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Der Allgemeinexperte

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30.05.2012
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Der Allgemeinexperte

Die Runde, die darüber entscheiden sollte, wie mit dem Allgemeinexperten zu verfahren sei, traf sich im Hinterzimmer von Barista Simone Acceta. Der Maestro selbst hatte in tiefer Sorge dazu eingeladen, hatte sich nicht mehr anders zu helfen gewusst. Das hier war der letzte Versuch. Alle Anwesenden hatten im Rahmen ihrer Möglichkeiten das Äußerste getan. Nun war das letzte Mittel eine gemeinsame Anstrengung. Simone Acceta war sich sicher: Sie alle würden mitmachen.
„Ich mache da nicht mit!“ Der Endokrinologe Wümmer lockerte seine gestreifte Krawatte, die dessen Schrei zur Hälfte erstickt hatte. „Ich bin Arzt. Ich weiß, was alles passieren kann. Herr Gott, er stürzt von einem Felsen, bricht sich das Becken und verblutet, weil keiner da ist, der ihm hilft.“
Eine Faust schlug auf den Tisch.
„Und dann wandern wir alle in den Bau! Alle!“ Der pensionierte Staatsanwalt warf dem Doktor die Worte hinterher wie ein leeres Ölfass, das eine Treppe hinunterpoltert. „Sagt nicht, ich hätte euch nicht gewarnt!“
Der Kreis von Espresso trinkenden Experten antwortete auf diese Ungereimtheiten mit abwägenden Lautäußerungen. „Hmm“, „Na ja“, „Nun gut“, „Also“, „Ja ja“, „Da müsste man“, „Es wäre natürlich möglich, dass“, woben sich zu einem dichten Teppich aus fachsimpelndem Gemurmel. Es war schließlich der Mann, der sich als Timbrologe vorgestellt hatte, was eine veraltete Bezeichnung für Philatelist, also für Briefmarkensammler war, der Doktor Wümmer und dem Staatsanwalt direkt widersprach:
„Nun macht euch mal nicht ins Hemd. Für euch Ärzte und Juristen steht man ständig mit einem Bein im Grab und mit dem anderen im Gefängnis. Das macht uns zu etwas Geringerem als Hunde, Katzen und Kühe, die bekanntlich vier Beine haben. Ich ertrage es nicht länger, mich von euch studierten Besserwissern in die zweite Reihe der Evolution verklassifizieren zu lassen. Versteht ihr, ich bin höchst zivilisiert! Versucht mal meinem Kunden Ali zu erzählen, er sei weniger wert als ein Schwein. Ali sammelt Marken mit Motiven flämischer Maler, aber er ist auch Kickboxer. Versteht ihr, was ich euch sagen will?“
Im Raum hoben sich nun alle Köpfe fragend in Richtung des tätowierten, aber zivilisierten Briefmarkenhändlers. Keiner verstand.
„Was ich sagen will ist: Ich bin nicht zu feige das hier durchzuzuziehen. Sollte einer von euch es sein, kann ich demjenigen gerne noch etwas Kaffee nachschenken, damit er den Mut findet, jetzt aufzustehen und dahin zu gehen, wo der Pfeffer wächst. Ansonsten ist die Aktion hiermit beschlossen!“
Keiner rührte sich. Es war entschieden. Die Exfrau des Allgemeinexperten schenkte dem Timbrologen ein dankbares Lächeln.

Es gibt auf der Welt deutlich mehr unbewohnte Inseln als bewohnte. Trotzdem hatte es sich als eine, nur mit Mühe zu bewältigende, Aufgabe herausgestellt, eine geeignete für den Allgemeinexperten zu finden. Die Runde im Hinterzimmer von Barista Simone Acceta hatte über Wochen hinweg regelmäßig getagt, um das Projekt voran zu treiben. Es wurden Karten ausgebreitet, Diavorträge gehalten, Checklisten erstellt und abgehakt. Flugtickets wurden gebucht, Großeinkäufe getätigt, ein Schafhirte bestochen und ein Satellitentelefon erworben. Während alledem war es mit dem Allgemeinexperten schlimmer und schlimmer geworden. Es war längst an der Zeit zu handeln, das war für alle Beteiligten offenkundig. Und doch zogen sich die Vorbereitungen zusehends in die Länge. Oft reichten Diskussionen und Abstimmungen bis tief in die Nacht hinein, Wortgefechte entbrannten und wurden geschlichtet, Termine wurden verschoben und aufgehoben. Man hätte meinen können, dieser gemächliche Fortschritt sei Ausdruck von Ineffizienz, Motivationslosigkeit, Müßiggang. Wer aber genau hinsah, erkannte einen anderen Grund: Die Experten fühlten sich, bei allen Streitigkeiten, wohl in ihrer Runde. Das gemeinsame Problem hatte sie an einen Tisch gebracht – Frauen und Männer, die sich zuvor nur flüchtig gekannt hatten, waren jetzt zu einer Gemeinschaft herangereift. Die verrückte Idee kittete ihre Midlifecrisis. Kindliche Freude mischte erwachsene Ernsthaftigkeit auf.

Für den Allgemeinexperten war Sonntag der sorgloseste Tag in der Woche. Er hatte ein Faltblatt in der Tasche des zerschlissenen Jacketts, das tabellarisch alle Gottesdienste in Stadt und Umgebung listete. Eigentlich brauchte er es nicht. Er hatte die Daten längst im Kopf. Aber es beruhigte ihn es aufzuschlagen und zu sehen, dass es ihm heute an nichts fehlen würde. Der Allgemeinexperte hatte festgestellt, dass vor allem die Predigten der älteren Pfarrer für ihn geeignet waren. In schneller Folge hintereinander weg zitierte Bibelstellen, lange Listen von Heiligen und immer wieder lateinische Einschübe – das war es was er wollte. Die jüngeren Gottesmänner schienen von derlei nicht viel zu verstehen oder sie hielten bewusst damit hinter dem Berg. Es war nicht leicht, die Könner im Meer der Stümper zu finden. Der Allgemeinexperte hatte gerade eine Messe in einem Vorort der Stadt verlassen. Er war dort wie immer der einzige Kirchgänger unter dreißig gewesen. Man kannte ihn längst, richtete freundliche Worte an ihn. Er galt in den Gemeinden als besonders fromm. Wann hatte man schließlich das letzte Mal von einem gehört, der den ganzen Sonntag von einem Gottesdienst zum nächsten zog? Das ist wahre Demut, sagten die Leute. Dem Allgemeinexperten war es recht so. Es sollte besser keiner erfahren, dass er an Gott genauso wenig glaubte, wie an Demut oder irgendetwas sonst. Er klemmte seine abgegriffene Ledertasche auf den Gepäckträger und schwang sich auf das rostige Fahrrad. Sonne schien. Das war angenehm. Im Fahren, auf dem Radweg Richtung Stadt, löste er die linke Hand vom Lenker und besah sie mit prüfendem Blick. Sie zitterte bereits. Noch vor einer Weile hätte er die zweistündige Fahrt in ein kleines Dorf auf der anderen Seite des Flusses auf sich genommen, um dort eine ausgezeichnete Predigt, beinah ausschließlich aus dem Alten Testament, zu hören. Doch inzwischen schaffte er den weiten Weg nicht mehr. Als Notlösung hatte er eine Kirche in seine Route aufgenommen, in der einer jener unsäglich verständlich sprechenden Priester predigte. Dieser Mann hatte es sich öffentlich zum Credo gemacht, so zu sprechen, dass auch die Kinder ihn verstanden. Der einzige Grund, warum der Allgemeinexperte das ertragen konnte, war, dass der Pfarrer über eine erlesene Mimik und Gestik verfügte. Seine Bewegungen gingen Schwanger mit Heiligkeit und Anmut. Er wusste seine gesamte Gemeinde, nur mit den ausgestreckten Fingern seiner Hände, in Bann zu halten. Und diese Fingerfertigkeit gipfelte jedes Mal in der beinah zauberhaften Erteilung des Altarssakraments. Er war ein Könner. Der Allgemeinexperte lehnte sein Fahrrad an eine Laterne. Er hatte sich beeilen müssen, um pünktlich zu kommen. Der Sonntag war ihm leichter von der Hand gegangen, als er noch ein Auto besessen hatte. So schnell würde er nicht wieder an eins kommen. Die Kirche war ein Bau aus den Siebzigern. Auf dem Fußboden lag Teppich. Es gab nicht die üblichen Holzbänke, sondern durch Metallbügel verbundene Stühle, die sich zur Seite räumen und stapeln ließen. Den Allgemeinexperten ärgerte diese Form von universeller Nutzbarkeit einer Räumlichkeit. Eine Kirche sollte ein spezialisiertes Gebäude sein. Er setzte sich in die letzte Reihe, trat mit dem einen Fuß auf den anderen, damit dieser weniger zitterte. Die Hände verbarg er in den Taschen. Früher hatten sich noch häufiger Leute neben ihn gesetzt, hatten kurze Gespräche mit ihm begonnen. Er hatte sich gerne mit der exzentrischen Wollverkäuferin unterhalten, die mit dem gleichen Tempo, in dem sie stricken konnte, von tunesischer Häkelarbeit, Lochstrickmustern, Maschenanschlagreihen und Noppenrhomben sprach. Aber mit dem zunehmenden Verfall seiner Körperhygiene, war es auch damit vorbei gewesen. Er richtete den Blick stur geradeaus, versuchte sich zusammenzureißen bis der Gottesdienst begann. Dann passierte es. Der Pfarrer trat ans Pult, begrüßte seine Gemeinde und verlautbarte, dass heute, an seiner statt, Kaplan Julius Wettach die Sonntagsmesse halten werde. Es sei für den jungen Kollegen der erste Gottesdienst und er habe sich bei der Vorbereitung größte Mühe gegeben. Entsprechend groß sei die Freude, nun daran teilnehmen zu dürfen. Der Allgemeinexperte war geschockt. Er machte einen gurgelnden Laut, als sei ihm etwas die Kehle hochgekommen. Ein Kaplan – das war ein Vikar, ein Kooperator, ein Adjunkt, ein Supernumerarius! Ein Mann der keine Ahnung hatte. Gerade erst aus dem Priesterseminar. Er versuchte sich zu beruhigen, indem er die Luft anhielt. Da kam er schon, der Kaplan: Unsicheren Schrittes trat er ans Mikrofon, das erste Wort das er heraus brachte war „Ähm“. Der Allgemeinexperte wollte aufstehen und flüchten, aber seine Beine gehorchten nicht: die eingeknickten, tonuslosen Stengel einer vertrocknenden Pflanze. Es gab keine Rettung. Als der Kaplan durch eine ungeschickte Drehung mit seinem Gewand einen Kerzenleuchter vom Altar stürzte, kippte der Allgemeinexperte vom Stuhl in den Gang und warf in einem beeindruckenden Krampfanfall seine Extremitäten von sich – die Augen fest geschlossen, bis der Notarzt kam.

„Wir kennen uns ja schon Herr Schueler, nicht wahr?“. Die Stimme des Notarztes war sanft, aber barg die Ernüchterung des Helfers vor dem nicht zu helfenden.
„Sie sind Doktor Hendrik Thomas“, sagte der Allgemeinexperte benommen, „Sie haben über den Einfluss einer präoperativen Xenoninhalation zur Vermeidung von operationsassoziierten kognitiven Defiziten bei Mäusen promoviert. Gibt es neue Entwicklungen auf diesem Gebiet?“
Der Notarzt schenkte ihm ein trauriges Lächeln. „Ich erzähle Ihnen alles dazu auf der Fahrt. Machen wir erst einmal das übliche Programm. Einmal den Mund öffnen, bitte. Der Kollege misst Ihnen den Blutdruck…“

Der Allgemeinexperte wurde, nun schon das fünfte Mal in diesem Monat, in die Notaufnahme eingeliefert. Während er der Anweisung der Schwester folgte, und von der Rettungswagentrage in ein Bett hinüberrückte, hörte er im Hintergrund, wie der Notarzt sein Leiden auf eine übersichtliche Übergabe zusammenstauchte.
„Das ist der Herr Schueler, vierunddreißig Jahre alt, derzeit obdachlos, vorbekannte rezidivierende Krampfanfälle. Mit hoher Wahrscheinlichkeit psychogen bedingt. Heute erneute Episode. Krampfte noch bei unserem Eintreffen, keine typischen Kloni oder Toni, Augen fest geschlossen, kein Nachschlaf, kein Zungenbiss. Der Anfall sistierte, sobald ich ihn ansprach. Keine weiteren Vorerkrankungen, keine Allergien, derzeit keine Medikamente. Er ist oben auf der P-Drei schon bekannt. Meist bleibt er aber gar nicht erst so lange. Tut mir einen Gefallen und seid nett zu ihm.“
Das Bett wurde nach kurzem Hin und Her auf den Gang gerollt, weil das Zimmer für einen anderen Patienten benötigt wurde. Man stellte ihn direkt neben den Ausgang. Dem Allgemeinexperten war es recht so. Nachdem die Ärzte gegangen waren, kam ein Student zu ihm und murmelte etwas von einer Blutabnahme. Er legte ihm ein Stauband um, löste es dann aber wieder, weil er das Desinfektionsmittel im Arztzimmer habe stehen lassen. Der Allgemeinexperte begann wieder zu zittern. Als der Student zurückkam, entschied dieser, dass er ihm kein Blut abnehmen könne. Es sei zu schwierig, wenn er so zittere. Daraufhin zitterte der Allgemeinexperte noch mehr. Der Student fragte mit kiksiger Stimme, ob er irgendwelche Drogen nehme und wie oft er Alkohol trinke. Etwas in der Art fragten oder dachten alle, die dem Allgemeinexperten in dieser Verfassung begegneten. Als der Student unsicher sein Stethoskop aus der Kitteltasche nahm und dabei mit dem Ohrbügel in der Knopfleiste hängen blieb, sprang der Allgemeinexperte auf und floh.

Barista Simone Acceta fand seinen Freund in einem Markengeschäft für Outdoorbekleidung. Ein Cafébesitzer von Gegenüber hatte ihn hinein gehen sehen und Bescheid gesagt. Der Allgemeinexperte saß zitternd auf einem Kunstfelsen, auf dem man Wanderschuhe hätte testen sollen. Zwei Verkäuferinnen standen hilflos um ihn herum.
„Ich glaube Sie brauchen Hilfe“, sagte die eine, „ich rufe einen Krankenwagen.“
„Nein, nein wirklich“, sagte der Allgemeinexperte den Tränen nah, „ich weiß, ich mache den Eindruck. Es ist ein chronisches Leiden. Am besten helfen Sie mir aber in diesem Moment, wenn Sie mir noch einmal im Detail den Unterschied zwischen active pore plus System und economic water proof technology erläutern!“
„Ich weiß wirklich nicht, ob ich…“, sagte die Verkäuferin, worauf der Allgemeinexperte aufsprang und nun hemmungslos schluchzend schrie:
„Wie viel Millimeter Wassersäule hält die X Two Jacket Women aus und hat sie einen besseren Wasserdampf-Durchgangswert als die X One? Sagen Sie es mir, bitte!“
Simone Acceta drängte die Verkäuferinnen sanft zur Seite und nahm die Hand des Allgemeinexperten.
„Anton, ich bin es Simone. Ich kümmere mich um dich. Komm mit mir, ich erzähle dir von der Espressosorte aus Chicago, die ich probeweise importiert habe. Neunzehn Gramm pro Tasse, in einundzwanzig bis dreiundzwanzig Sekunden gepresst bei dreiundneunzig Grad. Zwischen achtzehn und zwanzig Prozent Extraktion. Schmeckt herrlich nach Walnuss, Honig und Bitterschokolade.“

Die zwei Tage bis der Flug ging, teilten sie sich in Schichten auf. Der Allgemeinexperte wurde im Schrebergartenhäusschen der Klavierstimmerin untergebracht. Er lag dort geschwächt auf einer Matratze. Daneben ein Schaukelstuhl, in dem sie nacheinander Platz nahmen und mit ihm redeten.
„Warum tun wir das?“, hatte Doktor Wümmer gefragt, „wir wollen ihn ja gerade davon los bekommen, oder?“
„Richtig“, hatte der Briefmarkenhändler entgegnet, „aber nicht hier. Wir müssen ihn bis Übermorgen über Wasser halten, sonst ist er futsch.“
Sie erzählten dem Allgemeinexperten aus den tiefsten Tiefen ihrer Fachgebiete. Der Konditormeister philosophierte über den Bittermandelanteil von Marzipan, beschrieb die Geschmacksunterschiede zum günstigeren Persipan, der außer Mandelkernen auch Aprikosen- und Pfirsichsteine enthalte und gab einen Exkurs über die entfernt verwandte spanische Mandelsüßigkeit Turrón aus der Stadt Xixona. Die theoretische Physikerin sprach drei Stunden lang ununterbrochen und stringent von Elementarteilchen: von D-Null-Mesonen, Eichbosonen, Strange Quarks und Xi-Minus-Teilchen, die zu den Hyperonen und damit zu den Baryonen gehören. Der Fotograf erzählte alles, was ihm zu Fotografie in den Sinn kam, ohne irgendeine Ordnung einzuhalten. Er sagte, dass Spiegelreflexkameras ein deutlich größeres Auflagemaß als Messsucherkameras besäßen und dies insbesondere für Mittelformat-Spiegelreflexkameras gelte. Er sagte, dass der Eberhard-Effekt die Erhöhung der Kantenschwärzung an Grenzen von stark und schwach belichteten Bildpartien beschreibe. Er sagte, dass man eine gleichzeitige Verkippung von horizontaler und vertikaler Schärfeebene auch als doppelten Scheimpflug bezeichne, was Bezug nehme auf die Scheimpflug-Bedingung. Und dann sagte er, dass low-key-Fotografie ihn mehr reize als das zu kommerzielle high-key-Pendant. Unter all dieser Fürsorge blieb der Allgemeinexperte einigermaßen stabil. Er aß sogar die Mahlzeiten, von denen er nicht wusste, dass seine Exfrau sie zubereitete.

Als es soweit war, erklärten sie dem Allgemeinexperten nicht, was sie mit ihm vorhatten. Der Staatsanwalt und der Barista hakten ihn unter und ließen sich von einem Taxi zum Flughafen bringen. Darüber hatte es Streit gegeben. Eine Minderheit in der Gruppe hatte auf die ethische Dimension hingewiesen. Er sei ein Mensch wie jeder andere und habe ein Selbstbestimmungsrecht. Man dürfe den Allgemeinexperten nicht mir nichts dir nichts entmündigen. Aber jeder, der ihn nun sah, musste zugeben, dass derzeit wenig von einem eigen verantwortlichen Wesen an ihm zu finden war. Er funktionierte bloß noch wie eine Maschine, ein Junkie, konnte keinen klaren Gedanken mehr äußern, brauchte Stoff in immer kürzeren Abständen.

Die Reise war eine Tortur. Selbst für den redseligen Staatsanwalt kam irgendwann der Punkt, an dem er lieber schlafen wollte, als frei aus Gesetzestexten zu zitieren. Sie nahmen den Flieger, dann den Zug, dann ein Taxi und standen schließlich an einem kleinen Fischereihafen, in den wie vorgesehen die Yacht des Staatsanwalts transferiert worden war. Simone Acceta hatte die Vermutung, dass die Nutzung seines Bootes der eigentliche Grund war, warum dieser schließlich in den Plan eingewilligt hatte. Es stellte ihn in besonderer Art und Weise in den Mittelpunkt der Aktion. Sie übernachteten in einer Hafenpension. Alle drei in einem Zimmer. Der Staatsanwalt stand vor den anderen beiden auf, machte einen Ausflug mit dem Boot, um letzte Vorbereitungen zu treffen. Gegen Nachmittag kam er zurück und diesmal gingen der Barista und der Allgemeinexperte mit an Bord. Es nieselte aus grauen Märzwolken, als sie schaukelnd das Hafenbecken verließen.

Die Insel lag knappe zehn Kilometer vor der Küste. Schlammige Strände, Felsen, die mit niedrigem Buschwerk bewachsen waren. Es war kein ansehnliches Fleckchen Erde. Kein Robinson Crusoe Paradies. Ein morscher Steg diente als notdürftige Anlegestelle. Der sandige Weg, der sich von dorthin über die Felsen zog, war dort, wo er nicht von Disteln überwuchert war, durch kleinere Felsbrocken verlegt. Der Barista und der Staatsanwalt hatten sich Sorgen gemacht, ob der Allgemeinexperte überhaupt mit ihnen von Bord gehen würde. Sie hatten sich bereits die ein oder andere Strategie zurecht gelegt, um ihn zu locken, hatten sogar darüber nachgedacht, ihn im schlechtesten Falle tragen zu müssen. Aber nichts davon war nötig. Solange sie nicht aufhörten von Gesetzen und Kaffeesorten zu sprechen, war er wie Butter in ihren Händen, folgte ihnen wie ein Gänslein der Mutter. Die Insel maß nur etwa drei Kilometer in der Breite und vier in der Länge. Man konnte sie mit geeignetem Schuhwerk durchaus in unter einer Stunde von Wasser zu Wasser abschreiten. Trotzdem dauerte es eine gefühlte Ewigkeit, bis sie mit dem Allgemeinexperten das gedrungene, mit Schindeln gedeckte Cottage erreichten, das auf einem Hügel über einer Weide thronte. Verkrüppelte Apfelbäume standen zu beiden Seiten. Früher hatten hier das ganze Jahr über Leute gewohnt, jetzt kam nur ab und zu im Sommer ein Schafhirte auf die Insel.

Im Cottage war es kalt. Simone Acceta holte Feuerholz von einem Stapel an der Südseite des Hauses – Vorräte, die wohl lange nicht angetastet worden waren. Der erste Versuch, das Feuer in Gang zu bringen, misslang, endete mit tränenden Augen und dichtem weißen Rauch in der Hütte. Der Kamin zog schlecht.
„Herr Gott, ich kenne mich mit so etwas nicht aus“, schimpfte der Barista.
Der Allgemeinexperte begann zu zittern, obwohl sie ihm eine dicke Wolldecke umgelegt hatten.
„Mehr Hitze“, sagte der Staatsanwalt, „mehr Hitze und mehr Luft!“
Er riss Fenster und Türen auf, sodass der Nieselregen, vom Wind getragen, bis in den Wohnraum drang.
„Geh in die Vorratskammer und hol mir die Grillanzünder, Simone!“
Simone Acceta bewegte sich nicht.
„Herr Gott, wir haben Grillanzünder? Warum pfimpen wir hier dann mit Streichhölzern und Zeitungspapier herum? Verdammter Dilettantismus!“
„Wir sind auf einer beschissenen einsamen Insel, da ist man sparsam mit so etwas!“, sagte der Staatsanwalt.
„Ja klar, einsame Insel!“, der Barista warf die Arme in die Luft, „siehst du hier irgendwo auch nur eine einzige verdammte Kokuspalme?“
Die lange Reise mit dem Allgemeinexperten hatte an ihren Nerven gezehrt.

„Hör zu“, flüsterte der Staatsanwalt, als das Feuer doch endlich brannte und sie dem Allgemeinexperten ein Lager aus zwei alten zusammen geschobenen Sesseln bereitet hatten, „ich weiß wirklich nicht, ob wir ihn hier allein lassen können. Ich meine, in der Theorie macht es alles so viel Sinn, aber jetzt wo wir hier sind, verstehst du – er sieht so hilflos aus.“
Der Barista musterte den Allgemeinexperten in der anderen Ecke des Zimmers. Sie hatten wohl fünfzehn Minuten nicht mit ihm gesprochen, keine Paragraphen und Röstungstechniken erörtert. Schweiß rann seine Stirn hinab, er zitterte immer heftiger, murmelte wie im Delir: „Peter, bitte, erzähl noch einmal von der Gesetzgebung zur Meeresverschmutzung“, oder „Simone, haha, wie war das noch mit Latteschaum und Cappucinoschaum?“
„Hilflosigkeit ist genau sein Problem“, flüsterte der Barista schließlich zurück, „es wird erst besser werden, wenn er gezwungen ist, sich selbst zu helfen.“
Der Staatsanwalt zuckte mit den Schultern.
„Er kommt mir vor, als würde er sterben, wenn wir ihn einfach so dalassen.“
„Unsinn! Du hilfst ihm nicht, wenn du nicht loslassen kannst. Alexandra hat es uns erklärt. Er hat kein körperliches Leiden. Seine Anfälle sind harmlos. Er spielt sie nur – unbewusst, aber er spielt sie nur. Ein Streich seines Gehirns. Es wird überhaupt nichts passieren, wenn wir ihn allein lassen – außer, dass es aufhört. Er ist schlau, bei allem was mit ihm ist, ist er sehr schlau. Wir kommen in zwei Tagen zurück.“

Sie gaben dem Allgemeinexperten, wie sie es besprochen hatten, das Satellitentelefon. Am anderen Ende war Doktor Wümmer, der ihn mit endokrinologischen Regelkreisen, Prozessierungen von Hormonvorstufen und funktionellen Rezeptordefekten einlullte, bis der Staatsanwalt und der Barista zurück auf der Yacht waren. Dann sagte er für einen Moment nichts mehr, wartete auf eine Äußerung des Allgemeinexperten.
„Red weiter Felix, bitte!“, schickte dieser schwach durch die Leitung.
Doktor Wümmer räusperte sich.
„Anton, weißt du wo du bist?“
Keine Antwort.
„Hör zu Anton, ich kann sofort auflegen, wenn du meine Frage nicht beantwortest.“
Der Allgemeinexperte röchelte in den Hörer.
„Auf einer Insel. Ich bin auf einer Insel.“
„Und weißt du auch warum du auf dieser Insel bist?“
„Ihr wollt mich leiden sehen.“
„Wir wollen was? Nein, hör zu. Wir sind deine Freunde.“
„Ich weiß, ich bin euch sehr dankbar, wirklich.“
„Ja, danke. Also nein, noch ist ja... Du bist auf der Insel, weil dort nur du bist, verstehst du das?“
„Nein.“
„Es gibt hier keine Menschenseele außer dir. Simone und Peter sind zurück auf dem Boot, sie sind längst weg.“
„Nein!“
„Ja! Verstehst du. Du musst lernen wieder für dich selbst zu sorgen, wie früher. Es gibt genug Vorräte für den Anfang. Wasser, Brennholz – es ist alles da. Du kannst sogar…“
Doch die letzten Worte gingen in einem herzzerreißenden Schrei des Allgemeinexperten unter.

Nach dem Anruf wälzte sich der Allgemeinexperte schweißgebadet auf dem Boden des Cottage. Das Zittern breitete sich von den Händen und Füßen, über Arme und Beine, auf seinen Leib aus. Er begann sogar mit dem Kopf zu zittern. Jeden Moment würde ihm schwarz vor Augen werden und sich die Spannung in seinen Gliedern in unkontrollierbaren Zuckungen entladen. Dieses Gefühl hielt an, begleitete ihn für Stunden. Mehrmals musste er sich übergeben. Sein Bauch tat weh, seine Gelenke schmerzten pochend. Blanke Panik hatte ihn fest im Griff, trieb sein Herz an wie ein wahnsinnig gewordener Kutscher. Er fühlte, dass es gleich aufgeben und stillstehen würde. So endet es also, dachte er, rezitierte damit eine Floskel, die er aus Schundromanen kannte. Er blinzelte noch einmal und schlief dann vor Erschöpfung ein.

Als er erwachte, war ihm kalt. Das Feuer im Kamin war bis auf die Glut herunter gebrannt. Ein Fenster war noch immer offen und ließ feuchten Wind hinein. Der Pullover war ihm hoch, die Hose herunter gerutscht. Und trotzdem zitterte er nicht mehr. Erst als dem Allgemeinexperten bewusst wurde, dass er fast völlig ruhig dalag, regten sich seine Finger wieder ein Bisschen, tippten auf den Boden, als wolle er eine Nachricht telegrafieren. Er blieb liegen, fast noch einmal eine ganze Stunde, tippte auf den Boden, unschlüssig, was er tun sollte. Dann nahm er das Satellitentelefon und wählte die Nummer, die mit transparentem Paketband darauf geklebt war.
„Anton?“, meldete sich die Klavierstimmerin.
„Melissa?“
„Ja! Wie geht es dir?“
„Ich…“
Er beendete das Gespräch, legte das Telefon für einen Moment zur Seite und dachte nach. Nach einer Minute wählte er erneut.
„Melissa? Entschuldige – die Verbindung.“
„Ja, ja, Hallo Anton. Schön, dass du wieder redest. Wie geht es dir?“
„Besser. Wirklich viel besser, danke“, sagte der Allgemeinexperte im Plauderton, „Ich habe hier nur ein Problem. Ich versuche mir die Zeit zu vertreiben mit der Gitarre, die ihr mir dagelassen habt.“
„Du hast da eine Gitarre?“
„Ja, ihr habt sie mir dagelassen.“
„Ja, ok. Eine Gitarre. Das ist gut. Ein schönes Instrument. Sehr gut zum Entspannen.“
„Das finde ich auch, Melissa. Es gibt sogar ein Notenheft. Best of the Doors. Ich würde das gerne spielen.“
„Ja, wunderbar, eine gute Idee.“
„Aber das ist die Sache, Melissa. Ich kann keine Noten lesen. Verstehst du? Du musst es mir beibringen, bitte.“
„Oh, ach so. Weißt du Anton, das ist nicht so einfach. Ich bin keine gute Lehrerin, nicht sehr didaktisch veranlagt. Und übers Telefon? Wo soll ich da anfangen?“
„Fang einfach ganz von vorne an, bitte Melissa. Ich habe ja Zeit.“
„Hmm. Von vorne. Na gut. Also wenn du … Wenn du es ganz systematisch haben willst. Eine Note ist zunächst einmal nur ein grafisches Zeichen, ok? Es dient der schriftlichen Aufzeichnung von Tönen in einem Liniensystem - oder Schlägen, denn es gibt zum Beispiel auch reine Rhythmusnoten. Noten bestehen im Allgemeinen aus den Bestandteilen Fähnchen, Notenstil oder -hals und Notenkopf. Der Notenstil steht nicht immer in die gleiche Richtung. Der Normalfall ist eine Ausrichtung nach rechts oben, aber ab der dritten Linie dreht man ihn nach links unten. Es dient der besseren Lesbarkeit. Du darfst dich nicht irritieren lassen, das ändert prinzipiell nichts an dem Ton, ok? Anton? Hilft dir das überhaupt, ich meine vielleicht solltest du besser direkt ein paar einfache Akkorde probieren. Hol doch mal deine Gittare.“
„Nein, nein, wirklich Melissa. Du machst das großartig. Bitte, ich möchte das wirklich von Grund auf verstehen. Du bist eine tolle Lehrerin. Red bitte weiter.“
„Gut also. Na gut. Vielleicht nur die Grundzüge. Das heißt, was sind schon die Grundzüge. Na ja. Also die Schlüssel. Noten auf Linien sind nichts ohne einen Notenschlüssel. Der legt fest, welche Linie welchem Ton entspricht. Es gibt den Violinschlüssel, oder G-Schlüssel, auf Englisch treble clef. Er wird benutzt für Frauenstimmen, Violinen, hohe Blasinstrumente, für die rechte Hand beim Klavier und natürlich für alle Diskantgamben. Es gibt aber auch tiefe Blasinstrumente, die diesen Schlüssel transponierend benutzen. Ein Tenorhornist liest und greift im Prinzip genauso wie ein Flügelhornist in Bb, damit man leichter zwischen den Instrumenten wechseln kann, ok? Es klingt dann aber nicht eine Sekunde tiefer, sondern eine None, verstehst du? Es gibt als weitere geläufige Schlüssel den Altschlüssel, den Tenorschlüssel und den Bassschlüssel. Aber natürlich sind das nicht alle Notenschlüssel. Es gibt auch Sonderfälle wie etwa oktavierende Schlüssel, oder die Schlüssel für die diatonische Handharmonika. Sie hat als wechseltöniges Instrument eine spezielle Notation. Ich weiß aber nicht, ob das fürs erste für dich relevant ist. Anton?“
Der Allgemeinexperte stöhnte lustvoll.
„Anton, verdammt Anton. Ich weiß jetzt, was du hier machst. Sie haben es mir gesagt. Genau das soll ich nicht machen. Verdammt, du hast gar keine Gitarre, oder? Anton, ich leg jetzt auf. Versuch das nicht noch einmal.“
Dem Allgemeinexperten war es egal. Er war high. Und es fühlte sich an, wie am ersten Tag.

Als der Staatsanwalt und der Barista nach zwei Tagen zurückkamen, versuchte der Allgemeinexperte das Boot zu entführen. Er versteckte sich hinter einem Felsen in der Nähe des Stegs und wartete bis sie an Land gegangen waren. Simone Acceta kam in dem Moment zurückgerannt, als er gerade den Ersatzschlüssel der Yacht im Verbandskasten gefunden hatte. Er packte sich den Allgemeinexperten und stutzte ihn zurecht. Der Staatsanwalt kam wenig später völlig außer Atem dazu und sagte noch einmal das Gleiche. Wir wollen dir helfen. Du musst das in den Griff bekommen. Sei kein Dummkopf. Hol dir dein Leben zurück.

„Aber gezittert hat er nicht mehr“, sagte der Staatsanwalt auf der Rückfahrt.
„Nein, kaum“, meinte der Barista.
„Trotzdem ist er nicht gesund.“
„Nein.“
„Es wird dauern“
„Ja.“
„Wann kommt der Briefmarkensammler?“
„Nächste Woche.“
„Ich verstehe, wenn du schon früher abreisen willst. Du hast ein Geschäft zu Hause.“
„Das läuft auch ganz gut ohne mich.“

Am dritten Tag begann der Allgemeinexperte Spaziergänge über die Insel zu machen. Das Wetter war noch immer grau, aber inzwischen trocken. Sie hatten ihm eine Daunenjacke in die Hütte gelegt. Die hielt warm. Körperlich ging es ihm besser. Er hatte eine Tüte Nussmischung in seine Hosentasche geleert und nahm nun alle paar Schritte eine geschälte Haselnuss oder eine Erdnuss oder einen Cashewkern heraus, wiegte das Betreffende in der Hand und zerkaute es dann sorgfältig. Cashewkerne stammten aus der Elefantenlaus genannten Frucht des Kaschubaums. Sie hing grün unter einem aufgedunsenen gelben Fruchtstil, der als Scheinfrucht einer Paprika ähnelte. Die gesamte Elefantenlaus musste in siedendem Fett oder mit heißem Wasserdampf behandelt werden, um das in der Schale enthaltene Cardolöl zu inaktivieren, das sonst bei Schleimhautkontakt zu schweren Verätzungen führen konnte. Erst dann konnte man die Cashewkerne freilegen. Wer hatte ihm das erzählt? Er hatte es sicher mehrmals hören müssen, sonst wäre es ihm nicht derart gut im Gedächtnis geblieben. Möglich, dass es eine Fernsehdokumentation gewesen war. Am Anfang hatten die ihm noch eine gewisse Befriedigung verschafft.

Der Allgemeinexperte erreichte das Wasser. Er kletterte auf einen Felsen und sah in die Ferne. Das Meer war eine blau grüne Armee, die im Sturmlauf auf seine Insel anrannte. Er sah jetzt nach außen hin gesund aus, dachte er – wenn auch unrasiert und ungeduscht. Aber das Verlangen hielt weiter an, wurde sogar noch stärker. Die Erinnerungen kamen zurück, jetzt wo sie nicht mehr von Körperlichkeiten betäubt wurden. Sie stiegen nach oben wie Kohlendioxidblasen in einem Glas Mineralwasser, zerplatzten mit Wucht an seinem Schädeldach, wenn er in Gummistiefeln an dem verlassenen Feld entlangschritt, drückten ihm von innen aufs Trommelfell, wenn er versuchte zu schlafen, wollten ihm aus den Nasenlöchern fahren, wenn er hinaus aufs Meer blickte.

Er war nicht immer so gewesen. Im Gegenteil. Das ungewöhnliche Kind eines alleinerziehenden Vaters. Mit siebzehn hatte er Abitur gemacht. Zwei Klassen übersprungen. Nichts als Einsen, auch in Sport, auch in Kunst. Er hatte eine hübsche Freundin, damals. War kein Einzelgänger, kein Streber. Alle Möglichkeiten offen, alle. Leistungssportler, Experimentalphysiker, Philosoph, Richter, Autor, Geologe, Historiker, Umweltaktivist, Politiker, Banker, Chirurg, Architekt, Designer, Programmierer, Dolmetscher, Chemiker, warum nicht Konzertpianist, Filmstar oder Jetpilot? Zu dieser Zeit hatte er sich nichts vorstellen können, das er nicht mit ein bisschen Anstrengung hätte lernen können.

Er fing gleichzeitig an Germanistik, Geschichte und Informatik zu studieren. Bekam ein Stipendium – man traute ihm das zu. Ein Jahr lang hielt er mit der gewohnten Exzellenz durch, bestand alle Prüfungen mit bestmöglichem Ergebnis. Dann orientierte er sich neu, ließ die Geisteswissenschaften zurück und gründete ein kleines Start-up neben dem Informatikstudium. Vielleicht wäre es ihm auf lange Sicht durch einen großen Konzern vergoldet worden, aber er verlor nach kurzer Zeit das Interesse.

Er war neunzehn Jahre alt, als er zum ersten Mal spürte, dass Potential nicht nur ein Segen, sondern auch eine Last sein konnte. Potential kam in Form von angestochenen Sandsäcken, die man mit sich schleppte, und in das richtige Gefäß füllen musste, bevor man allen Sand verloren, ihn als gleichmäßige Spur hinter sich verteilt hatte. Was würde in zehn Jahren, wenn er als fertig studierter, hochqualifizierter Experte auf dieser Erde wandelte, das entscheidende Thema für die Menschheit sein? Was musste er lernen, um sich seinen Platz an der Sonne zu verdienen, um einer zu werden, an den man sich erinnert? Niemand, auch nicht der Schlauste konnte heute noch ein Allgemeingelehrter werden. Das Wissen der Welt war zu groß dafür. Die Pfade der Forschung zu verzweigt. Ideen fluteten in seinem Kopf an wie von Gezeiten getrieben. Wenn eine kam, wollte er himmelhoch jauchzen, wenn eine ging, war er zu Tode betrübt. Als er schließlich wirklich mit dem Tod in Berührung kam – sein Vater – wanderte er aus.

Mit Fünfundzwanzig hatte er sein Informatikstudium abgeschlossen, gut bis zur Hälfte Biologie in Toronto studiert, ein paar Semester Wirtschaft und politikwissenschaftliche Kurse in Paris genommen. Er arbeitete an drei Büchern und mindestens an genauso vielen Forschungsgeldanträgen. Manchmal schien es ihm, als würde ihm alles auf einmal gelingen, dann wieder so, als falle alles in sich zusammen. Die Nerven verlor er bei all dem nicht. Er wurde nicht depressiv, nicht manisch, nicht einmal besonders launisch. Seine Freunde schätzten seinen Umgang, fragten ihn nach Rat bei beruflichen und privaten Fragen.

Mit sechsundzwanzig ging sein Leben allmählich trotzdem aus dem Leim. Es waren die Jüngeren die ihm zusetzten. Sie waren überall: In der Uni, in den Labors, auf den Rückseiten der Bücher, in den Fußballnationalmannschaften, in den Fachzeitschriften, auf den Kongressen und auf der Theaterbühne. Es gab kein Entrinnen. Sie traten seinen Ehrgeiz lächelnd mit Füßen.

Dann verstauchte er sich den Knöchel, hatte, nach einer schaflosen Nacht, die Treppenstufen nicht richtig getroffen. Seit Jahren ging er das erste Mal zu einem Arzt. Todmüde und ganz passiv saß er auf der Liege, während der Orthopäde fachkundig seinen Fuß untersuchte, auf Knochenpunkte drückte, Fragen stellte und Antworten mit prozessierendem Nicken bestätigte. Er verstand nicht, was genau der Orthopäde tat, nur dass er mit äußerster Versiertheit arbeitete. In dieser Situation machte bei ihm irgendetwas Klick. Eine Verbindung in seinem Gehirn, die vorher nur den Durchsatz einer verkehrsberuhigten Zone gehabt hatte, weitete sich schlagartig zur Autobahn. Oder um eine bessere Analogie zu geben: Zu einer Umgehungsstraße. Sein Verstand setzte für einen Moment aus, wurde einfach abgekoppelt. Keine Fragen oder Zweifel drangen mehr in sein Bewusstsein. Spiegelneurone feuerten ekstatisch. Es war wie eine Meditation. Er absorbierte die Expertise des Orthopäden als Sonnenlicht, das seine Haut wärmte, schmeckte das Gefühl angekommen zu sein in seiner eigenen Zukunft. Den restlichen Tag fühlte er sich gut, konnte besser arbeiten, denken, fühlen.

Zunächst wiederholte er die Erfahrung nicht bewusst. Aber sie ergab sich von alleine: Weil er ein Regal aufhängen wollte, demonstrierte ihm ein Verkäufer in einem Eisenwarenfachgeschäft Kunststoffspreizdübeln, Durchsteckmontagedübel, Polyethylendämmstoffdübel und Hinterschnittanker, redete von proportionaler Haftreibungskraft und innerem Klemmdruck. Eine kuriose Vorstellung, auf die er früher gelangweilt reagiert hätte. Aber irgendetwas war in ihm losgetreten. Schlafentzug spielte eine Rolle. Und ein gewisser Lernprozess. Neuarrangement von Synapsen.

„Wie hast du ihn kennen gelernt?“, fragte der Barista, als sie wieder mit der Yacht unterwegs zu ihm waren.
„Das war kurz nach meiner Pensionierung“, sagte der pensionierte Staatsanwalt, „ich saß auf einer Parkbank und machte mir Gedanken. Er kam einfach zu mir gelaufen und sagte er kenne mich. Ich kenne sie aber nicht, habe ich ihm gesagt. Er sagte, er bewundere meine Arbeit, fragte ob er mich auf einen Kaffee einladen dürfe. Das war sehr nett – irgendwie genau das, was ich damals in dieser Situation brauchte.“
Simone Acceta nickte: „Er war furchtbar nett und einfühlsam.“
„Ja! Wir redeten den ganzen Nachmittag. Das heißt ich redete. Er stellte kaum Fragen, nur wenn es nötig war, um das Gespräch am Laufen zu halten. Ich legte ihm schwierigste juristische Fragestellungen dar, mit denen ich mich in meiner Laufbahn beschäftigt hatte. So kompliziert, dass er sie unmöglich verstehen konnte. Trotzdem schien er niemals gelangweilt. Es war, als ob er alles in sich aufsog. Er war schon damals krank, oder?“
„Ja.“
„Aber man hat es ihm nicht angemerkt.“
„Nein.“
„Er wirkte so intelligent, so facettenreich.“
„Er ist intelligent und facettenreich.“
„Ja! Jedenfalls wurde er ein guter Freund. Trotz des Altersunterschieds. Er gab mir mein Selbstvertrauen zurück, hielt meinen Fähigkeiten den Spiegel vor. Ich begann wieder zu arbeiten, trat eine Stelle an der Universität an. Ich bin ihm bis heute sehr dankbar.“
„Hmm.“, machte der Barista.
„Was ist mit dir, Simone? Woher kennst du ihn?“
Der Barista seufzte.
„Ich war sein Rückfall. Das weiß ich jetzt im Nachhinein. Seit er Alexandra kannte, hatte er sich wieder gefangen. Hat dagegen angekämpft, einen Job angenommen. Ich glaube er arbeitete im Museum. Er saß den ganzen Tag im Anzug auf einem Stuhl im obersten Stock – nur ein ganz kleiner Ausstellungsraum, in den sich kaum je ein Besucher verirrte. Die Arbeit war entsprechend schlecht bezahlt. Aber er dürfte lesen. Das war sein Methadon, denke ich. Schlaue Bücher.“
„Das muss zu der Zeit gewesen sein, als ich in Peru war.“
„Gut möglich. Ich traf ihn jedenfalls bei einem Gebrauchthändler für Gastronomiebedarf. Er wollte glaube ich einen großen Herd für sich und Alexandra kaufen. Sie kochten gerne. Ich war dort, weil ich meine Espressomaschinen und Kaffeemühlen versetzen musste. Das war kurz nachdem ich mit meinem ersten Laden Pleite gegangen war. Der Rest war im Prinzip genau wie bei dir.“
Der Staatsanwalt nickte.
„Wann hast du das erste Mal gedacht, dass etwas mit ihm nicht stimmt?“
„Eigentlich schon das erste Mal, als er eine dieser Partys gab. Ich weiß nicht, ob du auch da warst. Es waren all diese seltsamen Leute dort. Ein Kuriositätenkabinett. Irgendjemand erzählte mir etwas über das Laichverhalten von Fröschen. Ich konnte nicht verstehen warum Anton so glücklich wirkte, obwohl nahezu alle Anwesenden, inklusive seiner Frau – insbesondere seine Frau – sich furchtbar unwohl zu fühlen schienen. Noch weniger wollte mir in den Kopf, dass er diese Veranstaltung unbedingt wiederholen wollte. Ich kam trotzdem. Ich dachte, ich sei es ihm schuldig.“
„Ja, so ging es mir auch.“

Diesmal versuchte der Allgemeinexperte nicht die Yacht zu kapern. Trotzdem nahmen sie zur Sicherheit den Ersatzschlüssel mit von Bord. Er saß geduldig auf einem Baumstamm vor der Hütte und kaute Nüsse, die er aus seiner Jackentasche zog. Als sie näher kamen, hob er die Hand zum Gruß.
„Wie geht es dir?“, fragte der Barista.
„Körperlich gut, seelisch schlecht“, sagte der Allgemeinexperte, „ich denke viel an Alexandra.“
„Sie denkt auch an dich.“
„Das ist schön.“
„Wir haben dir Stift und Papier mitgebracht“, sagte der Staatanwalt und drückte ihm den Block in die Hand, „vielleicht hilft es dir deine Gedanken zu ordnen.“
„Danke“, sagte der Allgemeinexperte.
„Wie lange willst du hier bleiben?“
„So lange wie nötig.“
„Brauchst du irgendetwas?“
„Nein. Nur Zeit.“

Zeit verging. Der Allgemeinexperte begann sich auf der Insel einzurichten. Langsam, nur mit halber Kraft. Er räumte die Felsbrocken, die den Gang vom Steg zu seiner Hütte erschwerten aus dem Weg, sofern er sie allein bewegen konnte. Er jätete Disteln. Zunächst mit bloßen Händen. Dann machte er sich aus einem Küchenmesser und einem Besenstil eine provisorische Sense. Abends setzte er sich im Schein einer Petroleumlampe an den roh gezimmerten Holztisch neben den Kamin, aß lauwarme Dosenravioli und schrieb, skizzierte und rechnete.

Als der Staatsanwalt, diesmal zusammen mit dem Briefmarkenhändler, zurückkehrte, bat ihn der Allgemeinexperte um eine Axt und eine Säge. Er wolle Holzfällen – das lenke ihn ab. Sie kamen seinem Wunsch nach.

Er fällte einen großen Stamm und einen kleinen, brauchte mehrere Tage, um sie mit der einfachen Handsäge in Form zu bringen. Seine Konstruktion kam ohne Nägel oder Schrauben aus, funktionierte durch bloßes zusammenstecken und sperren durch Holzsplinte. Ein durchdachtes Design. Das Seil hatte er ihnen aus dem Fundus der Yacht abgeschwatzt. Als Wäscheleine wolle er es benutzen, hatte er gesagt.
Bevor er daran ging alles aufzubauen, wartete er den nächsten Besuch ab und übergab ihnen einen Brief. Er sagte ihnen, es gehe ihm besser und sie fuhren wieder.

Dann grub er mit dem kleinen Klappspaten ein tiefes Loch direkt neben dem Steg, wo gerade noch das Boot gelegen hatte. Den langen Stamm versenkte er fast zwei Meter in der Erde, sodass er stabil stand. Dieser trug schon den Querbalken, was das Aufstellen mühsamer gemacht hatte, aber ohne Leiter hätte es keine Möglichkeit gegeben im Nachhinein noch heran zu kommen. Nun ragte er im rechten Winkel auf das Wasser. Das Seil hängte er mit Hilfe eines langen Astes auf.

Der Staatsanwalt war nach Hause zurückgekehrt. Er wollte, dass sie alle den Brief persönlich lasen. Es war nur ein einziges Blatt Papier. Und sie drängten sich im Hinterzimmer von Barista Simone Acceta darum, wie Tauben um eine Tränke. Zu aller oberst klebte die Bankkarte des Allgemeinexperten. Daneben war in sauberer Handschrift die Geheimnummer notiert. Der Text lautete wie folgt: Liebe Freunde, ich hoffe ihr könnt mir mit den folgenden Besorgungen behilflich sein: Zwei männliche und zwei weibliche Hasen plus Futter für die ersten Monate, ein Hahn und zwei Hennen plus Futter für die ersten Monate, ein Schaf (Futter vorhanden), Einmachgläser und Zucker (zur Verwertung der Apfelernte), einen Gewächshausbausatz, Samen für Kürbise, Tomaten, verschiedene Salatsorten, Gurken, Bohnen, Erbsen, Karotten, Mais und Kohl, Saatkartoffeln, zwei Zentner Kompost, ein großer Spaten, ein Unkrautstecher, eine Hacke, eine Pflanzkelle, eine große Plane (um Wasser aufzufangen). Macht euch keine Gedanken um etwaige Entladeprobleme auf der Insel. Ich habe einen Kran gebaut. Vielen Dank für alles. Euer Anton.


***

 
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Aus Sonstige

Max Ka schrieb unter die Geschichte:

Anmerkung:

Ich habe mich bei den vielen „Expertenäußerungen“ in dieser Geschichte eng an Wikipediaeinträgen zu den entsprechenden Themen orientiert. Ich danke allen Autoren, die an diesen Artikeln beteiligt waren. Eventuelle Ungenauigkeiten bleiben natürlich trotzdem in meiner Verantwortung.

Anmerkungen bitte gesondert anfügen, der erste Beitrag ist ausschließlich der Geschichte vorbehalten.

Hallo und herzlich willkommen auf kg.de, Max Ka!

Deinen Beitrag habe ich ins Korrektur-Center (KC) verschoben, weil doch eine ganze Reihe an Fehlern vorhanden ist. Viele sind sicher Flüchtigkeitsfehler, für die anderen findest du nützliche Infos in folgenden Threads:
Korrektur-Check-Liste
Allgemeiner Infothread

Ansonsten kannst du dich auch jederzeit gern an die Moderatoren des KC wenden.

Tipps: Achte auf Groß-/Kleinschreibung, auf Getrennt-/Zusammenschreibung und vor allem auf die Kommasetzung. Mit den Kommas warst du nämlich etwas zu sparsam. Vor zahlreichen Nebensätzen, vor allem vor Relativ- und Temporalsätzen, fehlen sie.

Viel Spaß noch auf kg.de!
Kerstin

 

Anmerkung:
Ich habe mich bei den vielen „Expertenäußerungen“ in dieser Geschichte eng an Wikipediaeinträgen zu den entsprechenden Themen orientiert. Ich danke allen Autoren, die an diesen Artikeln beteiligt waren. Eventuelle Ungenauigkeiten bleiben natürlich trotzdem in meiner Verantwortung.

 

Hallo Max Ka,

Mit Freuden sehe ich, daß Du Deine Geschichte sorgfältig und liebevoll überarbeitet hast.
Wir hoffen, daß Du den Aufenthalt im gemütlichsten Korrekturcenter der Welt genossen hast, Deine Geschichte wird zurückverschoben. Die paar allerletzten Kommafehler kann Dir die breite Leserschaft rauspicken. :gelb:

Gruß von
Makita

 

Hallo,

als Rückmeldung: Beim 3. Absatz bin ich ausgestiegen.
Der Beginn des 3. Absatzes ist eine Textwüste. Bis dahin ist mir keine einzige Figur näher gekommen, alle haben nur Bezeichnungen.
Ich dachte: Das Thema scheint interessant und der Autor scheint wirklich zu wissen, was er da beschreiben und wie er es aufbauen will. Das war das Plus.
Ich dachte aber auch: Der Autor kann nicht so schreiben, dass ich Freude am Lesen habe. Sondern das Lesen wurde mehr und mehr zu einer Pflicht, die ich nicht erfüllen will.

Versuch dir als Autor mal Gedanken über Stilistik zu machen, über Betonung und Kadenz, über Wort- und Satzklang, über Melodie und vor allem über die Dynamik eines Textes. Dann wirst du wahrscheinlich merken: Okay, wenn ich wen "der Allgemeinexeperte" nenne (6 Silben, 7 mit Artikel), dann hab ich ein ernstes Problem mit dem Rhythmus und wenn ich dann in Substantivketten schreibe, mit schwachen Verben und es zieht und zieht und zieht sich, dann hab ich ernste Probleme mit dem Text.

Es ist nicht so, dass das Lesen immer eine Freude sein müsste. Aber: Wenn es zur Qual wird, sollte man den Leser besser inhaltlich gefesselt haben.

Du solltest auf jeden Fall versuchen, persönlicher zu schreiben, versuchen, eine Anbindung des Lesers an den Text zu erreichen und ihn zu ködern.
Man kann als Autor nicht in der Hoffnung schreiben, der Leser werde schon dran bleiben, bis das spannende Zeug losgeht. Das kann man vielleicht machen, wenn man "Kredit" hat und der Leser einen kennt, aber auch dann ist es nicht sehr ratsam.

Also: Es kann sein, dass das hier ein guter Text ist. Es kann sein, dass er anderen sehr gut gefällt.
Ich bin in der Textwüste des 3. Absatzes verdurstet und werd es nie erfahren. Es ist deine Entscheidung, ob du sagst: Schade, ich habe einen Leser verloren, wie kann ich das vielleicht vermeiden? Oder ob du sagst: Hmmmm egal, kommen noch andere, ich schreib halt nicht für jeden.

Gruß
Quinn

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Quinn,
Danke für dein Feedback. Natürlich finde ich es schade, dass ich dich mit meiner Geschichte nicht fesseln konnte und werde mir versuchen deinen Rat zu Herzen zu nehmen - entweder bei einer Überarbeitung oder bei der nächsten Geschichte. Ich denke ich habe schon sprachlich schönere Texte als diesen geschrieben, solche mit mehr Lieblingssätzen. Diese Geschichte leidet vielleicht darunter, dass es eine Konzeptgeschichte ist. Ich hatte von Anfang an eine ziemlich klare Vorstellung davon, wie die Handlung verlaufen sollte und dass der Bogen, den sie spannt, für eine Kurzgeschichte relativ lang werden würde. Deshalb war ich beim Schreiben bemüht mit dem Text 'voran zu kommen' und mich nicht mit langen Beschreibungen von Personen und Orten aufzuhalten. Das ist anscheinend ein Stück weit nach hinten losgegangen, denn du findest als Leser keinen Haltepunkt, weder am Stil noch an den Charakteren und hast aufgehört zu lesen. Ist angekommen und ich ärgere mich natürlich, dass ich so keine Rückmeldung zu der eigentlichen Handlung bekomme.

Beste Grüße
Max

 

Hallo Max Ka,

und Willkommen!

Ich kann gut verstehen, dass Quinn ausgestiegen ist. Der Einstieg ist nicht gut gewählt. Er führt einen nur in die Irre und man weiß nicht, was man mit den Infos anfangen soll, die Du gibst, weil man sie nicht zuordnen kann. Also, bis dahin, dass er in der Kirche einen Anfall hatte, wusste ich nix mit dem Text und den Figuren anzufangen.
Umbauen, anfangen damit in der Kirche. Der Allgemeinexperte (er kann ruhig auch einen Namen bekommen, denn das Wort ist echt nicht schön in seiner Häufung) fährt die Kirchen mit guten Predigten ab, hat zwei, drei gute erwischt, fühlt sich gut und trifft nun auf den Anfänger. Krampft. Krankenhaus, alles gut, bis der Assistenzarzt kommt. Er flieht. Das gibt ein gutes Bild um das Leiden von ihm. Erst in der Kirchenszene ahnte ich, wohin die Geschichte mit mir will.
Zeitgleich treffen sich seine Freunde, und nenne sie bitte Freunde und führe sie nicht ein, wie eine Tagung der Mafia, die jemanden entsorgen wollen.

Das wäre ein prima Einstieg. Ich erlebe den Experten, kenne sein Problem und erfahre von dem Plan der Freunde.

Des weiteren - ausmisten. Den ganzen Text darauf abklopfen, was braucht der Leser an Informationen, um der Handlung folgen zu können. Hinhalter wie lange Expertenäußerungen sind unklug, weil die meisten Leser es ohnehin nicht verstehen. Ein paar Schlagwörter, dem Experten dabei schön auf den Körper schauen, denn darum geht es, um seinen Zustand dabei, nicht um die Erklärungen. Das machst Du ja eigentlich auch, aber eben straffer.
Also, Geschichte nicht länger, sondern ordentlich zusammenstauchen, damit sie Tempo aufnehmen kann. Manchmal ist sie wirklich unerträglich gestreckt und verliert sich in Nebensächlichkeiten. Solche Stellen habe ich nur überflogen, sie haben mich wenig interessiert und ich habe der Geschichte auch ganz ohne sie folgen können. Ich weiß, Du hast da viel Mühe und Arbeit reingesteckt, aber es dient der Geschichte nicht.

Zum Inhalt: Gute Figur! Finde ich arg spannend. Und das Intelligenz, die an Unterforderung leidet, eine ziemliche Last ist, ist bekannt und daher auch für den Leser nachvollziehbar, auch wenn Du das Problem ziemlich zuspitzt.
Auf der Insel geht es dann ja relativ schnell. Nach dem Versuch mit der Gitarre (diesen ganzen Notenkram habe ich überflogen) geht ja eigentlich alles ziemlich glatt und fix. Da denke ich, Du hast so viele Zeilen auf das davor gelegt, und doch relativ wenige auf die Heilung. Aber eigentlich ist das ja das Thema. Also hier stimmt für mich das Verhältnis nicht. Und wei Du vorher so viel wegkürzen könntest, wäre es schön, ein paar Zeilen dort dazuzufügen. Bleib bei ihm auf der Insel. Betrachte ihn nicht aus der Sicht der besuchende Freunde, sondern stelle lehne den Erzähler an seine Person. Wie er die Besuche empfindet. Nicht wie die Freunde es empfinden. Was er den Tag über tut, was geht in seinem Kopf vor.

Problem dabei, dass bei einem solchen Perspektivwechsel das Ende nicht funktionieren würde. Aber bitte, wer braucht den hier eine Pointe. Das fand ich schon enttäuschend, dass dieser Megatext auf eine Pointe hinausläuft. Idee, okay, aber lass ihn da doch sein Gerät bauen, wir denken es ist ein Galgen und am Ende freut er sich über seinen Kran. Wartet auf seine Hühner und Schafe und Salatsamen. Wartet, und schaut auf das Meer.
Und da frage ich mich, ob nicht auch die Umwelt mehr einbezogen werden sollte. Welche Rolle spielt es für ihn und seine Situation. Wie erlebt er die Stille, den Sonnenaufgang, die Brandung? Beruhigt es ihn oder wühlt es ihn auf? Kann man über sein Erleben vielleicht die Veränderung seines Zustandes schildern? Ich hätte es gemocht.

Ich würde es übrigens schön finden, wenn Du die Geschichte auch örtlich ansiedeln könntest. Schären in Schweden, Irland, italienische Namen - vielleicht doch Südeuropa, all das kam mir in den Sinn. Es ist unschön so mit den Gedanken über die Landkarte zu springen.

Fazit: Ich finde, hier steckt wirklich eine schöne Geschichte drin. Eine sehr spannende Figur. Charakter und Spannungsbogen sind da. Fehlt nur noch, sie auch entsprechend dem Leser zu präsentieren. Meine Meinung, mein Leseempfinden. Klarer, Zielorientierter. Näher an die Figuren ran.

Viel Freude Dir noch hier im Forum!
Beste Grüße Fliege

 

Hallo Fliege,
Vielen Dank für die wirklich ausführliche, konstruktive Kritik. Ich denke, das hilft mir sehr die Geschichte zu verbessern. Du hast gut deutlich gemacht, wie ich durch einen arg gestreckten Vorspann und zu viele langweilige Fachwortpassagen Zeilen verbrauche, die der eigentlichen Handlung gut getan hätten. Außerdem finde ich die Idee gut, den Erzähler dem Hauptcharakter auf den Rücken zu schnallen, anstatt ihn im Boot mit den Freunden zur Insel und zurück fahren zu lassen. Da ist wirklich noch viel mehr Potential die Figur dem Leser nahezubringen.

Besten Dank, ich versuche mich sobald ich kann an einer neuen Version
Max

 

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