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Der AlpTraumpatient
Wir operieren hier in einem wirtschaftlich schwierigen Umfeld. Professionalität bedeutet für uns, gezielt Schwerpunkte zu setzen. Zum Beispiel, was die Abrechnung von Leistungen bei Privatpatienten betrifft.
Leiter Controlling und Finanzen, Unfallklinikum xyz
Wilhelm Worst war ein gewissenhafter und obrigkeitsfürchtiger Mensch. Rechnet man den latenten Sadismus mit, der seinem Wesen zu eigen war, so hätte er einen trefflichen KZ-Aufseher abgegeben. Alleine die Ungnade einer späten Geburt hinderte ihn an einer derartigen Karriere, denn er war der einzige Sohn zweier engagierter 68er. An ihnen rächte er sich für all ihre wertorientierten, antiautoritären und sonstigen Erziehungsversuche durch seine Berufswahl, die ihn zum aktiven Teil des Systems werden ließ: Kommunalbeamter im mittleren Dienst.
Sieht man von den potentiellen Talenten unseres Helden ab, so war er ein ganz netter Kerl. Möchte man sein Privatleben charakterisieren, so sind zwei Leidenschaften zu nennen, die in seiner Brust brannten: Schöne Frauen und schnelle Autos. Was erstere betraf, so können Willys Versuche, den vakanten, schweinsledneren Beifahrersitz seines Lotus Esprit zu befüllen, nur als vernichtend erfolglos bezeichnet werden. Allerdings hatte eine wohlmeinende Vorsehung ihn eines Tages dieses Problems enthoben: Sein geliebtes, frühlingsgelbes Statussymbol hatte in der Blüte seiner 202 PS einen Brückenpfeiler touchiert und Willy aufgrund eines marginalen Fahrfehlers aus dem Traum des freien Bürgers auf den Standstreifen der A3 hinauskatapultiert. Das böse Erwachen erfolgte auf der Station 41 des nächstgelegenen Unfallklinikums:
"Wo... wo bin ich?"
"Willkommen in der Vorhölle. Tu, der du hier eingeliefert wirst, alle Hoffnung ab."
Willy versuchte den Kopf dorthin zu drehen, wo die Stimme hergekommen war, irgendwo von rechts. Hinter den restlichen Schleiern der Narkose wurde ein Krankenhausbett sichtbar und in ihm ein männliches Wesen, das mit einem vergipsten Körperteil herüberwinkte.
"Darf ich mich vorstellen? Ich bin Klaus. Trümmerbruch Schien- und Wadenbein, eine ordinäre Fraktur des Oberschenkels, ein paar kaputte Rippen, der Rest ist Kleinkram, wie das zersplitterte Handgelenk und dieser Arm hier. Ach ja, eine Niere mussten sie mir noch entfernen."
"Ächz", antwortete Willy und gab den Versuch auf, nähere Details zu erkennen.
"Na denn mal Kopf hoch, Kamerad. Bei dir scheint ja zumindest das meiste dran geblieben zu sein. Du solltest mal manche von den Kassenpatienten ein Stockwerk tiefer sehen..."
Mit dieser schlagartigen Veränderung seiner wahrgenommenen Umgebung nicht wirklich einverstanden, zog es Willy vor, erst einmal wieder wegzudämmern. Der erreichte Zustand ließ ihn zwar den Redeschwall von rechts nicht mehr wahrnehmen, aber erlöste ihn nur für begrenzte Dauer von der Unerträglichkeit seines Seins.
"Aua! Das tut weh! Können Sie sich denn nicht vorstellen, was für Schmerzen ich habe?"
"Können Sie sich vorstellen, was wir an teuren Schmerzmitteln in Sie hineingepumpt haben? Und nur weil Sie ein Mann sind und deshalb weniger aushalten, ist das noch kein Grund hier herumzujammern."
"Ich verbitte mir dieses... autsch... ich bin Privatpatient!"
"Meinen Sie, deshalb bekomme ich mehr auf mein Girokonto? Da sind Sie auf dem Holzweg, Kleiner. Wir sind hier ein nach wirtschaftlichen Maßstäben geführtes Gesundheitsunternehmen."
Willy sank resignierend zurück auf die Kissen. Erst nachdem die Pflegekraft den Raum verlassen hatte und garantiert außer Hörweite war, kam die verbale Unterstützung vom rechten Flügel:
"Vergiss es einfach, Willy. Das war die grobe Gerlinde. Da hat unsereiner einfach keine Chance gegen..."
"Hast du eine Ahnung, wie die mich zugerichtet hat?"
"Und ob. Ich liege hier schon ein paar Wochen länger als du."
"Kann man denn da nichts machen? Der Rechtsweg? Amnesty International? Patientenaufstand? Allianz der Misshandelten?"
"Vergiss es einfach. Wart' erst mal ab, bis sie dich in die 'Therapie' stecken."
Klaus sollte Recht behalten, kannte er doch mittlerweile das Umfeld und die typischen Vorgehensweisen der herrschenden Klasse. Wenige Tage später hatte Willy sein erstes "Treffen" mit Frau Dipl.-Psych. Hornberger:
"Herr Worst, sie haben sich also bereit erklärt, an unserem Modellprojekt 'Mentales Gesundheitstraining für traumatisierte Unfallpatienten' teilzunehmen."
"Nun ja, also Schwester Gerlinde hat mich..."
"Ausgezeichnet. Die Basisarbeit der jungen Kollegin hat uns schon so manchen schönen Therapieerfolg beschert."
"Wenn die wüsste!", dachte sich Willy.
"Na dann wollen wir zunächst einmal an unserem Sitzungsziel arbeiten", fuhr Frau Hornberger fort, ungeachtet des Blickes, der eher dem Leiden Christi als dem eines willigen Jüngers entsprach.
Als Wilhelm Worst eineinhalb Stunden später in das Zweibettzimmer zurückgeschoben wurde, war er nicht mehr der Selbe. Doch sein runderneuertes Lebensgefühl lag weder an dem Kilo Chirurgenstahl, das vor einer Woche kunstvoll in diverse Knochenpartien eingearbeitet worden war, noch an den Schmerz- und Beruhigungsmitteln die seinen Blutkreislauf bereicherten. Nein, es war Frau Hornbergers professionelles Vorgehen, das seine Wirkung zeigte, hatte sie doch die Saat eines erweiterten Gesundheitsbewusstseins in seine Seele gepflanzt. Es ging nun darum, ein anderer Mensch zu werden. Der erste, der dies zu spüren bekommen sollte, war Willys Zimmergenosse:
"Sag mal Klaus, was machst du hier eigentlich?"
"Wie bitte?"
"Na du liegst hier wochenlang 'rum, auf Kosten der beitragszahlenden Allgemeinheit."
"Aber Willy, Sieh mich mal an! Was soll ich denn sonst..."
"Papperlapapp. Ich sage nur 780 Euro pro Tag. Und dann die ganzen High-Tech-Teile, die sie dir eingebaut haben. Hast du eine Vorstellung, was das alles kostet?"
"Nun, also..."
"Mit dem Geld könnte man viel sinnvollere Dinge anstellen: Flächendeckende Vorsorgeuntersuchungen gegen Gebärmutterhalskrebs. Schutzimpfungen gegen Kinderlähmung für alle Pflegeheimpatienten in Nordrhein-Westfalen. Gehirntransplantationen für..."
"Also ich habe mir das hier nicht herausgesucht", unterbrach ihm Klaus.
"Alles Banane. Du hast überhaupt kein Kostenbewusstsein. Hier einfach eingeflogen kommen mit ein paar zertrümmerten Knochen und einen auf Pflegefall machen. Sieh mich an dagegen. Ich arbeite an meiner Persönlichkeit."
Klaus verkniff es sich zu erwidern, dass er von einem angetrunkenen Bierausfahrer überfahren worden sei, hätte er doch damit die Lawine einer Grundsatzdiskussion losgetreten. Wenn er etwas in den letzten Wochen gelernt hatte, dann war es im rechten Moment zu schweigen.
Doch, was Klaus zu hören bekam, war erst der Anfang. In den folgenden Sitzungen blühte Wilhelm Worst auf, wie ein pubertierendes Furunkel. In ihm reifte der Entschluss, den Restwert seines Sportwagens für krebskranke Kinder zu spenden. Aus Sicherheitsgründen wollte er kein neues Auto mehr erwerben, sich nur noch zu Fuß oder per Bahn fortbewegen. In den Wintermonaten -so nahm er sich vor- wollte er vorsichtshalber das Haus nicht mehr verlassen. Hinzu kam jede Menge konstruktiver Ideen zum Thema gesunde Ernährung und eigenfinanzierte Vorsorge. Da er auch seinen Zimmergenossen Klaus mit allen diesen Vorhaben beglückte, kam es schließlich zum unvermeidlichen Konfliktgespräch:
"Also Willy, ich halte diese ständige Propaganda nicht mehr aus. Ich werde dich verlassen."
"Aber Klaus, du kannst doch noch gar nicht laufen."
"Ich habe einen Deal mit Schwester Gerlinde ausgehandelt. Sie schaffen mich runter zu den Kassenpatienten, kassieren aber weiterhin den vollen Preis. Wenn ich ihnen schriftlich gebe, niemandem davon zu erzählen, bekomme ich weiterhin meine Schmerzmittel."
"Wir könnten gemeinsam Gymnastik machen, Gewichte heben, boxen, durch den Garten joggen. Wenn du erst mal in unseren Gesprächskreis mitgegangen bist..."
"Tut mir Leid, Willy. Mit Schwester Gerlinde musst du nun alleine klar kommen. Ich sage nur: Nun gibt es keine Zeugen mehr"
"Aber Klaus..."
Doch Klaus meinte es ernst, am Morgen des folgenden Tages wurde er abgeholt. Willy fiel in ein schwarzes Loch steriler Leere. Auch das rätselhafterweise über Nacht erblühte Zartgefühl von Schwester Gerlinde konnte die Lücke nicht füllen. Dass unser Held nun der Teil eines Businessplans geworden war und sich nahtlos in gleichförmig dahinmarschierendes Räderwerk eingefügt hatte, konnte er nicht ahnen.
So war es denn auch ein Moment ungetrübter Freude für ihn, als sich am nächsten Morgen die Tür öffnete und ein neues Bett hereingeschoben wurde. "Herr Worst, wir bringen Ihnen einen neuen Zimmerkollegen vorbei", flötete Schwester Gerlinde. "Sein Name ist Herr Freiberger. Ein schwieriger Fall. Aber wir werden das schon wieder hinbekommen, da bin ich ganz zuversichtlich. Etwas Zuspruch von Ihrer Seite könnte ihm nicht schaden..."
Als er zwei Stunden später zu seiner rechten unter den Verbänden ein leises Stöhnen zu vernehmen konnte, war für Willy die Zeit seines großen Auftritts gekommen:
"Willkommen Kamerad! Darf ich mich vorstellen? Willy Worst ist mein Name. Beckenbruch, ein paar Rippenfrakturen, eine perforierte Lunge und noch etwas zusätzlicher Kleinkram. Aber das ist alles halb so wild. Ich bin mir sicher, dass ich in einer Woche in der Küche mithelfen kann, oder unten im Keller. Ach ja, noch was: Du hast echtes Glück, hier gelandet zu sein. Eine Spitzenklinik, motiviertes Personal, prima Atmosphäre. Und tolle psychologische Zusatzprogramme gibt es hier..."
Von rechts konnte unser Held nur ein kurzes Stöhnen vernehmen. Sein neuer Bettnachbar hatte wieder das Bewusstsein verloren.