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Der Alfons ist weg
"Ja, das gibt's doch nicht!", sagte der Heudobler Heini. Der Heini sagte das öfter. Meistens hier am Stammtisch beim Kirchenwirt. Denn beim Kirchenwirt im niederbayerischen Augsee, da hört man recht oft Sachen, wo man meint, die könnte es ja gar nicht geben. Wie heute, an diesem spätsommerlichen Samstag Abend.
"Wenn ich's doch sag'!", entrüstete sich der Willeger Willi und nahm nochmal einen kräftigen Schluck aus seinem Weißbierglas. Dann wiederholte er das Unglaubliche nochmal in langsamen Worten, damit auch der Heini merken würde, dass es wahr wäre, was er sagte.
"Die Hinterholzer Elfriede hat's mir grad' vorhin erzählt, dass heut' früh dem Postler-Manfred sein Postradl zusammeng'fahren hab'n! Auf'm Gehsteig haben sie's zusammeng'fahren!"
"Ja, und der Manfred? Ist dem was passiert?", fragte man etwas besorgt aus der Runde.
"Der war ja grad' nicht draufg'sessen auf'm Radl!", wusste der Willi.
"Wie er bei der Elfriede schnell einen Kaffee getrunken hat, der Manfred, da ist sein Radl draußen g'standen, so auf dem Gehweg halt, und wie er gleich drauf wieder rausgekommen ist, war's hin, das Radl!"
Die Hinterholzer Elfriede, die wohnte am Ortsende von Augsee, in der Siedlung, die gleich hinter dem Sportplatz lag. Und bei der Elfriede, da machte der Meier Manfred, der Postbote, meistens eine kleine Kaffeepause. Weil es zeitlich grade immer so passte. Und im Winter, wenn es ihm recht kalt war, dem Manfred, hat sie ihm hie und da auch mal ein Stamperl Bärwurz gegeben, die Elfriede.
"Die Briefe aus seiner Posttasche sind auf der ganzen Straß' rumgelegen. Und das Radl, das war so kaputt, dass er's nicht mal mehr hat schieben können", erzählte der Willi weiter.
Der Meier Manfred hatte später bei der Polizei gesagt, das müsste auf jeden Fall ein Auto gewesen sein. Aber weil der Manfred das ja nicht mit eigenen Augen gesehen hatte und auch kein anderer Zeuge zugegen war, der das hätte bestätigen können, da hatte der Polizist gemeint, es hätte ja vielleicht auch ein Rhinozeros gewesen sein können.
Der Samstagabend hatte sich gerade in einen Sonntag gewandelt, da wankte der Heini ein wenig belustigt den nächtlichen Gehsteig entlang und bog dann nach Hause in die Sportplatzsiedlung ein.
"Zefix! Schon wieder kein Licht!", schimpfte er leise in die Dunkelheit, als er die Einfahrt zu seinem Haus betrat und einen Moment darauf wartete, dass der Bewegungsmelder das Hoflicht anmache. Was er trotz Heinis wildem Hände-Fuchteln nicht tat. Weil das Gerät funktionierte meistens nur dann, wenn die Haustür schon offen stand. Der Heini wusste auch, dass das ein Unsinn war, denn schließlich sollte das plötzliche Licht ja auch lichtscheues Gesindel vertreiben - wenn sich vielleicht doch mal ein Dieb nach Augsee verirren würde. Deshalb hatte er schon oft versucht, das depperte Gerät anders einzustellen. Da es ihm aber bisher noch nicht gelungen war, es zur Vernunft zu bringen, stolperte er auch heute wieder über den Treppenansatz und schlug auch heute wieder mit dem Kopf gegen die Haustür.
Fluchend rappelte er sich auf und tastete seine Taschen nach dem Haustürschlüssel ab, bis ihm einfiel, dass er ihn gar nicht bei sich hatte. Die Waltraud hatte nämlich gemeint, es wäre besser, wenn er den Schlüssel zu Hause lassen und ihn irgendwo im Vorgarten gut verstecken würde. Weil er hatte ihn schon öfter verloren, wenn er gar zu lang beim Kirchenwirt gewesen war. Er dachte angestrengt nach, wo er ihn denn hingelegt haben könnte, aber die Gehirnzelle, die das einmal wusste, schien alkoholbedingt verstorben zu sein.
Er tastete sich in der Dunkelheit an der Hauswand entlang, in der Hoffnung, irgendwann die Terrasse zu erreichen. Womöglich wäre die Waltraud ja wie üblich vor dem Fernseher eingeschlafen, dann könnte er sie mittels sanftem Klopfen an der Terrassentür wecken und würde Einlass erhalten. Vielleicht. Andernfalls wäre da ja noch die Gartenhütte.
Und gerade, als er um das letzte Hauseck zur Terrasse schlich, da sah er sich in der nächtlichen Düsternis plötzlich einer unheimlichen Gestalt gegenüber! Keine fünf Meter vor ihm stand sie schemenhaft in der Dunkelheit und schien ihn anzublicken. Sie war ebenso erschrocken wie der Heini und flüchtete sogleich über den Rasen, derweil der Heini zurück ums Hauseck weglief und hinfiel.
Die Waltraud meinte schon vorhin, ein Rumpeln an der Haustür vernommen zu haben. Als es dann aber still blieb, schlief sie wieder ein. Jetzt jedoch schreckte sie vom Sofa auf! Das erschrockene Schreien vom Heini hatte sie endgültig aus dem Fernsehschlaf gerissen. Etwas verängstigt machte sie die Terrassenbeleuchtung an und blickte suchend durch die Scheibe nach draußen, konnte aber niemanden sehen und hörte auch nichts Verdächtiges mehr. Vorsichtig öffnete sie die Tür, trat langsam ein kleines Stück hinaus auf die Terrasse und sah sich um ... In diesem Moment bemerkte sie den Kopf vom Heini, der um die Ecke lugte. Auf allen Vieren krabbelte er, weiter um sich schauend, übers Pflaster zur Waltraud.
"Ja, glaubst es! Spinnst jetzt vollkommen?", schimpfte sie auf den Heini hinunter, die Hände auf der Brust, um das hüpfende Herz zurückzuhalten.
"Schnell, geh rein!", rief ihr der Heini zu, sprang auf, zog sie mit sich ins Wohnzimmer und verschloss hektisch die Tür.
"Ja sag einmal, was ist denn los? Reicht dir jetzt ein normaler Rausch nicht mehr? Musst dich jetzt schon in den Wahnsinn saufen, oder was?"
"Da draußen, da ist wer!", sagte der Heini verstört, während er weiter durch die Scheibe hinausschaute. Er machte das Terrassenlicht aus und blickte in die Dunkelheit, die düster von einem trüben Mondlicht durchzogen war.
"Wer ist denn da draußen? Herrschaft, jetzt mach' mir keine Angst!"
"Ein grausliger Kopf hat mich ang'schaut!"
"Geh, Depp! Geh' ins Bett!"
"Ist denn was passiert?", fragte sie melodiös in die kleine Gruppe hinein, die sich um den Streifenwagen versammelt hatte.
Die Hofmanns standen da, also der Hofmann Sepp und seine Fine und der Bene, einer der beiden Söhne. Dann waren da noch zwei Polizisten, von denen der eine gerade etwas aufschrieb.
"Der Alfons ist weg! Abg'hauen ist er!", meinte die Fine mit angespannter Mine zur Marianne, "Nix wie Ärger haben wir immer mit dem Burschen!"
"Ja, du liebe Zeit! Der Alfons ist weg? Ja warum ist er denn weg, der Alfons?"
"Na, weil er nicht mehr da ist!", sagte die Fine und schüttelte den Kopf ein wenig.
"Gestern hab'n wir schon den ganzen Tag lang g'sucht, haben ihn aber nicht g'funden."
"Ach, da schau her!", meinte die Marianne und verknüpfte im Stillen ihr neues Wissen mit der Weisheit, die einer gereiften, mitteilsamen Dorfbewohnerin nun mal innewohnt. Längst hätte sie ja gewusst, dass das mal ein Unglück geben würde, stur und jähzornig wie die beiden wären, der junge Fonsi und sein Vater, der Sepp.
So sah sie ab von einer weiteren Befragung der Fine, die sich ohnehin gerade schneuzte, und machte sich eilends wieder auf den Weg zur Kirche. Schließlich gab es dort stets dankbares Publikum für ihre neuesten Offenbarungen.
"Du sollst gleich einmal zum Sportplatz rüberkommen, hat der Heini g'sagt! Da ist was passiert", lief er mit schiefem Helm auf dem Kopf auf den ebenfalls aus der Kirche kommenden Zentinger Hermann zu.
Der Zentinger Hermann ist Polizist und wohnt in Augsee. Natürlich war der Hermann jetzt gerade nicht im Dienst, sonst hätte er ja seine Uniform angehabt. Aber ob Trachten-Janker oder Uniform, für die Augseeer ist nun mal ein Polizist immer ein Polizist. Da hilft kein Sonntag und auch kein Gottesdienst.
Die Trautmannsdorfer Marianne hat gleich gemerkt, dass ihre Aufmerksamkeit erforderlich wäre, als sie den aufgeregten Willi auf den Polizisten Zentinger einreden sah. Und obwohl sie gerade der Hinterholzer Elfriede vom verschwunden Alfons erzählen wollte, nahm sie sogleich die Verfolgung auf, als der Willi den Hermann auf den Sozius seines Mopeds nahm und etwas wackelig in Richtung Sportplatz losfuhr.
Zu dritt standen die Männer am Zaun, der die Sportanlage von der Hofmann'schen Weide trennte, als auch die Marianne den Sportplatz erreichte. Schon von weitem rief sie ihnen zu:
"Ist denn was passiert?"
Als sie etwas atemlos herankam, meinte der Heudobler Heini recht aufgeregt zu ihr:
"Den neuen Zaun habens mir zusammengetreten, gestern, die Sauhund', die elendiglichen!"
Der Heini war ehrenamtlicher Platzwart auf der Sportanlage des FC Augsee. Früher hatte er hier aktiv Fußball gespielt. Jetzt kickte er nur manchmal noch bei den Alten Herren mit. Weil mit über vierzig Jahren, da gehört man ja selbst in der Kreisklasse schon zum alten Eisen. Mittlerweile kümmerte sich der Heini daher ein wenig um die Anlage: Platz markieren, mal hier, mal da etwas reparieren und auch mal am Sportplatzkiosk ein paar Leberkässemmeln verkaufen. Oder eben einen Zaun bauen.
"Ja, so was! So eine Unverschämtheit aber auch! Zusammengetreten hab'ns ihn?"
"Wenn ich's dir doch sag'! Da schau her! Alles hin!", zog er die Marianne mit sich zum beklagenswerten Loch im Zaun.
"Ja du liebe Zeit! Der schöne, neue Zaun!", zeigte sich die Marianne mitfühlend, musste aber sogleich ihrer natürlichen Mitteilungsnotdurft nachgeben und ließ den Heini an ihrem neu erworbenen Wissen teilhaben:
"Du, stell dir vor, Heini, der Hofmann Alfons ist abg'hauen! Davong'laufen ist er!", erzählte sie, "Heut' Früh war die Polizei deswegen bei den Hofmanns."
Der Heini war ein wenig entsetzt.
"Um Gott's Willen! Ja, warum ist der Bub denn davong'laufen?"
"Ich weiß ja auch nicht, aber da hat's ja schon länger ein bisserl gekriselt. Weißt schon, wegen der Landwirtschaftsschule, auf die der Sepp den Alfons schicken hat wollen und so!", vermutete die Marianne etwas geheimnisvoll und achtete darauf, dass auch der Zentinger Hermann hörte, was sie zu sagen hatte.
"Und das mit seinem Sport, weißt eh, diese neumodischen Turnhallen, wo man große Muskeln kriegt, das war dem Sepp ja auch gar nicht recht!", wusste die Marianne.
"Mehr arbeiten sollt' er, hat er immer g'sagt, da würd' er auch Muskeln kriegen, ohne dass es was kost', hat er g'sagt, der Sepp", erklärte sie, während der Heini mit seinen Gedanken bereits in die vergangene Nacht zurückgekehrt war.
"Am End' hat gar der Alfons meinen Zaun eingetreten", dachte er laut und fragte sich im Stillen, ob die grauslige Fratze in der letzten Nacht vielleicht gar nicht so grauslig gewesen wäre. Womöglich wäre es ja nur der Hofmann Alfons gewesen. So in der Nacht, in der Trübnis von Mond und Bier hätte es vielleicht schon sein können, dass er den Alfons nicht erkannt hätte.
Der außerdienstliche Polizist Zentinger meinte aber jetzt, so wie der Zaun aussehe, müssten es eher mehrere gewesen sein. "Weil, so ein sechzehnjähriger Bursch', wie der Hofmann Fonsi, der hätt' ja das Gewicht gar nicht dazu!"
Und da setzte der Willeger Willi seine Gedanken ebenfalls in Gang:
"Du, das mit dem Postler-Radl, das war doch gleich da vorn!", meinte er und deutete zum Haus von der Hinterholzer Elfriede rüber.
"Meinst nicht, das Fahrradl und der Zaun könnten was miteinander zu tun haben?"
Zahlreiche Augseeer waren gekommen, um bei der Suche nach dem Alfons zu helfen, den man hier im Wald vermutete. Hektisch und durcheinander liefen sie hin und her: hinein in den Wald, heraus aus dem Wald, rüber über den Bach, zurück über den Bach. Und ein paar Hunde waren auch dabei, die ebenso ziellos umherliefen und einen rechten Spaß hatten.
Der Behringer Franz war Kommandant der Freiwilligen Feuerwehr Augsee und der musste nun den Einsatz leiten, obwohl er gerade etwas indisponiert war. Also nur eingeschränkt funktionstüchtig, könnte man sagen. Denn er war ja an jenem Sonntag Vormittag recht lange beim Frühschoppen gewesen, weil er für den Armlehner Bertl beim Kartenspielen einspringen hatte müssen. So stand er jetzt am roten Einsatzfahrzeug angelehnt da und gab seine Anweisungen an den Suchtrupp:
"Rudi! Du gehst jetzt da runter und suchst am Bach!", deutete er wacklig ungefähr in Richtung des kleinen Bachlaufes am Waldrand.
"Aber da ist ja eh der Heini mit dem Willi schon drunten!"
"Na, dann gehst halt da hinüber!"
"Wo hinüber?"
"Ja, da halt!", meinte der Franzl, vergaß aber zu deuten.
"Geh, Herrschaft! Lass mir doch meine Ruh'!", sagte der Rudi und ging woanders hin.
Der Hofmann Sepp, der war mit seinem Bulldog geradewegs über seine Weide zum Wald hinüber gefahren. Dort stand er jetzt ein paar Meter vor dem Feuerwehrauto, das den Franzl gerade stützte, und schaute sich besorgt um. Rechts von ihm ging's über ein kurzes Stück Wiese runter zum Bach, dem sich auf der anderen Seite der Auwald anschloss. Da drin musste er sich versteckt haben, der arme Alfons. Manche der Helfer suchten am Bachlauf entlang, andere gingen in den Wald hinein und immer mal wieder schallte es heraus:
"Alfons! Heee, Alfons. Aaalfooons!"
Auf der linken Seite vom Feldweg gings über eine Streuobst-Wiese rüber zum Trainingsplatz der Augseeer Fußballer. Der war nur durch ein paar Sträucher von der Obstwiese abgetrennt. Einen Zaun gab's ja nur auf der anderen Seite vom Platz, zur Hofmann'schen Weide hin. Also den Zaun, der jetzt gerade kaputt war.
"Du Walter, geh doch bitt'schön rüber zum Sportplatz. Wenn der Alfons da rüber davonlaufen würd', dann hältst ihn auf, gell?", meinte der Hofmann Sepp zum Wagner Walter.
"Ja, wennst meinst, dass ich das kann, dann geh' ich halt rüber. Aber weißt eh, laufen kann ich nicht gar so schnell."
Der Wagner Walter war ja damals, als er vor ein paar Jahren seinen Renteneintritt gefeiert hatte, die Stiege beim Kirchenwirt hinuntergefallen. Da hatte er sich dann die Kniescheibe zertrümmert. Und seitdem humpelte er ein wenig.
Etwas zögerlich ging der Walter die hundertfünfzig Meter rüber zum Fußballplatz. Dort angekommen, blickte er ein wenig nervös zurück zum Waldrand und überlegte, wie er wohl den kräftigen Alfons aufhalten könnte, wenn der wirklich hier über den Fußballplatz davonlaufen würde.
"Heee! Ich glaub' da ist er, der Alfons!", rief der Heudobler Heini laut aus dem Wald heraus, woraufhin der Rest des Suchtrupps sofort in Richtung des Rufes eilte.
In diesem Moment kam der Heini aus dem Wald gesaust, sprang über den Bach und hinterdrein rannte der Alfons, der recht wütend zu sein schien. Da blieben die heraneilenden Helfer stehen und schauten dem gejagten Heini hinterher. Wenn der Alfons wütend war, dann war die Tobsucht nicht weit. Und man mag es ja gar nicht glauben, wie unheilvoll dem Alfons seine Tobsucht vor sich hintoben kann.
Der Heini wusste das auch und flüchtete weiter über die Wiese in Richtung Fußballplatz, von wo aus der Walter ihm entsetzt entgegenblickte und unruhig ein wenig hin- und herhumpelte. Von der anderen Seite des Sportplatzes kam gerade der Pfarrer Wohlfahrt rücklings auf den Walter zu.
Der Pfarrer Wohlfahrt hatte nach seiner Sonntagsmesse vom vermissten Hofmann Alfons gehört und davon, dass man ihn gerade jetzt im Auwald suchen würde. Deshalb hatte er sich schnell auf den Weg gemacht, um nötigenfalls seelischen Beistand zu leisten. Denn der Pfarrer wusste ja auch um die allzu leichte Erregbarkeit vom Hofmann Alfons.
"Lauf woanders hin! Herrschaftszeiten, Depp!"
Der Pfarrer Wohlfahrt hatte sich bereits bis auf dreißig, vierzig Meter dem Walter von hinten genähert, als auch er des heransausenden Heinis gewahr wurde. Hinterdrein der zornige Alfons.
"Allmächtiger!", entfuhr es dem Pfarrer, der jetzt stehengeblieben war. Da drehte sich der Walter um und begann, vorbei am Pfarrer in die andere Richtung davonzulaufen.
"Grüß Gott, Herr Pfarrer!", rief er diesem noch zu, während er eilends an ihm vorbeihumpelte.
Der Pfarrer Wohlfahrt, der konnte ja recht schnell denken, deshalb entschied er sich unverzüglich, dem Walter zu folgen. Der hechelnde Heini aber, mit dem hinterher jagenden Alfons im Rücken, der schlug jetzt blitzartig einen Haken nach links und lief auf die Werkzeughütte am Rande des Sportplatzes zu, in der er sich sogleich verbarrikadierte.
Da blieb der Alfons kurz vor dem frisch markierten Mittelkreis des Fußballfeldes stehen und überlegte einen Moment, ob er den Heini noch weiter jagen möchte. Aber schon preschte das Feuerwehrauto von hinten über den Trainingsplatz aufs Spielfeld zu, so dass er sich entschied, den Heini in seiner abseitigen Schutzbehausung heimzusuchen.
Der Rosenhuber Rudi, der das Einsatzfahrzeug der Feuerwehr steuerte, wollte ihm noch den Weg abschneiden, kam jedoch auf dem Rasen des Fußballplatzes mächtig ins Schleudern. Und als er endlich zum Stehen gekommen war, da sprang der Franzl vom Beifahrersitz zur Tür hinaus und erbrach sich auf das Spielfeld.
Der Pfarrer Wohlfahrt und der Walter hatten sich währenddessen hinter dem Fußballtor verschanzt und fühlten sich von dessen Netz ausreichend geschützt, sodass sie jetzt die Szenerie schwer atmend überblickten.
Etwa in der Mitte des Fußballplatzes stand das Feuerwehrauto, daneben der von anhaltender Magenentleerung gepeinigte Franzl. Von hinten, also vom Auwald her, kam der Bauer Hofmann mit dem Traktor und wurde gerade vom Unterhuber Konrad in seinem offenen Geländewagen überholt. Und der Alfons rammte jetzt die Tür des Werkzeugschuppens auf, in dem sich der Heini verschanzt hatte.
Währenddessen füllte sich die Zuschauertribüne am Augseeer Fußballplatz. In freudiger Erwartung des heutigen Nachbarschaftsderbys FC Augsee gegen den Rivalen ASC Sonnberg fanden sich bereits Spieler und Gäste ein und waren recht überrascht von dem Treiben auf dem Fußballplatz. Weil rennende und sich übergebende Gestalten auf dem Fußballplatz, das wäre ja noch gegangen, so was gibt's ja öfter, aber rasende Feuerwehrautos, Traktoren und Geländewagen findet man auf so einem Spielfeld ja eher selten.
Die Trautmannsdorfer Marianne war auch gerade angekommen und hatte den Fischer Albert dabei, den Lokalredakteur vom örtlichen Tagblatt. Denn sie war sich sicher, dass es heute Berichtenswertes geben würde. Beide standen nun oben auf der Tribüne, wo sie einen recht guten Überblick über das merkwürdige Geschehen hatten.
"Ja du liebe Zeit, hier geht's ja zu wie im Krieg!", rief sie entsetzt, nachdem die Tür der Werkzeughütte mit lautem Knall zerborsten war. Und der Fischer Albert fotografierte im Serienmodus.
Die Feuerwehrleute, der Hofmann Sepp und der Unterhuber Konrad verließen ihre Fahrzeuge und eilten zur Werkzeughütte, um zu schauen, ob's sich's noch lohnen würde, dem darin befindlichen Heini beizustehen. Nur der Franzl nicht, der hielt sich wieder an der Autotür fest. Nachdem aber der Alfons jetzt von der zertrümmerten Tür abließ und sich zügig zurück aufs Spielfeld begab, änderten die mutigen Männer ihre Richtung ebenfalls wieder und liefen hurtig zu ihren Fahrzeugen zurück.
Nur der Hofmann Sepp versuchte noch kurz, mit wild gestikulierenden Armen auf seinen Alfons einzureden, dass er doch stehen bleiben solle, aber der wollte nicht zuhören und stehen bleiben wollte er auch nicht. So sprang der Sepp zur Seite und machte dem Alfons den Weg zum Feuerwehrauto frei, in dem jetzt ein rechtes Gedränge herrschte.
Der Pfarrer Wohlfahrt und der Walter standen immer noch hinter dem Tornetz.
"Oh mein Gott!", sagte der Pfarrer Wohlfahrt leise vor sich hin und musste sich sehr wundern.
"Ja, mich leckst am Arsch!", meinte der Walter darauf.
Mittlerweile näherte sich auch der Streifenwagen. Die Polizisten waren nämlich nicht über die Wiese gefahren, sondern durchs Dorf. Wegen Flurschaden und so. Und weil es in ganz Augsee fast überall nur mehr 30er-Zonen gab, da dauerte es eben etwas länger, bis sie am Ort des Geschehens ankamen. Mit Sirene und Blaulicht fuhren sie auf das Spielfeld. Langsam zwar, aber trotzdem war das jetzt ein wenig saudumm. Weil einen Lärm konnte der Alfons noch nie recht vertragen. Und blinkende Lichter auch nicht. Infolgedessen hörte der Alfons auf, das Feuerwehrfahrzeug mit seinen zahlreichen Insassen durchzuschütteln und wandte sich dem lärmend blinkenden Streifenwagen zu.
Mit durchdrehenden Rädern wollten sich die Polizisten samt Fahrzeug sogleich rückwärts wieder entfernen, aber der Alfons hatte da schon den Kühlergrill und einen Scheinwerfer zerdeppert.
Von der Tribüne kam Applaus.
"Das ist ja kein Fußballplatz mehr! Ein Acker ist das!"
Aber der Albert hatte jetzt keine Zeit mehr, sich noch länger um den Fußballplatz zu sorgen, weil ihn die Marianne sogleich wieder auf das weitere Geschehen aufmerksam machte:
"Ja, um Gottes Willen! Da schau hin! Der Unterhuber Konrad holt jetzt gar ein Gewehr aus seinem Auto! Ja, was will denn der mit dem Gewehr?"
Der Unterhuber Konrad, der war natürlich kein Räuber oder Mörder gar, nein, der war ein Jäger. Daher durfte er auch ein Gewehr haben. Weil ein Jäger ohne Gewehr, der wäre ja unvollständig. Ob er aber auf dem Fußballplatz auch jagen dürfte, das wusste gerade niemand so genau. Auch die Polizisten, die immer noch in ihrem Streifenwagen saßen, mussten sich sehr wundern. Jedoch sahen sie sich derzeit ohnehin außerstande, sich der fragwürdigen Bewaffnung zu widmen. Weil der Alfons malträtierte immer noch ihr am Spielfeldrand stehendes Polizeifahrzeug.
Ausgerechnet der Behringer Franzl, der nun wieder aus dem Feuerwehrauto ausgestiegen war, ohne sich zu erbrechen, der nahm plötzlich die Sache in die Hand. Während der Unterhuber Konrad immer noch an seiner Flinte rumhantierte, rannte der Franzl laut schreiend auf den Alfons zu. Er hatte sich mit einer Taschenlampe bewaffnet, mit der er bedrohlich fuchtelte:
"Attackeee!", brüllte er dem Alfons mit erhobener Taschenlampe entgegen, so dass dieser sich ein wenig verdutzt umdrehte und den auf ihn zustürmenden Franzl ansah.
Von der Tribüne kam Applaus und auch Anfeuerungsrufe waren zu hören:
"Franzel, Franzel, Franzel, ..."
Da setzte sich der Alfons in Gang und begann dem schreienden und fuchtelnden Franzl entgegenzulaufen.
"Jessas Maria!", rief die Trautmannsdorfer Marianne und schlug die Hände vors Gesicht, achtete aber darauf, ihre Augen nicht zu bedecken. Und der Fischer Albert vergaß vor Schreck, zu fotografieren.
Auf der Tribüne verstummten die Leute und Entsetzen machte sich breit. Nur das Schreien vom Franzl und das Stampfen vom Alfons waren noch zu hören.
Doch plötzlich übertönte ein ohrenbetäubendes Geräusch das Kriegsgeschrei vom Franzl. Der Heudobler Heini war unter der zertrümmerten Tür aus dem Werkzeugschuppen herausgekrochen und blies mit aller Macht eine dieser kreischenden Stadiontröten, die er darin gefunden hatte.
Der Franzl fiel vor Schreck hin, der Alfons blieb vor Schreck abrupt stehen, wobei er auf seinem Bremsweg tiefe Furchen im Fußballgrün hinterließ. Der Franzl lag jetzt auf dem Bauch und hielt beide Hände über den Hinterkopf zusammen, erwartete Alfons' stampfende Hufe auf seinem Körper.
Der Heini holte tief Luft und trötete erneut. Und der Alfons hatte die Schnauze voll. Da waren ihm jetzt viel zu viele Leute, zu viele Autos, zu viel Lärm und überhaupt war er müde geworden. Er warf dem Heini und dessen kreischender Trompete einen letzten verächtlichen Blick zu. Unter dem Applaus der Zuschauer trabte er langsam in Richtung des Trainingsplatzes zurück. Er marschierte hinüber zum Loch im Zaun, das er sich gestern Morgen auf seiner Flucht geschaffen hatte, nachdem er über das Postler-Radl vom Meier Manfred gestolpert war. Er wollte jetzt nur noch nach Hause.
"Ja du liebe Zeit, das hat ja grade noch gefehlt, dass es hier so zugeht, gell Albert?", meinte die Trautmannsdorfer Marianne zum Fischer Albert, der gerade was auf seinen Block notierte.
"Wer sucht denn jetzt den armen Alfons, wenn die da alle so beschäftigt sind?"
Und kaum, dass Sie diese Frage gestellt hatte, erschreckte sie ein weiterer Gedanke gar heftig. Sie knuffte den Albert mit dem Handrücken am Arm und meinte entsetzt:
"Ja, Aaalbert! Meinst denn gar, dass dieser ..., dieser damische Ochs' da drunten dem Alfons was angetan hat? Der ist ja vom Auwald raufgekommen, wo sich doch der Alfons versteckt! Ja, heilige Maria, wenn das nur alles gut ausgeht!"
"Wenn's grad' nicht mehr anders geht, Konrad, dann musst du den Alfons erschießen! Weil mit seinen sechshundert Kilo könnt' das schon recht gefährlich werden, wenn er sich gar nicht mehr beruhigen tät', der Alfons", hatte der Hofmann Sepp ihm mittags am Telefon gesagt.
Da war der Konrad noch recht unsicher, weil er meinte, er dürfe ja nicht einfach so in der Gegend herumschießen, nur weil da irgendwo ein Mastbulle nicht geschlachtet werden möchte.
Aber jetzt war es da, das Jagdfieber. Auch die beiden Polizisten hatten ihr beklagenswert zugerichtetes Fahrzeug verlassen und blickten dem Alfons hinterher. Sie hatten die Pistolenhalfter schon aufgeknöpft für den Fall, dass der Alfons doch nochmal umkehren würde.
"Konrad, lass bleiben! Lass! Er geht jetzt eh heim!", rief der Bauer Hofmann dem Konrad zu, der auf einem Knie hockend bereits auf den Alfons angesetzt hatte.
Von der Tribüne schallte ein chorales "Buuh, buuh, buuh!" über's Spielfeld und auch schrille Pfiffe waren zu hören.
Mittlerweile hatten sich auch der Pfarrer Wohlfahrt und der Walter dem Schützen genähert. Und der Pfarrer Wohlfahrt meinte salbungsvoll zum Konrad:
"Geh, Konrad, du wirst doch jetzt das arme Tier nicht erschießen. Es hat doch niemandem was getan!" Er schaute sich kurz um und ergänzte:
"Also, ... keinem Menschen hat er was getan!"
"So feige von hinten!", erzürnte sich der Walter.
"Ich hab g'sagt, du sollst es sein lassen! Du erschießt mir meinen Stier nicht, dass das klar ist!", wurde der Hofmann Sepp etwas grantig.
Enttäuscht ließ der Konrad seine Flinte sinken, die Polizisten knöpften ihre Pistolenhalfter wieder zu und die Trautmannsdorfer Marianne kam über den Platz gelaufen und meinte atemlos:
"Und was ist jetzt mit dem Alfons? Wir müssen jetzt doch endlich den armen Alfons suchen! Nicht dass ihm was passiert ist, da unten im Wald, ... von wo der narrische Stier hergekommen ist!"
Vom Auwald herüber knatterten in diesem Moment die beiden Hofmann Söhne mit ihren Mopeds heran. Jeder von ihnen hatte eine große Tüte am Lenker hängen. Der Sepp, der hatte sie vorhin bei der Suche am Wald heimgeschickt, eine Brotzeit für die Helfer zu holen. So brachten sie jetzt zwei Taschen voller Wurstbrote und Knacker für den Suchtrupp, der Bene und der Fonsi, also der Benjamin und der Alfons.
"Da geht er doch eh heim, der Alfons!", meinte der Sepp zur Marianne und nickte deutend hinter dem nach Hause trottenden Bullen her. Und die Marianne musste ein wenig nachdenken, weil sie sich grade nicht mehr so recht auskannte.
Weil auf der Tribüne beim Fußballplatz, da war nämlich auch der Bauer Bernreiter aus Sonnberg zugegen. Der wollte sich eigentlich das Fußballspiel ansehen, welches dann ja wegen Unbespielbarkeit des Platzes verlegt werden musste. Aber er war recht erfreut, den Alfons kennenzulernen. Der Bauer Bernreiter war nämlich Rinderzüchter und meinte später zum Hofmann Sepp, dass er den Alfons gerne als Zuchtbullen hätte.
Da war der Sepp recht froh, dass er den Alfons nicht schlachten musste. Weil wenn man ständig so einen Ärger mit einem Bullen hat, der immer wegläuft und sonst noch so saudumme Sachen macht, dann wird nämlich die Bindung zwischen Mensch und Stier immer enger. Weil man redet und schimpft ja dauernd mit ihm. Man muss da ja praktisch ständig miteinander kommunizieren! Viel mehr, als mit einem braven Bullen, der halt so dasteht und drauf wartet, geschlachtet zu werden. Und jemanden, mit dem man ständig kommuniziert, den schlachtet man ja nicht so leicht.
Das Postfahrrad und den Sportplatzzaun hat dann die Versicherung vom Hofmann Sepp bezahlt, aber das sei nun bestimmt das allerletzte Mal gewesen, stand im Schreiben von der Versicherung. Nur die Sportplatzsanierung, die wollte die Versicherung nicht bezahlen, weil der Schaden ja weniger vom Alfons, sondern mehr von den ganzen Jägern mit ihren Fahrzeugen verursacht worden war.
Der Hofmann Sepp meinte deshalb zum Fußballvorstand, er würde den Platz ja freiwillig einmal sauber umackern und neu ansäen, dann würd's schon wieder werden. Aber der Vorstand wollte das nicht.
Und die Trautmannsdorfer Marianne hat dem Fischer Albert gedroht, sie würde ihn mit seinem eigenen Kugelschreiber erstechen, wenn er es wagen würde, in der Zeitung etwas von ihrem Irrtum zu schreiben.