entfernung vom linken Bettrand war ein Fenster durch das die Sonne schien. Vom Sonnenlicht fast magisch angezogen schlug sie die schwere Decke zurück und schwang die Beine aus dem Bett. Erst als ihre nackten Füße den eiskalten Boden berühren und sie an sich herunter sah bemerkte sie, dass sie nackt war. Wie auf Kommando ertönten vor der Tür Schritte, die sich ihrem Zimmer langsam näherten. Erschrocken sprang sie ins Bett zurück und schlug die Decke bis zur Nasenspitze hoch. Doch wie sich herausstellte, war ihre Vorsicht umsonst, denn die Schritte gingen an ihrer Tür vorbei und wurden immer leiser und leiser bis sie schließlich gar nicht mehr zu hören waren. Sie blieb noch einige Zeit so liegen bis sie sicher war, dass die Person da draußen nicht mehr so schnell wieder kommen würde Dann stand sie vorsichtig auf. Langsam ging die junge Frau auf das Fenster zu, durch das die Sonne ihre Strahlen auf den kalten Steinboden warf. Ihr langes blondes Haar glänzte im Licht und die Strahlen wärmten sie. Irgendwie fühlte sie sich geborgen, auch wenn ihr die Umgebung völlig fremd war und sie keine Ahnung hatte, wie sie hier herkam. Schweigend sah sie hinaus und erkundete mit ihren Augen neugierig die Welt da draußen. Patricia sah aber nur Wald. Einen Wald der sich bis zum Horizont erstreckte und der offensichtlich gar kein Ende zu nehmen schien. „Komisch, ich kann mich gar nicht erinnern dass auf meiner Karte ein so großes Waldgebiet eingezeichnet war“, murmelte sie gedankenverloren, „wirklich seltsam.“ Sie drehte sich um und starrte die Tür an. Langsam und leise ging sie darauf zu und drückte die Klinke. Doch sie ging nicht auf. Ein paar Mal rüttelte sie noch daran und sah dann ein, dass die Tür von außen abgesperrt war. Enttäuscht und irritiert schlich sie wieder zum großen Bett und legte sich hinein.
Gerade als sie sich zugedeckt hatte, sprang die Tür auf. Schummriges Licht fiel vom Gang in das Zimmer und ein Schatten erschien im Türrahmen. Der Umriss des Schattens erinnerte sie an etwas, aber sie konnte nicht genau sagen an was, nur ,dass sie entsetzliche Angst vor ihm hatte. Lauthals fing sie an zu kreischen und kroch völlig verängstigt zur Kante des Bettes, die am weitesten von der Tür entfernt war, immer die Decke mit sich ziehend und verzweifelt versuchend ihren Körper bedeckt zu halten. Sie hörte eine Stimme, konnte aber nicht verstehen, was sie zu ihr sagte. Langsam bewegte sich der Schatten auf sie zu. Noch mehr Angst ergriff sie und sie kreischte noch lauter. Doch das Ding zu dem der Schatten gehörte ließ sich nicht beirren und hielt weiter auf sie zu. Als Es über ihr war überwältigte sie ihre entsetzliche Angst und Patricia verlor ihr Bewusstsein. Langsam glitt sie von der Bettkante und sank auf den harten Boden.
Als sie langsam wieder aufwachte saß neben ihr auf dem Bett eine Person, die ihr den Rücken zugekehrt hatte. Vorsichtig und darauf erpicht kein Geräusch zu verursachen drehte sie ihren Kopf und besah neugierig aber doch misstrauisch die Gestalt neben sich. Erschrocken sog sie die Luft ein und musste einen Schrei unterdrücken als sie erkannte, dass diese Person der Schatten im Türrahmen gewesen ist!
„Wie ich sehe sind Sie endlich aufgewacht, aber kein Wunder nach so einem Sturz“, zerriss eine Stimme die unheimliche Stille, die noch bis vor kurzem im Raum geherrscht hatte. Diese Worte kamen so überraschend, dass sie nicht mehr als ein leises gestottertes „Ja“ herausbekam. Wie in Zeitlupe stand der Mann auf, ging lautlos zum Fenster und sah hinaus. Sein Gesicht hatte sie nicht erkennen können, obwohl er ja direkt an ihrem Bett vorbei gegangen war. Immer noch eingeschüchtert folgten ihre Blicke ihm. Schließlich fragte die junge Frau, wie sie hierher gekommen war. Der Mann antwortet ganz knapp und sachlich: „Ich habe sie am Fuße eines Abhangs gefunden – mit einer ziemlich üblen Wunde am Kopf. Sie haben ziemlich viel Blut verloren und dann habe ich Sie hierher gebracht.“ „Üble Wunde?“ dachte die junge Frau. Von einer üblen Wunde hatte sie überhaupt nichts gespürt und auch nicht Blut, außer dass sie ein wenig Kopfschmerzen hatte. Eine unnatürliche Stille erfüllte den Raum, die alles unwirklich und unheimlich erschienen ließ. Nach etlichen Minuten des Schweigens nahm Patricia all ihren Mut zusammen und fragte den Unbekannten: „Warum werde ich hier eingesperrt?“ „Eingesperrt? Ich bitte Sie! Das ist alles nur eine kleine Vorsichtsmaßnahme.“ „Vorsichtsmaßnahme, ja? Ich wusste gar nicht, dass ich so furchteinflößend und gefährlich wirke“, erwiderte sie scharf und mit Spott in ihrer Stimme. Ein leises Lachen ertönte vom Fenster her. „Gefährlich sind Sie ganz sicher nicht, darüber mache ich mir gar keine Gedanken.“ Eine kurze Pause folgte und er sprach weiter: „Ich habe Sie zu Ihrem Schutz hier eingesperrt.“ „Zu meinem Schutz!? Soll ich jetzt lachen oder wie?!“ empörte sich die Amerikanerin. Der Mann ließ sich davon aber überhaupt nicht aus der Fassung bringen und sprach eben so ruhig und gelassen weiter wie bisher: „Wenn Sie es vorziehen sich verlaufen zu wollen, bitte schön. Ich wollte nur sicher gehen, dass Sie nicht zu Schaden kommen. Es gibt hier einige gefährliche Treppen, die Sie am Besten nur in Begleitung betreten. Es haben sich schon einige Leute Verletzungen zugezogen als sie auf eigene Faust dieses Schloss erkunden wollten.“ „Schloss?“, dachte sie. Wie kann das sein? Nirgends auf der Karte war ein Schloß eingezeichnet! Sie wollte später noch einmal in Ruhe darüber nachdenken. So wie es aussah, hatte sie dem Kerl der immer noch reglos am Fenster stand und keine Anstalten machte sich umzudrehen Unrecht getan. „Tut mir Leid wenn ich eine so junge und hübsche Frau, wie Sie es sind vorhin erschreckt haben sollte“, setzte er nach einer fast endlosen Pause an. „Erschreckt ist gar kein Ausdruck! Ich hatte Todesangst!“, fuhr sie ihn an. „Was wollten Sie eigentlich von mir?“, fügte sie etwas leiser hinzu. „Ich wollte Ihnen das hier geben.“ Er hob ein Bündel hoch, das aus Stoff zu sein schien. „Was ist das?“, fragte die junge Frau misstrauisch. „Etwas zum Anziehen, ich hoffe es passt Ihnen alles.“ Er kramte kurz in seiner Hosentasche und zog etwas heraus, das im Sonnenlicht funkelte und fast zu leuchten schien. „Und ihre Kette habe ich natürlich auch noch“, fügte er schmunzelnd hinzu. „Ich lasse alles hier am Fenster liegen. Wenn Sie sich angezogen haben gehen Sie draußen den linken Gang entlang. Er wird sie in einen großen Raum führen, wo ich auf Sie warten werde.“ Ebenso leise wie er gekommen war verschwand er wieder.
Langsam stand Patricia einige Zeit später auf und ging wieder zum Fenster, wo der Mann das Bündel abgelegt hatte. Ihr Kreuz lag auf dem Stoffbündel und die Sonnenstrahlen brachen sich auf ihm. Immer noch etwas irritiert nahm sie es in die Hand und legte es sich um. Das Metallstück fühlte sich ungewöhnlich kalt an, obwohl es schon eine ganze Weile in der Sonne gelegen hatte. Danach öffnete sie das Päckchen das mit einer einfachen Leinenschnur gebündelt war. Zum Vorschein kam etwas Weißes, das sich als eine Art Morgenmantel entpuppte und ganz und gar durchsichtig war. Darin eingewickelt ein Paar edle Schuhe mit eingearbeiteten Silberfäden und hohem Absatz.
Schnell zog sie alles an und trat auf den Gang hinaus. Irgendwie fühlte sie sich nackt. Es war ein seltsames Gefühl etwas derartiges zu tragen, das absolut gar nichts von ihrem Körper verhüllte. Und sie hatte ja noch nicht einmal Unterwäsche an. Verbergen konnte die junge Frau unter dem transparenten Material gar nichts. Mit den Schuhen ging es ihr genauso. Noch nie hatte sie Schuhe mit solchen Absätzen getragen und dem entsprechend wacklig bewegte sie sich vorwärts.
Sie wandte sich nach links und schon nach wenigen Biegungen des Ganges kam sie in einen großen Saal, in dessen Mitte eine lange Tafel stand. Die Tafel hätte leicht für zweihundert Personen gereicht, so lang wie sie war. Ganz am Ende flackerten ein paar kleine Lichter, die sich beim Näherkommen als Kerzenflammen herausstellten. Staunend nahm sie Platz und sah sich erst einmal um. Ihr fiel im ersten Moment gar nicht auf, dass der Raum gar kein Fenster hatte. Und doch war es nie völlig dunkel gewesen. Erst bei genauerem Hinsehen stellte sie fest, dass in Nischen der Wände noch mehr Kerzen standen, die mit ihren noch so kleinen Flammen die Dunkelheit vertrieben. Auf der Tafel rund um ihren Sitzplatz standen dutzende von Kerzen und erst jetzt sah sie, dass zwischen den ganzen Kerzen verschiedene Speisen aufgetragen waren. Es war alles da was das Herz begehrte: Früchte aus allen Teilen der Erde, Desserts in verschiedenen Variationen, herrlich saftiger und noch dampfender Braten und noch einiges mehr. „Greifen Sie zu, Sie müssen ja völlig ausgehungert sein!“, erst die Stimme ihres Gastgebers, der ihr gegenüber saß, brachte Patricia wieder aus dem Staunen heraus. Sie blickte auf und sah das erste mal sein Gesicht. Augen von einem wunderbaren Blau blickten sie ruhig und gelassen an. Diese Augen gehörten zu einem Gesicht das fein geschnitten war – soweit sie das bei dem hier herrschenden Licht überhaupt sagen konnte. Das einzige was nicht so recht in dieses Bild passen wollte war seine Haarfarbe: er hatte weißes Haar. So weiß, wie sie es bisher nur bei alten Frauen gesehen hatte. Das Haar fiel in sanften Wellen über seine schmalen Schultern. Es passte irgendwie zu ihm. „Vielleicht sind die ja gefärbt...wer weiß“, dachte sie sich. Die junge Frau schätzte ihn höchstens auf Anfang dreissig, eher sogar noch auf Ende zwanzig. Aber seine Kleidung machte sie stutzig: sie erinnerte Patricia an die Mode, wie man sie vor ein paar Jahrhunderten trug. Er trug eine dunkelblaue Weste mit aufgesteppten goldenen Ziernähten und einen langen schwarzen Umhang, dessen Kragen hoch stand. Zusammengehalten wurde er mit einer goldenen Kette, die sich quer über seine Brust spannte. Mit Schrecken stellte die Frau fest, dass sie ihn mit offenem Mund angestarrt hatte. Sie wollte zu einer Entschuldigung ansetzen, doch Ihr Gegenüber kam ihr zuvor: „Ich weiß, was Sie jetzt sagen wollen. Lassen sie es gut sein und essen erst einmal.“ „Ja, natürlich“, antwortete sie verlegen. Sie nahm von jedem etwas und aß es mit Heißhunger. Der junge Mann begnügte sich mit einem Apfel und beobachtete sie aufmerksam. Gemächlich stand er auf, kam zu ihr herum und schenkte ihr ein Glas Rotwein ein. Auf seinem Platz zurück, goss er sich ebenfalls Wein ein, allerdings aus einer anderen Flasche. Sie hoben ihre Gläser und tranken.
„Wie ist eigentlich Ihr Name?“, fragte Patricia neugierig. „Ares.“ „Ares? Ein ungewöhnlicher Name...“, entgegnete sie. „Und wie lautet Ihr Name?“ „Patricia. Aber wieso sprechen sie meine Sprache? Also ich meine, ich habe niemanden hier in diesem Land getroffen, der sie fließend spricht. Und woher wissen Sie, dass ich Amerikanerin bin?“ „Sagen wir mal so: ich bin viel in der Welt herumgekommen und hatte Zeit mir die eine oder andere Sprache einzuverleiben“, beantwortet er ihre erste Frage. „Die zweite Frage will ich Ihnen auch gerne beantworten. Sie haben im Schlaf gesprochen. Der Name Benno kam dabei übrigens ziemlich oft vor.“ Plötzlich hatte sie ein ziemlich schlechtes Gewissen. An ihren Hund hatte sie überhaupt nicht mehr gedacht. „Einen Hund haben Sie nicht ganz zufällig irgendwo gesehen, oder?“, fragte Patricia kleinlaut und senkte ihren Blick. Ares zuckte zusammen, doch die junge Frau bemerkte es nicht einmal.„Einen Hund? Nein, tut mir Leid.“ In der jungen Frau stieg Wut über sich selbst und Trauer auf. Tränen stiegen ihr in die Augen und kullerten in kleinen Rinnsalen über ihre Wangen. Leise fing sie zu schluchzen an. Ares sah sie nur verständnislos an. Erst allmählich kam ihm in den Sinn, dass Benno der Name dieses Hundes war. Gerade wollte er etwas zu Patricia sagen, als diese mit einem Ruck aufstand und der Stuhl mit einem lauten Krachen auf den harten Boden fiel. Heulend lief sie an der Tafel vorbei und durch den Saal. Noch im Laufen warf sie die Schuhe davon und rannte nun barfuß weiter, immer dem Gang entlang. Der junge Mann sprang ebenfalls auf, schmiss seinen Apfel achtlos auf den Boden, wo er in mehrere Teile zersprang und schrie seinem Gast hinterher, dass Sie warten sollte. Doch sie hörte es schon gar nicht mehr. Unzählige Stufen lief sie eine Treppe hinunter, durchquerte mehrere noch größere Säle, lief nicht enden wollende Gänge entlang, immer auf der Suche nach einem Ausgang.
Irgendwann kam sie in eine breite Halle, die zur rechten und linken Seite von schwarzen Marmorsäulen flankiert wurde und an deren Ende eine riesengroße Tür war. Etwas erleichtert und den Ausgang in Sicht habend rannte sie darauf zu. Es waren nur noch wenige Meter bis dahin und sie hatte schon ihre Hand nach dem Türgriff ausgestreckt. Kurz blickte sie hoch und sah in Ares´ Gesicht der sich breitbeinig und auf irgendeine Weise bedrohlich vor der Tür aufgebaut hatte. Erschrocken und zugleich entsetzt über die Gewissheit, dass das eigentlich unmöglich war starrte sie ihn an. Langsam ließ sich Patricia auf den Boden nieder, schlug ihre Hände vors Gesicht und wurde von einem Weinkrampf geschüttelt. Durch ihr Schluchzen hindurch verstand man nur einige Wortfetzen die sich nur noch im entferntesten nach „Benno“ und „suchen“ anhörten.
Langsam ging Ares auf sie zu und ließ sich neben ihr in die Hocke gehen. In ruhigem Ton sagte er: „Sie können ihn heute nicht mehr suchen, es wird bald dunkel. Morgen werde ich ihn suchen, versprochen.“ Etwas Zögernd streckte er seinen linken Arm nach der zusammen gekrümmten Gestalt aus, die sich vor ihm auf dem Boden die Augen ausweinte und legte ihn vorsichtig um sie. Völlig aufgelöst warf sich Patricia an seine Brust und erlebte einen neuen Krampf. Lange saßen die beiden so da. Niemand konnte sagen ob es Stunden oder Minuten gewesen sind die vergingen. Die Zeit schien still zu stehen. Irgendwann verstummte ihr Schniefen und ihre Tränen versiegten – sie war eingeschlafen. Behutsam stand der junge Mann auf, hob ihren schlaffen Körper ohne Mühe hoch und trug sie auf seinen Armen durch die Eingangshalle. Das Geräusch, das seine hohen schwarzen ledernen Stiefel auf dem Stein in dieser riesigen Halle verursachten und wieder von den Wänden unzählige Male zurückgeworfen wurde, hätte die Frau sicher wieder als die Schritte vor der Tür ihres Zimmers identifizieren können. Schnell, aber trotzdem ohne Eile ging Ares den gesamten Weg zurück und brachte sie schließlich in das große Zimmer mit dem Bett als einziges Möbelstück.
Es wurde bereits wieder hell als Patricia langsam wieder aufwachte. Sie konnte sich nicht daran erinnern wie sie hierher gekommen war. Das einzige was sie noch wusste war, dass sie geweint hatte, irgendwo in einer Eingangshalle. Aber sie glaubte zu ahnen, wer sie hierher gebracht hatte. Die Sonne schien hell durch das einzige Fenster im Raum und konnte ihn doch nicht ganz erhellen. Ein kleiner Rest Dunkelheit ließ sich nicht ganz vertreiben. Gerade wollte sie die schwere Decke von sich werfen, als sie sah, dass ihr Gastgeber neben ihr war. Er stand nicht wie sonst reglos in einer Ecke des Zimmers sondern hatte sich vor das Bett gekniet, seinen Kopf auf seine verschränkten Arme gelegt und war anscheinend eingeschlafen. Sein großer schwarzer Umhang hüllte ihn ein wie in eine Decke. Sie wollte Ares nicht unbedingt wecken und schlängelte sich leise und mit langsamen Bewegungen unter ihrer Zudecke hervor. Auf Zehenspitzen und nur in den feinen Stoff des Morgenmantels gehüllt schlich die junge Frau durch ihr Zimmer und hatte schon ihre Hand am Türknauf, als sie sich noch einmal zum Bett umdrehte. Widerwillig ließ sie den Türknauf los und ging leise zum Bett zurück. Ganz vorsichtig setzte sie sich neben ihren schlafenden Gastgeber und zog die Beine eng an den Körper und umfasste sie mit den Armen. Ihren Kopf legte sie auf ihre Knie und betrachtete Ares nachdenklich. Noch immer konnte sie nicht verstehen warum sie sich vor ihm so sehr erschrocken hatte. Er hatte nichts bedrohliches, grobes oder gar unheimliches an sich. Ihn ihrem Innersten musste sie über sich selbst lachen. Sie hatte einen ganz falschen Eindruck von ihm bekommen als er das erste mal in ihr Zimmer gekommen war und wirklich nur das Nötigste gesprochen hatte. Neugierig und zum Teil auch erstaunt besah sie ihn sich weiter. Er lag friedlich da, fast wie ein Baby. Sein weißes Haar fiel ihm in sanften Wellen über seine Schultern und ein paar einzelne Strähnen waren ihm ins extrem fein geschnittene Gesicht gerutscht. Manchmal zuckte es nur für einen winzigen Augenblick um seinen Mund. So, als ob er in seinem Erträumten lachen würde.
Erst jetzt, im Licht der Morgensonne, konnte sie erkennen, dass sein Gesicht eine recht unnatürliche Färbung hatte. Seine Haut war kein bisschen gebräunt, sondern war erschreckend blass. In ihren Gedanken musste sich Patricia korrigieren: er war nicht nur blass, sondern eher bleich. So bleich wie bei einem Menschen, dem es ungeheuer schlecht war oder noch besser: wie bei einem Toten. Und doch wirkte die Haut seines Gesichts so dünn und fein, als ob sie bei der geringsten Berührung reißen würde. Nach einigem Überlegen streckte die Amerikanerin ihren rechten Arm aus. Sie wollte wissen, wie sich das Gesicht von Ares anfühlte. Sie wollte spüren, ob seine Haut wirklich so weich war, wie sie es glaubte zu sehen. Das redete sie sich zumindest ein. Der einzige Grund warum sie ihn berühren wollte war: sie wollte wissen ob seine Haut kalt war, kalt wie bei einem Toten. Sie wollte sich einfach davon überzeugen, dass es nicht stimmte was sie glaubte zu sehen. Ihre Fingerspitzen waren nur noch wenige Zentimeter von seinem Gesicht entfernt, als sie ihre Hand erschrocken zurückzog. Im Schlaf hatte sich Ares auf die andere Seite gelegt und schlief weiter.
Eine Weile blieb sie noch neben ihm so sitzen. Schließlich stand sie leise auf, ging um das große Bett herum und schlüpfte wieder unter die weiche und warme Decke. Schlafen konnte und wollte sie nicht mehr. Reglos und mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck starrte sie den Himmel über ihrem Bett an.
Einige Zeit später hörte sie neben sich ein leises Rascheln und stellte sich schnell schlafend. Es war Ares, der sich unter seinem weiten Umhang langsam zu bewegen begann. Etwas wacklig stand er auf und strich sich die Haare aus der Stirn, die ihm im Schlaf ins Gesicht gefallen waren und sah am Bett vorbei zum Fenster hinüber. Patricia drehte langsam ihren Kopf zu ihm herüber und besah ihn sich genauer. Voller Wohltat begann er sich zu strecken und sein Umhang begann hinter ihm zu flattern. Es sah fast so aus, als ob es kein Umhang wäre, sondern Flügel die sich ein wenig spreizten. Ares war kein Riese, doch man konnte auch nicht sagen er war klein. Wenn man ihn neben Patricia stellen würde, würde er sie gerade mal um einen Kopf überragen, mehr nicht. Obwohl er diesen schwarzen Umhang um seine Schultern trug, konnte sie erkennen, dass er doch recht schmale Schultern hatte. Aber als Schwächling würde ihn wohl niemand bezeichnen. Seine Hose erinnerte sie irgendwie an diese alten Zorrofilme: enganliegend, aber doch nicht zu eng. „Wahrscheinlich Maßarbeit“, dachte sie sich. Unter dieser Weste, die ihr gestern beim Essen schon aufgefallen war, trug er ein einfaches weißes Leinenhemd. Es hatte einen ebenso mächtigen Kragen wie sein Umhang, passte aber perfekt dazu. Patricia konnte ihren Blick nicht abwenden. Auf irgendeine Art und Weise war sie fasziniert von diesem Mann, den sie doch eigentlich gar nicht kannte und der jetzt reglos an einem der vier Bettpfosten lehnte, sich die Sonne ins Gesicht scheinen ließ und mit leerem Blick in Richtung des Fensters sah, so als ob er nicht einfach nur aus dem Fenster sah, sondern einen Punkt in der Ferne fixierte. Er hatte etwas an sich, das sie nicht beschreiben konnte. Etwas, das sich nicht einfach in Worte fassen ließ.
Lange lag sie so da und betrachtete ihn. Immer faszinierter, obwohl er bis jetzt noch kein einziges Wort gesagt hatte und sie im Grunde gar nichts von ihm wusste. Dann hörte sie plötzlich eine angenehm klingende Stimme sagen: „Gut geschlafen?“ Erschrocken zuckte sie zusammen. Woher wusste Ares, dass sie wach war? Sie hatte absolut kein Geräusch gemacht, und doch wusste er, dass sie nicht mehr schlief. Er hatte sich noch nicht einmal zu ihr umgedreht. Etwas verwirrt antwortete Patricia: „Ja, danke der Nachfrage.“ Wieder Schweigen. „Könnten wir dieses ´Sie´ nicht mal weglassen? Ich meine...“, fragte sie vorsichtig. „Wenn Sie das möchten, gerne“, antwortete Ares freundlich und blickte sie ruhig an. Erleichtert atmete sie tief aus. „Du warst gestern ziemlich aufgewühlt“, fing er an. Fragend blickte sie ihn aus großen Augen an. Im ersten Moment wusste sie gar nicht, wovon er überhaupt sprach. „Ich meine wegen dem Hund...“ Noch bevor er diese Worte ausgesprochen hatte, machte sich ein Gefühl von Trauer in ihr breit und Tränen füllten Patricias Augen. Doch sie hatte sich soweit unter Kontrolle, dass sie nicht sofort wieder zu weinen anfing. „Ich werde mich gleich auf die Suche nach ihm machen“, redete Ares weiter. Ein wenig hellte sich ihr Gesicht auf und sie konnte wieder ein bisschen lächeln. „Magst du Bücher?“, fragte er völlig unerwartet. Etwas verwirrt nickte Patricia. „Dann komm!“ Mit einem Satz stand er vor ihr und hielt ihr seine Hand hin. Noch ein bisschen zögernd ergriff sie sie und stand auf. Seine Hand fühlte sich warm an und nicht kalt, wie sie es vorhin erwartet hatte. Und auch der Boden unter ihren nackten Füßen war nicht mehr kalt, sondern angenehm warm, obwohl darauf nicht die Sonne geschienen hatte.
Jetzt stand sie hier in einem Raum, der nicht nur riesig, sondern nahezu gigantisch war. Die Decke und das Ende des Zimmers konnte man trotz des Lichtes unzähliger Fackeln und Kerzen nicht mehr sehen. Fenster gab es hier auch nicht. Die hohen Regale, vollbeladen mit Büchern standen dicht an dicht, und erstreckten sich bis weit über den erhellten Bereich hinaus. Die Höhe dieses Zimmers musste also enorm sein. Aufmerksam sah sich Patricia um, und konnte es noch immer nicht glauben, dass ein Raum mit tausend und abertausend von Büchern vollgestopft war. Unter ihren Füßen fühlte sie einen weichen warmen Teppich, der den gesamten Boden bedeckte. Tief beeindruckt tat sie ein paar weitere Schritte in das Zimmer hinein und sah einen Kamin, vor dem der Teppich endete und ein paar Meter des steinigen Fußbodens freigab. In ihm brannte ein kleines Feuer welches den Raum zusätzlich erhellte. Seitlich davon an der Wand stand ein großer Tisch mit einer Schale voll mit frischem Obst. Daneben, direkt vor dem Kamin stand ein großes Sofa und davor ein großes Eisbärenfell, das sich ganz weich und flauschig anfühlte. Erst jetzt sah sie, dass rechts neben dem Kamin eine eiserne Treppe hinaufführte. Erwartungsvoll schritt sie nach oben und entdeckte eine weiter Treppe. An den Wänden standen wieder Regale. In der Mitte jedoch gab es nichts. Sie konnte sich über ein Geländer beugen und nach unten sehen. Sie beugte sich noch weiter vor und sah dann nach oben. Langsam gewöhnten sich ihre Augen an das seltsame Licht das hier herrschte und erkannte immer mehr Einzelheiten: es gab noch mindestens fünf weitere dieser Stockwerke über diesem, und von jedem aus konnte man bis nach ganz unten sehen. Alle waren von einem schwarzen reich verzierten Eisengeländer umrahmt. Beeindruckt ging sie wieder nach unten um sich dort die Regale näher anzusehen. Ares hatte ihr versprochen ihren Hund zu suchen, während sie sich hier die Zeit vertreiben konnte. Er wollte erst gegen Abend wieder zurückkomme, egal ob er ihn nun gefunden hatte oder nicht. Sie durfte sich hier in der Bibliothek frei bewegen, alles ansehen und tun und lassen was sie wollte.
Es gab Bücher zu jedem Thema: zu Politik, sämtlichen Naturwissenschaften, Lehrbücher, Theaterstücken, Biografien, Nachschlagewerke und Atlanten. Dann noch unendlich viele Erzählungen, Geschichten, Bücher über Legenden und Sagen aus aller Welt. Irgendwann, im hinteren Teil des Zimmers, das man von der Tür aus nicht mehr sehen konnte, kam sie zu mehreren Regalen, die wie die anderen mit Büchern voll gestellt waren, aber mit einem Unterschied, nämlich dass alle Bücher den gleichen Titel trugen. Es war die Bibel. Das Wort Gottes. Es gab große und kleine, neuere und zum größten Teil jahrhundertealte Exemplare davon. Die meisten davon handgeschrieben und mit kunstvollen Zeichnungen, ein geringerer Teil gedruckt. So eine Frömmigkeit hätte sie ihm gar nicht zugetraut. Aber vielleicht war es ja gar kein Glaube, der Ares dazu bewegt hat die Bibel im wahrsten Sinne des Wortes zu sammeln, sondern einfach nur die Freude an Büchern. Sie blätterte noch einige Zeit in den älteren handgeschriebenen Ausgaben.
Irgendwann hörte sie, wie die große Tür zur Bibliothek aufging und kurz darauf wieder zugeschlagen wurde. Hastig klappte sie das Buch, das sie gerade noch in der Hand hatte zu und stellte es zu den anderen wieder ins Regal. Dann ging sie auf die Tür zu. Sie hatte gar nicht bemerkt wie die Zeit vergangen war. Ares saß auf dem Sofa vor dem großen Kamin und warf noch ein paar Holzscheite ins Feuer, als sie hinter den Regalen auftauchte. Mit einer seltsamen Vorahnung setzte sie sich neben ihn und fragte: „Hast du Benno gefunden?“ Ares sah ihr in die Augen und schüttelte den Kopf. Ihre Vorahnung war zur Gewissheit geworden und ein Gefühl von grenzenloser Traurigkeit machte sich in ihr breit. Beide starrten ins helle Feuer, das im Kamin brannte.
Irgendwann stand Ares auf und fragte, ob sie nicht langsam ins Bett gehen wollte. Wie auf Befehl stand sie auf und folgte ihm. Als er die Tür zur Bibliothek schloss erlosch das Feuer im Kamin und auch die unzähligen Fackeln und Kerzen, die das Zimmer ein wenig erhellt hatten. Die Asche jedoch war kalt, so als ob im Kamin niemals ein Feuer gebrannt hätte.
Patricia wusste zwar nicht welchen Weg sie gegangen waren, aber was sie wusste, war, dass es nicht das Zimmer mit diesem Himmelbett war. Zuvorkommend öffnete Ares ihr die Tür und ließ sie ein. Sie hatte Recht, es war nicht dasselbe Zimmer. Es gab hier zwar ebenfalls ein Himmelbett, das noch größer war als das andere, aber neben diesem noch zahlreiche weitere Einrichtungsgegenstände. Es gab vor dem türhohen Fenster einen Schreibtisch, mehrere kleinere Schränkchen und links vom Bett eine Art Kommode mit einem großen runden Spiegel an der Wand. „Dieses Zimmer wurde einst von einer jungen Frau bewohnt, die hier auf dem Schloss lebte. Es ist alles noch so, wie es vor knapp zweihundert Jahren war als sie starb“, erklärte er. Andächtig ging sie durch den Raum, fuhr nachdenklich mit ihrer Hand über diese uralten Möbelstücke und konnte deren Alter fast spüren. Erst jetzt fiel ihr auf, dass es auch hier nur Kerzen als Lichtquelle gab. Durch die Kerzen wirkte alles noch viel älter und schöner. Ares, der immer noch an der Tür stand fragte sie, ob sie noch etwas bräuchte und als sie dies verneinte zog er lautlos die Tür hinter sich zu. Müde krabbelte sie ins Bett, blies die Kerzen, die zu beiden Seiten des Bettes standen aus und schlief fast augenblicklich ein.
Sie erwachte erst spät am nächsten Tag wieder und fand neben sich auf dem Bett einen Zettel. Auf ihm stand, dass sie sich nur auf diesem Stockwerk aufhalten sollte und Essen in einem der Nachbarzimmer stand. Wie sie der Notiz entnehmen konnte, war Ares bis zum späten Abend außer Haus.
Patricia hatte absolut keine Ahnung was sie machen sollte und beschloss erst einmal das Zimmer mit dem Essen zu suchen. Ihr Magen knurrte bereits lautstark und so verließ sie den Raum. Der Boden war diesmal wieder eiskalt. Wo sie die Schuhe hatte, die ihr Ares gegeben hatte wusste sie schon gar nicht mehr. Und so lief sie barfuß den Gang entlang. Den besagten Raum fand sie auf anhieb und begann sich den Bauch mit allerlei Sachen vollzuschlagen. Wie bei ihrem ersten Essen auf diesem Schloss gab es von Fleisch über Brot bis zu Obst und Gemüse wirklich alles was das Herz begehrte. Als sie schließlich gegessen hatte, untersuchte sie das Stockwerk auf dem ihr Zimmer lag. Die junge Frau stellte schnell fest, dass es absolut gar nichts Interessantes hier gab. Die meisten Türen zu beiden Seiten auf dem Gang waren verschlossen und wenn sie sich mal öffnen ließen waren die Räume dahinter leer. Sie musste auch gar nicht lange laufen bis sie zu einer steilen Steintreppe kam. Sie drehte um, nur um nach wenigen Minuten festzustellen, dass am anderen Ende des Ganges ebenfalls eine Treppe hinunter führte. Eine ganze Weile überlegte sie und rang sich schließlich dazu durch die Treppe hinabzusteigen. Es waren so viele Stufen, dass sie bei 120 aufgehört hatte zu zählen. Und die Stufen hörten immer noch nicht auf, sondern führten in einer immer enger werdenden Spirale weiter nach unten. Plötzlich hörte die Treppe auf und sie wäre fast gestürzt. Wieder fand sie sich in einem Gang. Nach nur wenigen Schritten endete dieser und sie stand vor einer großen zweiflügligen Tür. Sie stieß den linken Flügel auf und trat in den dahinter liegenden Raum. Es war nicht nur ein Raum, sondern ein Saal. Um einiges größer als der Saal in dem sie das erste Mal mit Ares gegessen hatte. Am gegenüberliegenden Ende, das ihr unendlich weit weg vorkam, befand sich ebenfalls eine Tür, doch vor Staunen nahm sie diese nicht wirklich war. Die Wände waren ganz mit in Gold und Silber eingefassten Spiegeln verkleidet, die vom Boden bis zur Decke gingen. Das Meer aus Spiegeln wurde nur ab und zu durch ein hohes gotisches Fenster unterbrochen. Licht, das durch diese Fenster fiel ließ den Raum hell erstrahlen, da es sich immer wieder auf den Spiegeln brach. Sie sah kurz hoch zur Decke und sah, dass diese ebenfalls nur aus Spiegeln bestand. Knapp unter der Decke hingen mächtige Kronleuchter aus fein geschliffenem Kristall. Staunend und immer wieder um sich blickend schritt sie andächtig durch den Raum. Es gab absolut gar nichts in diesem Saal, das nicht aus Spiegeln bestand. Langsam begann sie sich um ihre eigene Achse zu drehen und schließlich tanzte sie durch den Raum. Schwerelos, fast schwebend bewegte sie sich über den Boden, der eigentlich ein einziger großer Spiegel war. Ein Gefühl von Glück und Freude durchströmte sie. Sie ließ sich gehen, dachte nicht darüber nach was sie eigentlich tat.
Plötzlich hielt sie inne. Patricia hatte etwas gesehen, konnte aber nicht genau sagen was. Rückwärts gehend näherte sie sich der Wand hinter sich um den ganzen Saal in Augenschein nehmen zu können. Sie wusste jetzt was sie gesehen hatte: ein Kreuz. Ungläubig starrte sie zur gegenüberliegenden Seite hinüber. Es war keine Täuschung: auf den Spiegel war mit schwarzer Farbe ein großes Kreuz gemalt. Ihr Blick ging weiter und tastete die gesamte gegenüberliegende Wand ab. Jeder Spiegel hier im Saal war mit einem riesigen Kreuz verziert. Einige Kreuze waren schwarz, andere waren mit Gold oder Silber aufgetragen. Ihr wurde kalt. Sie schlang die Arme um sich, im Versuch sich wenigstens ein bisschen zu wärmen. Überall wo sie hin blickte waren Kreuze. Selbst auf der Tür konnte sie ein Kreuz erkennen. Angst beschlich sie. Es war unheimlich. Zögernd drehte sie sich zu dem Spiegel hinter sich um. Was sie dort sag, ließ ihr fast das Blut in den Adern gefrieren: auch dieser Spiegel zeigte ein Kreuz. Aber es war nicht aus Farbe, Gold oder Silber, sondern aus Blut! Es war viel größer als die anderen und auch nicht so gleichmäßig. Man konnte deutlich Spuren darin sehen. Spuren als ob man mit einem blutigen Finger an einer Fensterscheibe entlang fährt, nur viel größer. Tropfen hatten sich gebildet und waren in langen dünnen Rinnsalen den Spiegel hinab gekullert. Die Angst in ihr wurde übermächtig. Völlig ungläubig und fassungslos schüttelte sie den Kopf und wandte sich mit einem Ruck schreiend von dem schrecklichen Bild, das sich ihr bot ab und rannte schreiend aus dem Saal.
Nach Luft ringend lehnte sie an der Wand neben der Treppe. Stets zwei Stufen auf einmal nehmend war sie die Treppe herauf gelaufen ohne sich eine einzige Pause zu gönnen. Jetzt rang ihre Lunge nach Luft und es schmerzte wenn sie atmete. Immer noch hatte sie das Bild dieses blutigen Kreuzes vor Augen. Patricia konnte an nichts anderes mehr denken. Immer und immer wieder sah sie die dünnen Rinnsale, die sich bis zum Boden vorgearbeitet hatten. Wahrscheinlich würde sie diesen Anblick nie wieder in ihrem Leben vergessen können.
Irgendwann hatte sie sich wieder etwas beruhigt. Sie stieß sich von der Wand ab und ging den Gang entlang, bis zur nächsten Treppe, die diese Etage des Schlosses begrenzte. Diese Treppe war nicht im geringsten beleuchtet und so nahm sie mit zitternden Händen eine der zahllosen Fackeln aus ihrer Halterung, die den Gang mit ihren Flammen erhellten. Stufe um Stufe ging sie die breite steinerne Treppe nach unten. Schon nach wenigen Metern, die sie hinabgestiegen war, stand sie vor einer eisernen Tür. Ganz leicht ließ sie sich öffnen und schwang mit einem leisen Quietschen auf. Der Raum dahinter war stockdunkel. Vorsichtig trat sie ein und beleuchtete mit der Fackel den Weg vor sich. Uralte mit Staub bedeckte Schränke mit ebenso staubigen Glasfenstern standen an den Wänden und in einer Ecke lagen in einem Flaschenregal unzählige Flaschen. Alles war mit einer dicken Staubschicht bedeckt und es musste wohl schon seit Jahren niemand hierher gekommen sein. Patricia ging zum Regal, zog eine Flasche heraus und blies den Staub vom Etikett. Es war Wein! Aber nicht irgendeiner, sondern ein Uralter aus dem Jahr 1834. „Warum hat er mir verboten in den Weinkeller zu gehen?“, fragte sie sich. Unschlüssig, was sie davon halten sollte legte sie den guten Tropfen zurück. Das Licht der Fackel warf unheimliche Schatten an die Wände rings um Patricia, was ihr langsam aber sicher unheimlich vorkam. Jetzt nahm sie die Schränke näher in Augenschein. Sie waren nicht verschlossen, obwohl sich an jeder Schranktür ein altes großes Schlüsselloch befand. Unter einem lauten Knarren bewegten sich die Angeln. Schließlich sah die junge Frau den Inhalt der Schränke. Überall standen kleine verstaubte Fläschchen, Ampullen und abgebrannte Kerzen. Willkürlich griff sie sich eine dieser kleinen Flaschen. Wieder musste sie erst einmal den Staub wegblasen, um das vergilbte Etikett überhaupt lesen zu können. 1787 stand in einer ihr bekannten Handschrift darauf, auch wenn sie nicht wusste wo sie diese Schrift schon einmal gesehen hatte. Als sie das sorgsam geschlossene Fläschchen gegen die Flamme ihrer Fackel hielt und es drehte, sah sie, dass es sogar noch einen Inhalt hatte. Eine tief rote Flüssigkeit schwappte darin umher. Entschlossen öffnete sie das Gefäß und roch daran. Doch sie roch nichts, absolut gar nichts. Sie schüttete sich etwas davon auf den Handrücken der Hand, die die Fackel hielt und leckte daran. Es schmeckte genauso, wie wenn sie am Finger lutschte, in den sie sich gerade geschnitten hatte, denn es war Blut! Die Erkenntnis überkam sie so heftig, dass sie vor Schreck die Flasche fallen ließ. Sie zersprang auf der Stelle in hunderte kleiner Scherben und ihr Inhalt hinterließ ein seltsames Muster auf dem Stein. Angeekelt sah sie auf den Boden und lief zur Tür, um sie hinter sich zuzuschlagen. Keuchend lehnte sie sich gegen die Außenseite der Tür und versuchte den Geschmack in ihrem Mund loszuwerden, indem sie immer wieder ausspuckte, doch es half nichts. Der mehr als unangenehme Geschmack blieb. Völlig apathisch stand sie da. Langsam stiegen ihr Tränen in die Augen. Tränen der Verzweiflung und des Unglaubens über ihre Tat.
Sie ließ die Fackel fallen, die sofort erlosch als sie den Boden berührte. Obwohl es auf der Treppe kein kleines bisschen Licht gab, rannte sie sie hinauf. Ihr war es egal ob sie stürzte. Ihr war es egal ob sie sich hier das Genick durch einen kleinen Fehler brechen konnte. Das Einzige was sie wusste war, dass sie hier raus musste! Raus aus diesem Stockwerk, raus aus diesem Schloss und vielleicht auch raus aus diesem Land. Es hatte ihr bisher nur Schmerzen bereitet. Nichts von alle dem was sie bis jetzt hier erlebt hat brachte ihr Glück oder etwas Ähnliches in dieses Richtung. Immer schneller und schneller hastete Patricia die Stufen hinauf, bis sie endlich Licht sah. Doch auch jetzt verlangsamte sie ihr Tempo nicht.
Noch einmal probierte sie sämtliche Türen auf dem Gang hier oben aus, doch es ließen sich keine Weiteren öffnen. Es gab keinen Ausgang. Die einzige Möglichkeit, wie sie feststellte war der Spiegelsaal. Sie glaubte dort etwas gesehen zu haben, das eine Tür sein konnte. Mit klopfendem Herzen und mit dem Rücken dicht zur Wand tastete sie sich langsam vor. Sie hatte Angst. Angst davor noch einmal diesen Saal zu betreten, der am Anfang völlig harmlos gewirkt hatte. Schließlich stand sie vor den zwei Flügeln. Mit hämmerndem Herzen stieß sie einen Flügel auf und senkte den Blick um nicht die Wände ansehen zu müssen. Bis zum Äußersten entschlossen ging sie mit weit ausgreifenden Schritten durch den Raum und erstarrte mitten in der Bewegung. Nur wenige Zentimeter vor ihren Zehenspitzen zog sich eine etwa fingerbreite Linie über den Boden. Die Linie an sich störte sie wenig, was Patricia so beunruhigte war die Farbe. Farbe wie die eingetrockneten Blutes. Langsam sah sie auf. Die Linie war nicht einfach nur etwas Dahingemaltes, sondern gehörte zu einem gigantischen Kreuz, das auf den Boden gemalt war. Es nahm fast die gesamte Grundfläche des Saals ein und bestand ganz aus dieser Blutlinie. Jede Farbe wich aus ihrem Gesicht und entsetzliche Angst ergriff sie. Mit allem hatte sie gerechnet, nur nicht damit noch ein weiteres Kreuz aus Blut zu sehen. Sie fasste all ihren Mut zusammen, hielt den Blick starr auf die gegenüberliegende Tür und marschierte los. Ein kalter Schauer lief ihr den Rücken hinunter als sie die Linie aus eingetrocknetem Blut überquerte. Sie beschleunigte ihre Schritte immer mehr und schließlich rannte sie. Sie wollte und konnte nicht länger in diesem Kreuz, in diesem Saal bleiben. Während sie durch den Saale hastete hörte sie ein Wimmern und Flehen, das von unendlich weit herkommen zu schien und das sie beim ersten Betreten nicht wahrgenommen hatte. Einmal blieb sie ganz kurz stehen, konnte aber nichts entdecken. Doch die Stimmen hielten weiter an. Die Angst in ihr wurde immer mächtiger und sie fing wieder an zu laufen.
Endlich hatte sie die Tür erreicht stets begleitet von flehenden Stimmen und qualvollen Schreien. Patricia sprang über die letzte Linie und stürmte aus dem Spiegelsaal hinaus. Draußen befand sich ein langer von Fackeln erhellter Gang, der sich zu beiden Seiten erstreckte und um eine Biegung verschwand. Wie ein gehetztes Tier blickte sie nach rechts und links, unfähig sich für eine Richtung zu entscheiden. Einmal atmete Patricia noch tief ein und lief dann den linken Gang entlang. Die Mauern wirkten in diesem Teil des Schlosses noch älter und trugen deutlich sichtbare Zeichen des Alters. Eine dicke Rußschicht bedeckte den oberen Teil des Ganges, so als ob darin jahrhundertelang Fackeln die steinige Decke geschwärzt hätten.
Sie stieg nicht enden wollende Treppen in die Tiefe hinab, durchquerte mehrere kleine Zimmer und hastete bedrohlich wirkende Gänge entlang. Doch nirgends sah sie einen Ausgang. Sie konnte die Eingangshalle mit der großen Tür einfach nicht finden, obwohl ihr ein paar Gänge bekannt vorkamen. Aber sie konnte sich auch täuschen. Irgendwie sahen hier alle Gänge gleich aus. Jede Treppe glich der anderen aufs Haar genau. Stunden irrte sie orientierungslos durch das Schloss, das unmöglich so riesig sein konnte! Sie kam an keinem einzigen Fenster vorbei, sämtliche Türen waren fest verschlossen und langsam taten ihre Füße weh. Völlig erschöpft ließ sie sich an einer Wand absinken und setzte sich auf den kalten Boden. Die Kälte spürte Patricia gar nicht mehr, so kraftlos war sie. Sie wollte sich nur noch ausruhen, ihren Füßen eine kleine Pause gönnen. Müde sah sie an sich herab. Das ehemals blendend weiße Stück Stoff hing in Fetzen an ihr herab und war an manchen Stellen richtig schwarz. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie an etwas hängen geblieben war. Mit dem Ärmel wischte sie sich über die nasse Stirn und hielt mitten in der Bewegung inne. Am Ärmel waren winzige Bluttropfen zu sehen. Als sie die Flasche in der Kammer fallen ließ musste wohl etwas Blut hoch gespritzt sein. Unruhig sah sie nach rechts und links und tastete mit ihrem Blick den Gang ab. Es musste doch irgendeinen Weg hier heraus geben! Wollte Ares sie auf ewig hier festhalten? „Und wenn er gar nicht Ares heisst, sondern ein entflohener Irrer aus einer Heilanstalt für psychisch gestörte Menschen war? Schon dutzende von Leuten umgebracht hatte und sie sein nächstes Opfer sein sollte?“, schoss es der Frau durch den Kopf. Zeitgefühl hatte sie schon lange nicht mehr, aber Ares oder wie der Kerl hieß musste jeden Moment zurückkommen. Immer noch kraftlos stand sie auf und machte sich auf die Suche nach dem Ausgang. An das, was der Irre mit ihr machen würde, würde sie ihm über den Weg laufen, mochte sie gar nicht erst denken.
Als Patricia wieder einige Gänge und Treppen hinter sich gelassen, glaubte sie Schritte zu hören. Schritte die ihr folgten. Immer in einem gewissen Abstand, doch nie so, dass der Klang ganz verstummte oder direkt hinter ihr war. Panik ergriff Patricia und sie begann zu laufen. Immer schneller und schneller, bis vor ihr wie aus dem Nichts ein riesiger Schatten auftauchte. Ein entsetzter Schrei kam aus ihrer Kehle und sie wich vor der immer näher kommenden Bedrohung langsam zurück. Plötzlich war der Schatten verschwunden und sie spürte einen harten Schlag, der ihren Kopf traf. Sofort verlor sie das Bewusstsein und brach zusammen.
Als sie erwachte befand sie sich wieder in diesem überdimensionalen Himmelbett in ihrem Zimmer. Ares stand am Fuße ihres Bettes und sah auf sie herab. Reflexartig begann die junge Frau zu schreien. Schnell kam er um das Bett herum, ergriff sie hart an den Schultern und drückte sie unsanft auf das Bett nieder. „Beruhige dich! Ich bin’s, Ares!“, schrie er sie an. Sie schrie immer noch wie am Spieß und versuchte sich mit aller Kraft aus dem festen Griff zu befreien – jedoch ohne Ergebnis. Noch einmal wiederholte er seine Worte und sah ihr dabei fest in die Augen. Allmählich begann sie sich wieder zu beruhigen und Ares ließ etwas locker, hielt sie aber immer noch fest. Verstört blickte Patricia ihn an und er sagte ruhig: „Es war ein Traum! Nur ein Traum...“ „Ein Traum? Aber ich...“, entgegnete sie völlig verwirrt. Er löste seinen Griff jetzt völlig und sie setzte sich langsam auf. Langsam zog sie ihren Arm unter der Decke hervor, streckte ihn ihm hin und sagte: „Hier!“ Der junge Mann sah sie völlig verständnislos an und sie sah an sich herab. Sah den völlig unversehrten in hellem Weiß erstrahlenden Stoff und schüttelte völlig irritiert den Kopf. „Das kann nicht sein“, murmelte die Frau. „Es war ein Traum. Nichts weiter“, erwiderte Ares kalt. In einer blitzartigen Bewegung drehte er sich auf dem Absatz um und schlug seinen Umhang zur Seite. Schnell steuerte er die Tür an und blieb noch einmal kurz davor stehen, blickte sich aber nicht nach ihr um. „Ich erwarte dich zum Essen im Zimmer gegenüber“, sagte er laut und ließ die schwere Holztür hinter sich ins Schloss fallen. „Was hat er nur?“, fragte sie sich. Noch etwas müde rutschte sie zum Bettrand und schwang die Beine aus dem Bett. Vor dem Bett standen wieder diese hochhackigen Schuhe, in denen sie nicht richtig laufen konnte. Da aber der Boden eiskalt war zog sie sie ohne lange überlegen zu müssen an.
Das Essen verlief äußerst schweigsam. Ares würdigte sie keinen einzigen Blickes und auch Patricia sah schweigend auf ihren Teller hinab und grübelte. Sie hatte keine Ahnung warum er so abweisend zu ihr war. Es gab dafür doch keinen Grund! Irgendwann sah sie doch auf. Ares starrte die Wand zu seiner Rechten an und schwenkte den Rotwein in seinem Glas hin und her. Die tief rote Flüssigkeit schwappte schon bis ganz knapp unter dem Rand des Glases. „Wieso trinkt er bei jedem Essen Wein?“, kam es Patricia in den Sinn. Es war schon komisch, aber sie hatte ihn bis jetzt noch kein einziges Mal etwas anderes trinken sehen, sondern immer nur diesen Rotwein. Jetzt hielt er das Glas fest in der Hand und sein Inhalt lief auf dem Grund zusammen. Reste dieser roten Flüssigkeit hafteten noch am Glas und bildeten Schlieren – wie Blut. Der Anblick erinnerte sie unweigerlich an Bilder von Blutbeuteln aus dem Krankenhaus. Jetzt verfolgte sie ihr Traum schon bis hierher! In einer einzigen Bewegung hob Ares das Glas zum Mund, warf seinen Kopf in den Nacken und stürzte den Rest hinunter. Mit einer zornigen Handbewegung knallte er das Glas, das einen durchgehenden Sprung bekam, aber nicht zerbrach, auf den Tisch und schrie sie an: „Was!? Was starrst du mich die ganze Zeit so an?!“ Vor Schreck zuckte Patricia zusammen. Sie hatte nicht gemerkt dass sie ihn angestarrt hatte wie ein kleines Kind, das zum allerersten Mal in seinem Leben den Weihnachtsmann sah. Betroffen senkte sie ihren Blick. „Nichts. Es ist Nichts...“, wollte sie zu einer Erklärung ansetzen, doch ihre Stimme versagte. Mit einem Ruck stand sie auf und der Stuhl fiel polternd zu Boden. Sie rannte aus dem Zimmer in ihres hinüber und warf sich dort auf das Bett. Schluchzend vergrub sie ihr Gesicht in den Kissen und ließ ihren Gefühlen freien Lauf. Ares sah noch immer völlig überrascht und perplex dorthin, wo bis vor wenigen Sekunden noch sein Gast gesessen hatte. Er ist wohl doch etwas zu grob mit ihr umgesprungen. Langsam stand er auf, stellte den umgefallenen Stuhl wieder an seinen Platz und trat leise auf den Gang hinaus. Er hatte schon seine Hand auf dem Türknauf liegen, als er von drinnen ein lautes Schluchzen und Weinen hörte. Er hielt es für besser sie sich selbst zu überlassen und ging weg.
Patricia hatte von all dem nichts mitbekommen. An diesem Tag weinte sie sich in den Schlaf. Da es bereits später Nachmittag gewesen war, als sie aus ihrem Alptraum erwachte wachte sie mitten in der Nacht wieder auf. Auf eine unerklärliche Weise wurde sie vom Fenster angezogen, durch das der Mond hell seinen Schein in das Zimmer warf. Sie krabbelte auf allen Vieren über das Bett, zog die Schuhe aus und ging zum Fenster. Fröstelnd verschränkte sie die Arme vor der Brust und sah hinaus. Schwärze soweit das Auge reichte. Langsam hob sie den Blick. Kein einziger Stern war am Nachthimmel zu sehen., nur der Mond erstrahlte in einem hellem Licht. Es war Vollmond. Patricia schloss die Augen, hatte den Kopf weit nach hinten gebeugt und ließ sich das Mondlicht ins Gesicht scheinen. Lange stand sie so da. So viele Sachen gingen ihr durch den Kopf. Sie dachte an Benno, ihre Flucht durch den Wald, ihren seltsamen Traum mit den Blutkreuzen und an Ares. Alles zusammen erschien irgendwie keinen Sinn zu ergeben. Bald würde die Sonne über dem Wald aufgehen. Sie hatte die ganze Nacht am Fenster gestanden und erst jetzt merkte sie dass es eiskalt im Zimmer war. Schnell ging Patricia ins Bett zurück und zog die Decke bis zum Kinn hoch.
In den darauffolgenden Tagen herrschte immer noch eisiges Schweigen zwischen den beiden. Patricia starrte immer nur ihren Teller an und traute sich nicht, Ares irgendetwas zu fragen oder sich mit ihm ganz normal zu unterhalten. Sie war eingeschüchtert. Ares selbst war zu stolz, um sich bei irgendjemandem zu entschuldigen. Vielmehr redete er sich ständig ein, dass ihn an dieser Situation keine Schuld trifft. Immer wenn Patricia den Raum betrat, hoffte er, sie würde irgendetwas sagen, und wenn es nur ein einziges Wort wäre. Als sie nach dem Essen wieder ging und sie hatten immer noch nicht miteinander gesprochen, erfüllte ihn Wut auf sich selbst. So ging es ein paar Tage lang, bis sich die zwei wieder schweigend gegenüber saßen. Die junge Frau spielte gedankenverloren mit dem Kreuz um ihren Hals. Die Sonnenstrahlen, die durch die hohen Fenster hereinfielen brachen sich auf der Oberfläche des Anhängers. Die reflektierten Strahlen trafen Ares im Gesicht. Als er es bemerkte starrte er sie mit einem undefinierbaren Blick an. Wie vom Blitz getroffen hielt sie mitten in der Bewegung inne und sah in angstvoll aus großen Augen an. Eine ganze Weile sahen sie sich so an, bis plötzlich beide anfangen mussten zu lachen.
Ares zeigte seinem Gast weitere Teile dieses riesigen Schlosses. Sie unterhielten sich stundenlang, verbrachten fast den ganzen Tag damit in der Bibliothek zu lesen oder einfach nur an einem der vielen Kamine hier im Schloss zu sitzen. Ihr Leben jenseits der Schlossmauern hatte Patricia schon völlig vergessen. Schon längst hätte sie wieder im Büro sein müssen, aber hier schien die Zeit irgendwie stehen geblieben zu sein. Zeit hatte keine Bedeutung mehr für sie Das einzige was für sich noch zählte, war das Hier und Jetzt. Wenn sie spät abends in ihrem Bett lag und den Himmel darüber ansah kreisten ihre Gedanken nur um eine Person: Ares. Sie fühlte sich leicht, war glücklich. Und immer wieder wurde ihr unendlich heiß wenn sie ihn sah oder nur an ihn denken musste. Sie konnte sich nicht gegen die Gedanken an Ares wehren und sie wollte es auch gar nicht.
Eines nachts stand sie auf und ging zum Fenster. Der Mond stand voll am Nachthimmel und schien hell in ihr Zimmer. Immer mit den Gedanken bei Ares ging sie zu der Kommode und zündete ein paar Kerzen an. Langsam und verträumt kämmte sie ihr Haar, das im warmen Licht der Kerzen wunderschön glänzte. Gedankenverloren sah sie ihrem Spiegelbild zu. Plötzlich spürte sie Wärme, so als ob jemand direkt hinter ihr stehen würde. Sie sah auf, doch im Spiegel sah die junge Frau nur sich selbst. Sie begann wieder ihr langes Haar zu kämmen, als sie eine Berührung an ihrem Hals spürte. Ihr Herz schlug immer schneller. Ängstlich stand sie auf und drehte sich ganz langsam um, die Bürste mit beiden Händen fest umfassend und an ihre Brust gedrückt. Hinter ihr stand Ares. Sie hatte gar nicht gehört, wie er in ihr Zimmer gekommen war. Vorsichtig nahm er ihr die Bürste aus der Hand und legte sie auf die Kommode. Immer noch überrascht und irgendwie ungläubig, aber auf eine unbestimmte Art und Weise befriedigt stand sie so da. Insgeheim hatte sie sich gewünscht er solle kommen, aber jetzt, da er vor ihr stand wusste sie nicht was sie sagen oder gar tun sollte. Alles schien wie in einem Traum. Lange sahen sie sich an. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Ares tat einen Schritt auf sie zu und beugte sich langsam zu ihr hinunter. Patricia schloss ihre Augen, als ihre Lippen sich berührten. Sie genoss diesen langen intensiven und süß schmeckenden Kuss. Wie sehr hatte sie eine solche Liebkosung vermisst. Es wurde ihr erst jetzt wieder bewusst. Nach dem Tod ihres Verlobten war eine Welt für sie zusammengebrochen. Nie wieder wollte sie einen Menschen derart lieben. Sie hatte Angst davor sich neu zu verlieben. Hatte jeden Kontakt zu Männern vermieden, hatte für jedes Treffen eine Ausrede parat. Aber bei Ares war es anders. Er war ganz und gar nicht so, wie die Männer in ihrer Umgebung. Ihre Küsse wurden immer intensiver und fordernder. Patricia warf seinen Umhang in hohem Bogen Richtung Fenster und knöpfte ihm mit zitternden Händen seine Weste auf. Er half ihr dabei und sah sie aus seinen blauen Augen an. „Ich...ich“, wollte sie mit zitternder Stimme anfangen. Aber Ares legte ihr den Finger auf den Mund und trug sie halbnackt zum Bett. Noch während er sie die wenigen Schritte von der Kommode bis zum Himmelbett trug, tauschten sie wieder wild fordernde Küsse aus. Schließlich legte er sie sanft auf dem Bett ab. Langsam löste er die Schleife ihres Morgenmantels und schlug ihn auf. Obwohl sie diesen Mann noch gar nicht lange kannte und er ihr anfangs unheimlich war, störte sie es nicht im geringsten, dass sie jetzt völlig nackt dalag. Sie ließ sich von ihrer Lust treiben. Ares küsste jede Stelle ihres Körpers und sie genoss es. Es war einfach unbeschreiblich schön soviel Aufmerksamkeit zu bekommen. Irgendwann küsste er wieder ihre Schultern und ihren Hals. Zitternd vor Erregung umschlang sie ihn immer fester mit ihren Armen. Dann spürte sie einen kurzen stechenden Schmerz am Hals. Doch nur kurze Zeit später ging der Schmerz in ein fast angenehmes Pochen über. Dass Ares anfing an ihrem Hals gierig zu saugen nahm sie nur noch unwirklich wahr. Sie fiel langsam in einen Dämmerzustand. Konnte nicht mehr unterscheiden was wirklich und was fiktiv war. Nur wenige Augenblicke später ging dieser Zustand in tiefe Bewusstlosigkeit über. Ares saugte noch immer genüsslich an der Wunde an Patricias Hals. Er konnte einfach nicht genug bekommen. Er war süchtig nach der Energie, die durch ihre Adern floss. Viel später erst riss er sich von ihr los. Mit dem Handrücken wischte er sich das noch immer warme Blut an seinem Mund ab. Ein letztes Mal sah er sie noch an, dann sammelte er seine Klamotten ein, blies die Kerzen aus und ging.
Als Patricia den Raum betrat, in dem sie immer gegessen hatte, saß Ares bereits auf seinem Stuhl und hatte sich zum Fenster umgedreht. „Gut geschlafen?“, fragte er ohne sie anzusehen. „Nach der Nacht auf jeden Fall“, entgegnete die junge Frau strahlend. „Ja, die letzte Nacht war wirklich wunderschön.“ Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „So einen vollkommenen Vollmond habe ich selten gesehen.“ „Vollmond?“, dachte sie, „Von was redet er?“ „Hast du ihn auch angesehen?“ Ares drehte sich jetzt wieder um und sah sie an. „Wen?“, fragte sie völlig irritiert. „Na den Mond!“ „Den Mond? Ja...natürlich doch“, brachte sie stotternd hervor. „Aber ich dachte du warst in meinem Zimmer.“ „Ich in deinem Zimmer? Was hätte ich da tun sollen mitten in der Nacht?“, meinte er halb lachend, so als ob diese Möglichkeit völlig abwegig wäre. „Was hast du denn dann noch letzte Nacht gemacht?“, fragte sie leicht zögernd. Als er antwortete, dass er in der Bibliothek noch gelesen hätte und sich noch etwas zu essen geholt hatte flüsterte sie enttäuscht: „Dann war das alles wohl nur ein Traum...“ „Was meinst du?“, erkundigte sich der junge Mann. „Nichts. Es ist nichts. Ich habe wohl nur laut gedacht.“
Den ganzen Tag über war Patricia geknickt. Ihr Traum war doch so realistisch! Sie hätte schwören können sie hat das alles wirklich erlebt. Und wenn Ares die vergangene Nacht einfach nur verleugnet hat? Schnell ging sie zum Spiegel hinüber. Fast verzweifelt versuchte sie die Stelle an ihrem Hals zu finden, wo er sie einmal kurz gebissen hatte. So sehr die junge Frau auch danach suchte, sie konnte die Stelle nicht finden. Es war also nur ein weiterer Beweis dafür, dass sie alles nur geträumt hatte. Aber warum hat sie dann am Morgen nackt auf ihrem Bett gelegen? „Wahrscheinlich träume ich einfach nur zu realistisch und ziehe mich dabei selbst aus...“, kam es ihr in den Sinn. Schon als sie aufwachte fühlte sie sich total matt. Jede noch so kleine Bewegung kam ihr vor wie eine sportliche Hochleistung. Das war heute einfach nicht ihr Tag. Langsam ging sie zum Bett hinüber. Ihr wurde schwarz vor Augen. Schweiß trat ihr auf die Stirn und alles begann sich um sie herum zu drehen. Immer schneller und schneller. Schließlich erschlaffte ihr Körper und sie fiel vornüber aufs Bett.
Als Patricia wieder erwachte war es Nacht. Völlige Dunkelheit herrschte um sie und nur das fahle Licht des Mondes fiel durch das Fenster, an dem sie sooft gestanden hatte. Sie fühlte sich noch immer müde und kraftlos. Trotzdem erhob sie sich langsam und zündete eine der Kerzen an. So leise wie möglich trat sie auf den Gang hinaus. Die Fackeln brannten immer noch, trotzdem hielt sie die Kerze immer noch fest in Hand und wandte sich nach links. Warum sie mitten in der Nacht aufstand und durch das Schloss wanderte konnte sie sich selbst nicht erklären. Sie lief unzählige Gänge entlang. Schon nach wenigen Abzweigungen und Treppen wusste sie nicht mehr aus welcher Richtung sie gekommen war, aber das war ihr egal. Zielstrebig lief sie weiter. Langsam beschlich sie ein Gefühl, so als ob sie schon einmal hier gewesen wäre. Schließlich befand sie sich vor einer schweren Eisentür. Voller Unbehagen stieß sie die Tür auf, die sich leise quietschend in den Angeln bewegte. Doch ihre Vermutung bestätigte sich nicht. Der Raum dahinter war leer. Keine Schränke mit Blutfläschchen. Erleichtert trat sie ein und sah sich um. Es gab keinen Zweifel: das Zimmer wurde schon lange nicht mehr betreten. Riesige Spinnweben hingen von der niedrigen Decke herab und auch auf dem Boden lag eine dicke Staubschicht. Sie wollte gerade wieder aus dem Raum als ihr etwas auffiel. Trotz der Staubschicht war eine Stelle des Bodens dunkler. Im Schein der Kerze hätte sie es fast übersehen. Jetzt aber bückte sie sich und fegte mit der freien Hand den Staub an dieser Stelle fort. Was darunter zum Vorschein kam ließ ihr fast das Blut in den Adern gefrieren: auf dem Boden war ein großer dunkler Fleck zu sehen. Geschockt lief sie aus dem Raum und wieder den Gang zurück und die Treppe hoch. Sie nahm die nächstbeste Abzweigung und fand sich wieder in einem Gang. Zu beiden Seiten zweigten Türen ab. Alle waren aber fest verschlossen. Mutlos drückte sie die Klinke der Letzten. Doch das Wunder geschah und sie sprang auf! Dahinter befand sich aber nur ein weiterer Gang. Gehetzt sah sie sich zu allen Seiten um und lief los. Wieder eine Tür, die aber auch nicht abgeschlossen war. Angstvoll trat Patricia ein und sah sich um. Es war hier warm, fast heiß sogar. Schnell erkannte sie den Grund dafür: in einem Kamin brannte ein Feuer. Doch das Feuer dort konnte den Raum nicht gänzlich erhellen, und so musste sie weiterhin auf das Licht ihrer Kerze vertrauen, die fast vollständig abgebrannt war. Direkt über der niedrigen Holztür hingen zwei gekreuzte Degen. Immer noch irritiert und erschrocken ging sie zu einem der zwei Bücherregale. Sie zog willkürlich ein Buch heraus, schlug es irgendwo auf und hatte gerade angefangen zu lesen. „So nahm ich einem weiterem Menschen sein Leben in dem ich ihm das Blut aus den Adern saugte...“, las sie vor. Plötzlich wurde es eiskalt im Zimmer und die Tür sprang auf. Noch ehe sich die Frau umdrehte, wusste sie, wer unter der Tür stand. Das Buch fiel mit einem dumpfen Schlag zu Boden als Ares völlig ruhig aber bedrohlich sagte: „Es reicht!“ Er hatte noch nicht einmal sonderlich laut gesprochen und doch zuckte Patricia wie unter einem schweren Schlag zusammen. Sie konnte ihn nur als Schatten erkennen, der ihr den Angstschweiß auf die Stirn trieb. Langsam trat der Mann ins Licht. „Ich...ich...wollte nur“, fing sie an, aber ihre Stimme versagte vor Angst. Mit einer Hand nahm er einen der Degen von der Wand und sagte zu ihr: „Spar dir deine Erklärungen. Ich habe dir jetzt lange genug zugesehen.“ Das Metall blitzte ein paar Mal kurz auf als sich das Licht darauf brach. Gelassen und ohne jede Eile schritt er auf sie zu. Den Degen hatte er gesenkt, hielt ihn jedoch eisern fest. Nur noch ein paar Schritte und er hatte die junge Frau erreicht. Mit einer blitzschnellen Bewegung hob er den Degen und hielt ihr die Spitze unters Kinn. Das Metall berührte ihre Haut. Patricia ließ die Kerze fallen und wich zurück. Immer mit dem Rücken zum Regal schob sie sich in die Ecke, mit den Händen nach etwas suchend das sie auf Ares werfen konnte. Die Kerze, die sie fallen gelassen hatte, setzte den Teppich in Brand. Ares machte eine kleine Bewegung mit der Hand und die Flamme erlosch. Noch nicht einmal ein Brandfleck war zurück geblieben. Den winzigen Moment, in dem er abgelenkt war hatte Patricia ein dickes Buch zu fassen bekommen. Doch noch ehe sie es vollends herausziehen konnte meinte Ares: „Versuch es gar nicht erst.“ Wieder kam er näher und hielt ihr die Klinge an den Hals. Sie sah ein, dass sie ihm nicht überlegen war und ließ das Buch wieder los. Es hätte keinen Sinn gehabt ihn damit anzugreifen. Und selbst wenn ihr Überraschungsangriff geglückt wäre, wohin hätte sie gehen sollen? Das Schloss war so riesig und dass sie hierher gelangt war, war nur Zufall gewesen. Ein unglücklicher Zufall wie sich herausstellen sollte.
Jetzt stand sie vor einer weiteren Tür. Ares hatte sie die ganze Zeit vor sich her getrieben. Die Spitze des Degens hatte sie immer im Rücken gespürt als sie sich auf dem Weg hierher befunden hatten. Wieder spürte sie die Spitze, die sich diesmal schmerzhaft in ihr Fleisch bohrte. Sie beeilte sich die schwere Tür zu öffnen. Völlig entsetzt blickte sie sich um. Hinter der Tür befand sich eine kleine Kapelle. Der Altar aus schwarzem Marmor stand ziemlich am Ende des Raums, der von Hunderten von Kerzen fast taghell erleuchtet wurde. Am gegenüber liegenden Ende war ein riesiger Spiegel aufgestellt. Auf ihm war ein großes Kreuz gemalt, wie im Spiegelsaal. Der jungen Frau war sofort klar, dass es mit Blut gemalt war. „Willst du nicht weitergehen?“, fragte sie Ares hämisch. Als sie keine Anstalten machte weiter zu gehen bohrte er wieder mit seinem Degen. Ihr blieb keine Wahl.
Vor dem Altar blieb sie stehen und sah sich angstvoll um. Ihr Blick fiel auf den Spiegel. Sie konnte nur sich selbst darin sehen, obwohl Ares immer noch mit dem Degen hinter ihr stand, den sie schmerzhaft spürte. So richtig begreifen konnte sie das, was sie sah nicht. Schließlich senkte Ares den Degen und der Schmerz ließ nach. Langsam ging er um sie herum und betrachtete sie. Schließlich ließ er die Waffe fallen. Reflexartig bückte sich Patricia danach und hatte den Degen schon fast in der Hand als ihn Ares mit dem Fuß wegkickte. Mit einem lauten Klirren schlitterte er in eine Ecke des Raums. „Hälst du mich wirklich für so blöd?“, fragte Ares sie. Der Degen war ihre einzige Chance gewesen dieses Schloss lebend zu verlassen, doch sie war zu langsam gewesen. Ihre Situation war ausweglos. Ihrem Ende entgegensehend sank sie auf dem Boden zusammen. „Was bist du eigentlich?“, fragte sie obwohl sie die Antwort auf ihre Frage eigentlich schon längst ahnte. „Später, wir haben noch genug Zeit uns zu unterhalten.“ Unendlich traurig sah sie ihn an und sah wir er seine Hand nach ihr ausstreckte. Als er seine Hand mit gespreizten Fingern weit von sich hielt spürte sie wie sie von etwas gepackt wurde. Grob wurde sie in die Höhe gezerrt und dann rücklings zum Altar geschleppt. Bis sie begriff was mit ihr geschah lag sie schon auf dem kalten Stein und wurde von unsichtbaren Kräften an den Hand- und Fußgelenken festgehalten. Noch einmal wiederholte sie ihre Frage von eben. „Weißt du es wirklich nicht?“ Als Patricia nicht antwortete sagte er: „Ich dachte eigentlich du hast es längst herausgefunden, aber ich will es dir trotzdem verraten.“ Langsam kam er näher und flüsterte ihr ins Ohr: „Ich bin das, was ihr einen Vampir nennt. Ich bin ein Blutsauger, ein Untoter, ein Nosferatu!“ Schallend lachte er. Diese Antwort erschreckte sie nicht einmal. Tief in ihrem Inneren hatte sie es schon längst gewusst. „Dann sind also auch die Geschichten um Graf Dracula war...“, folgerte sie. „Dracula?“ Ares musste anfangen zu lachen. Er trat wieder heran und stützte sich mit den Armen auf den Stein. „Dracula war ein Spinner. Er war ein ganz normaler Mensch der den Ruhm suchte, und deshalb vorgab ein Vampir zu sein. Und auch die Gerüchte von geweihten Gegenständen, Knoblauch usw. sind nicht war. Wir lieben die Nacht, darum sieht man uns nur selten tagsüber. Der Knoblauch ist die Rose der Untoten, wir lieben alles was mit Kirche zu tun hat, vor allem Kreuze wie du bereits festgestellt hast. Die Bibel erzählt unsere Geschichte, aber man muss zwischen den Zeilen lesen. Luzifer ist der Ursprung unseres Daseins. Aber zurück zu Dracula, wie sich dieser Irre Mensch erst später nannte, als er seinem Wahnsinn immer mehr verfiel: er hat alles nur verdreht.“ „Das ist alles was es über Dracula zu sagen gibt?“, fragte die junge Frau ungläubig. Sie hatte völlig vergessen in welch misslicher Lage sie sich befand. „Nein, nicht ganz. Der Graf hatte einen schweren Unfall in den Bergen und wäre an seinen Verletzungen fast gestorben, wenn ihn nicht einer meiner Rasse gefunden hätte. Dieser Vampir war ein Schwächling und hatte regelrecht die Nähe zu Menschen gesucht. Als er den Grafen fand heilte er ihn und verschwand. Von diesem Tag an suchte der Graf sein ganzes Leben lang nach einem, der ihn ebenfalls zum Vampir machen sollte. Doch er fand keinen. Das heisst, er fand sehr wohl weitere Vampire, aber keiner war bereit dazu, ihn zu einem der ihren zu machen und lachten ihn aus. Schließlich kam es soweit, dass er von der Vorstellung untot zu sein regelrecht besessen war. Er schlief tagsüber, ging in der Nacht auf Beutefang und ernährte sich von Blut“, endete Ares. „Was ist aus ihm geworden?“ „Nach dem er etliche Jahrzehnte die Welt in Angst und Schrecken versetzt und seinen Wunsch ausgelebt hatte, war er verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt. Der oberste Vampir, mein Meister hatte ihn umgebracht und nicht nur ihn, sondern auch Timor, der dem Grafen das Leben gerettet hat. Er hatte befürchtet, dass das Image der Untoten durch einen oder besser gesagt zwei solcher Spinner in den Dreck gezogen wird. So falsch hat er damit nicht gelegen...“ „Nur weil Timor einem Menschen geholfen hat wurde er umgebracht?!“, empörte sich Patricia darüber. „Menschen zu helfen ist ein Ausdruck von Schwäche! Schwache Vampire haben kein Recht auf weiteres Dasein und sind wertlos. Sie haben keinen Nutzen! Keiner würde ihnen eine Träne nachweinen! Es darf nur starke Vampire geben!“, fuhr Ares auf. Er war ihrem Gesicht bei diesen Worten gefährlich nahe gekommen. Patricia hatte deutlich die spitz zulaufenden und längeren Eckzähne sehen können. „Und warum hast du mir dann geholfen wenn es keine Schwächlinge geben darf?“, fragte die junge Frau herausfordernd. Sie hatte keine Angst mehr vor ihm. Sterben würde sie so oder so. Zorn erfüllte ihn und mit einer Hand griff er ihr, ohne lange darüber nachzudenken, an die Kehle. Er packte fest zu und würgte sie. „Nenn mich nie wieder einen Schwächling!“, schrie er sie an. Patricia bekam keine Luft mehr und wollte auf ihn einprügeln, aber die unsichtbaren Fesseln hielten ihre Arme fest auf dem schwarzen Stein. Sie war zu weit gegangen. Unter seinem festen Griff erschlaffte ihr Körper rasch. Doch er würgte sie immer weiter, ließ seine Wut an ihr aus und drückte ihren Kopf immer weiter nach hinten. Schon lange hatte die Frau ihr Bewusstsein verloren, doch er ließ nicht von ihr ab. Die Halswirbel knackten bereits als Ares wieder zu Besinnung kam. Erschrocken ließ er sie los und starrte seine Hände an, die Patricia fast umgebracht hätten.
Als sie Stunden später wieder erwachte sah sie sich um, konnte Ares aber nirgends sehen. „Ares?“, rief sie leise in den Raum. Wie auf Kommando trat er aus dem Schatten der Tür. Während er auf sie zuging sagt er kalt: „Ich kann dir sagen warum ich dir geholfen habe. In die Nähe meines Schosses verirren sich nur selten Menschen. Da kamst du mir gerade recht. Man muss die Gunst der Stunde nutzen. Frisches Blut von gesunden jungen Menschen ist um einiges besser als Tierblut und...“ „Dann hast du also Benno umgebracht! Du hast mich durch den Wald verfolgt!“, unterbrach sie ihn. „Es war ein Versehen! Ich dachte es ist einer dieser dämlichen Köter aus der Stadt, die sich immer mal wieder hier her verirren. Dass er zu dir gehört hat, habe ich erst bemerkt als du davon angefangen hast zu erzählen. Ich habe dich nicht verfolgt und dass ich dich gefunden habe war Zufall. Aber du hast recht: Ich habe das Blut deines Hundes getrunken und ihn so umgebracht.“ „Und was hattest du dann mit mir vor?!“, fuhr sie ihn völlig aufgebracht an. „Ich wollte dich als Blutquelle nutzen – vorerst zumindest“, meinte er ohne jede Gefühlsregung. Patricia fing zu grübeln an. Irgendetwas gab es noch dass sie mit Blut in Verbindung brachte. Schließlich fiel ihr es ein: „Dann war diese Nacht also doch kein Traum! Und meine Träume waren auch keine Träume. Es war alles Wirklichkeit!“ Wieder lachte Ares: „Mein Gott, seid ihr Menschen naiv! Selbst jetzt – nach mehr als dreihundert Jahren – glaubt ihr immer noch was man euch sagt!“ In ernsterem Tonfall sagte er: „Es war Wirklichkeit! Alles war real!“ Patricia war den Tränen sehr nahe als sie murmelte: „Und mit so einem Scheusal wie dir habe ich...“ „Das war Produkt deiner Phantasie!“, unterbrach er sie. „An dem Tag oder besser gesagt in dieser Nacht ist gar nichts passiert, außer, dass ich dir ein wenig Blut ausgesaugt habe. Alles was du zu wissen glaubst was danach geschehen ist, hast du geträumt.“ „Du hast mich schon so oft belogen... Ich glaube dir kein einziges Wort!“, schrie sie ihn an. Plötzlich war Ares wieder über ihr und fuhr sie an: „Dann sage ich dir jetzt mal was Sache ist: wenn sich ein Vampir auf eine Normalsterbliche einlässt zerfällt er innerhalb weniger Augenblicke zu Asche! Und du glaubst ja wohl hoffentlich nicht, dass ich so dumm bin und mir meinem Dasein selbst ein Ende setze, oder!?“ Das hatte gesessen. Patricia konnte das zwar nicht nachkontrollieren aber auf der anderen Seite hatte Ares auch keinen Grund sie anzulügen wenn sie den nächsten Morgen sowieso nicht mehr erleben würde. Er ging zum Spiegel und redete mit dem Rücken zu ihr weiter: „Dass du den Spiegelsaal und mein Blutlager entdeckt hast ist nicht meine Schuld. Ich habe dir ja sogar noch den Zettel geschrieben auf dem stand du sollst nicht das Stockwerk verlassen. Dass du hier bist hast du allein deiner Neugierde zu verdanken.“ „Und der Wein? Was ist mit dem?“ Langsam drehte er sich zu ihr um und sagte: „Der Wein war nie Wein. Es war stets Blut. Und wenn ich Alkohol trinken will, dann hole ich mir einen Betrunkenen. Ich hoffe das beantwortet deine Frage.“ „Was wirst du jetzt mir machen?“, fragte sie ihn zögernd. Im Grunde genommen wollte sie es eigentlich gar nicht hören. „Ich werde dein Fleisch essen und dein Blut trinken solange du noch lebst.“ Langsam wurde sie hysterisch. „Mei....mein....Fleisch? Wenn ich noch l-e-b-e?“ „Wenn du noch lebst“, schloss Ares. „Totes Fleisch würde meinen Untergang bedeuten. Und ich lasse mir die Gelegenheit endlich mal wieder etwas richtig zu essen bestimmt nicht entgehen. Ständig nur Tierblut und abgestandenes Menschenblut zu trinken schwächt mich auf Dauer. Meine Rasse kann sich nur von noch dem noch lebenden Fleisch eines Menschen ernähren und stärken“, antwortete er. Dass es so schlimm um sie stand hätte Patricia nicht einmal ansatzweise vermutet. Sie fing zu heulen an und schrie und flehte ihn zugleich völlig außer sich an: „Warum hast du mich nicht verrecken lassen?! Ich will nicht sterben! Lass mich bitte gehen!“ „Das kann ich leider nicht.“ „Leider? Willst du jetzt damit sagen es tut dir Leid, dass du mich ganz langsam umbringen wirst?!“ „Ich hätte dich gehen lassen, auch nachdem du den Spiegelsaal betreten hast, indem die Seelen meiner Opfer gefangen sind. Aber in dem Moment als du das Zimmer mit dem Kamin und meinen Tagebüchern betreten hast, hast du deinen Tod heraufbeschworen. Das oberste Vampirgesetz befiehlt jedem Vampir die Menschen zu töten, die sein Heiligtum betreten. Und du hast mein Heiligtum betreten und sogar in den Büchern gelesen! Du kennst mein Geheimnis! Würde ich das Gesetz nicht befolgen würdest nicht nur du sondern auch ich sterben. Mit bleibt also keine andere Wahl.“ „Ich hasse dich! Ich will kein Vampir werden. Ich will nicht so werden wie du, du Scheusal!“, schrie sie ihn an. „Du wirst kein Vampir, keine Sorge. Man wird nur zum Vampir wenn man seinen Mörder auch hasst und das aus tiefstem Herzen. Du brauchst einen ungeheuren Willen um dir das Leben wiederzuholen das man dir gestohlen hat um deinen Peiniger zur Rechenschaft zu ziehen. Doch das kannst du nur wenn du mich hasst. Aber da du mich liebst wird dir dieses Schicksal verwehrt bleiben.“ „Glaubst du eigentlich selber was du mir da erzählst? Hättest du mich nicht sofort umbringen können?“, fragte sie ihn voller Hohn. Sie wusste, dass er recht hatte und doch fragte sie ihn. „Ja das glaube ich! Gib dir keine Mühe zu verbergen was du für mich empfindest obwohl du etwas anderes behauptest. Ich weiß, dass es wahr ist. Immerhin habe ich dich dazu gebracht dich in mich zu verlieben. Und dass ich richtig liege hast du mir ja bereits in dieser einen Nacht bewiesen. Du kannst also gar keine Untote werden. Wenn ich dich sofort umgebracht hätte, hätte ich nur einen weiteren Vampir erschaffen, und das wollte ich um keinen Preis.“ Langsam kam er wieder auf sie zu und blieb dann neben Patricia stehen. Ihr Herz schlug immer schneller und schmerzhafter. Sie wusste sie würde jetzt jeden Moment sterben. Gegen ihr Schicksal, das sie sich selbst zuzuschreiben hatte, konnte sie sich nicht wehren. Sie dachte an gar nichts und starrte nur die Decke über sich an. Ares zog ihr mit einem einzigen festen Ruck das Stück Stoff aus, das sie die ganze Zeit über angehabt hatte. Flüchtig sah sie an sich herab. Patricia brach in Tränen aus und fing an zu weinen. Es war der Anfang vom Ende. Sie war unfähig noch irgendetwas zu sagen. Sie konnte einfach nicht mehr.
Wie unter starken Schmerzen zuckte sie zusammen als Ares seine linke Hand auf ihren Bauch legte und sie noch einmal ansah. „Ich verspreche dir, dass es schnell gehen wird“, versuchte er sie zu beruhigen. Sein Ton in dem er mit ihr sprach hatte sich verändert. Sie spürte, dass er es ernst meinte. Es waren seine letzten Worte an sie. Er schlug seine Zähne in ihr Fleisch. Für einen Moment hörte Patricia auf zu heulen. Ein grässlicher Schmerz explodierte in ihrer linken Seite. Der Schmerz schien sie auf eine seltsame Art zu lähmen. Ares grub seine scharfen Zähne immer tiefer in ihr weiches Fleisch und riss es aus ihrem Körper. Blut lief ihm an den Mundwinkeln herab. Ihr Blut! Er machte sich gar nicht einmal die Mühe das Fleisch zu kauen sondern schlang es einfach hinunter. Gierig wie ein ausgehungerter Wolf, der endlich wieder Beute geschlagen hatte. Immer und immer wieder grub er seine Zähne in ihr Fleisch. Jedesmal wenn Patricia ihn aufblicken sah hatte er mehr Blut im Gesicht. Aber was das schrecklichste für sie war, war dass sie alles bei vollem Bewusstsein erlebte. Bei jedem Biss spürte sie einen unerträglichen Schmerz. Als Ares das letzte Mal zuschlug war es am schlimmsten. Sie wollte sterben. Wollte, dass alles sofort ein Ende hat. Aber sie lebte. Tränen kullerten über ihre Wangen.
Nach dem letzten Bissen richtete sich Ares auf. Sein Gesicht, seine Hände, sein Hemd, alles an ihm war rot vor Blut. Lange sah er sie an. Dann wischte er sich mit dem Ärmel seines Hemdes das Blut aus dem Gesicht. Er löste ihre unsichtbaren Fesseln und nahm ihre Hand. Patricia drehte ihren Kopf um ihm nicht länger in die Augen sehen zu müssen, ergriff aber seine Hand und hielt sie fest. Sie spürte wie das Blut langsam aus ihrem Leib floss. Sie spürte wie das Leben ihren Körper verließ – spürte wie sie starb. Mit jeder Sekunde die verging wurde sie schwächer. Ihr frisches Blut hatte eine große Lache auf dem Stein gebildet und floss jetzt an ihm herab, dem Boden entgegen. Doch von all dem bekam sie nichts mit – wollte es nicht mitbekommen. Schließlich verließ sie der letzte Blutstropfen. Ihre Hand glitt aus der Ares´- sie war gestorben.
Lange Zeit hatte er ihren toten Körper noch angesehen. Schließlich kam er herum und schloss ihr die Augen, die leer in den Raum starrten. Er streckte seine Hand nach ihr aus und riss ihr mit einem kurzen Ruck die Kette vom Hals. Das Schmuckstück mit dem Kreuz als Anhänger barg er fest in seiner Hand. Mit weit ausgreifenden Schritten ging er auf die Tür zu. Ares hatte die Hand schon gegen den Türflügel gepresst als er sich noch ein allerletztes Mal umdrehte. Abwechselnd sah er das Kreuz in seiner Hand und den toten Körper der jungen Frau an. Dunkelrotes Blut rann über seine Wangen und tropfte auf den Kragen seines weißen Hemdes. Lautlos verließ Ares die kleine Kapelle. Dort, hinter dieser Tür auf einem schwarzen Altar war Patricia gestorben – auf seinem Altar, dem Altar des Nosferatu.