Was ist neu

Der Alchimist und ich

Mitglied
Beitritt
21.10.2003
Beiträge
24
Zuletzt bearbeitet:

Der Alchimist und ich

Wenn mein Blick die lange Reihe Bücher entlanggeht, die in meinem Regal stehen, dann erinnere ich mich gerne an die eine oder andere Geschichte, die ich gelesen habe. Es gibt Erzählungen, die haben mich tief in meinem Inneren berührt und mich zum Nachdenken gebracht. Wieder andere haben mich einfach nur unterhalten und mir den Alltag etwas bunter und farbenfroher gestaltet. Aber es gibt ein Buch in diesem langen Regal – ein auf den ersten Blick kleines, unscheinbares Buch mit gerade mal 170 Seiten – von diesem einen kleinen Buch kann ich behaupten, dass es mein Leben verändert hat.

Menschen erinnern mich oft an Bücher. Manche sind so langweilig, man möchte sie am liebsten nach ein paar Sätzen aus seinem Gedächtnis streichen. Wieder andere ziehen einen in ihren Bann, auf das man sich ihrer Magie nicht entziehen kann.
Einem Buch - einem Menschen - begegnete ich vor gar nicht allzu langer Zeit. Er hieß „Der Alchimist“ und für mich begann mit dem Augenblick, als ich die ersten Zeilen dieses wunderschönen orientalisch-südländischen Märchens gelesen hatte, eine lange Reise zum Kern meiner Wünsche und zum Kern meines Selbst.

Dieser Roman, geschrieben von Paulo Coelho, geboren 1947 in Rio de Janeiro, ist ein Bestseller oder, besser gesagt, ein Longseller. Ein Buch übersetzt in 56 Sprachen mit einer Weltauflage von über 19 Millionen muss einfach gut sein, woher sonst dieser Erfolg?
Aber für mich war es mehr als eine gute Geschichte. Ich gewann eine Erkenntnis. Diese Erkenntnis begann mit einer Lüge und der Frage des Hirten Santiago an den König von Salem:

„Welches ist die größte Lüge der Welt?“ fragte der Jüngling den König.

Der König von Salem war nicht ein König, wie man ihn sich vielleicht in seinen Gedanken vorstellen mag. Sein Name war Melchisedek und er behauptete der König von Salem zu sein. Wo immer diese Stadt auch liegen mochte. Er war ein alter Mann, ein Greis, gekleidet wie ein Araber, inmitten Andalusiens. Dürstend nach einem Schluck Wein und etwas Unterhaltung hatte er sich neben dem Schafhirten Santiago gesetzt und hielt ihn vom Lesen seines neuen Buches ab.

„Es ist diese“ antwortete der alte Mann. „In einem bestimmten Moment unserer Existenz verlieren wir die Macht über unser Leben, und es wird dann vom Schicksal gelenkt. Das ist die größte Lüge der Welt!“

Ich stutzte und unterbrach meine Lektüre für eine kurze Zeit.
„Was sollte das heißen?“, fragte ich mich, den Blick von den Zeilen gewandt, in mir suchend nach dem Verstehen.
„Birgt wirklich jeder Tag, jede Stunde und jede Minute die Möglichkeit mein Leben zu ändern?“
Sooft hatte ich diesen Satz schon gehört, ihn in anderen Büchern oder Zeitschriften, ja sogar auf billigen Kalenderblättern gelesen und hatte er nicht die gleiche triviale Bedeutung wie: „Sie lebten glücklich und zufrieden bis das der Tod sie scheidet“, eines Märchens?
Was hält uns nicht alles davon ab, letztendlich das zu tun, was wir wirklich wollen. Und steckt man erst einmal in den Zwängen des Alltags begreift man, dass die Wirklichkeit nicht viel mit einem Traum zu tun hat und die Wirklichkeit ihre Gesetze hat, über die man sich nicht einfach so hinwegsetzten kann.

Zweifelnd las ich weiter und lauschte den Worten des alten Königs:

„Alle Menschen wissen zu Beginn ihrer Jugendzeit, welches ihre innere Bestimmung ist. In diesem Lebensabschnitt ist alles so einfach, und sie haben keine Angst, alles zu erträumen und sich zu wünschen, was sie in ihrem Leben gerne machen würden. Indessen, während die Zeit vergeht, versucht uns eine mysteriöse Kraft davon zu überzeugen, dass es unmöglich sei, den persönlichen Lebensweg zu verwirklichen.“

Was der Alte da sagte, ergab nicht viel Sinn für den jungen Hirten. In meinen Ohren jedoch klangen seine Worte nach. Anfänglich hinterließen sie nur einen faden Beigeschmack auf meiner Zunge. Dieser Geschmack erinnerte mich an nie gelebte, längst gestorbene Gedanken. Irgendwann formten sich seine Worte zu einem spitzen Stachel, trafen einen wunden Punkt tief in mir und machten mich schließlich wütend.

Der persönliche Lebensweg – was sollte das eigentlich sein?!

Sind es vielleicht die Träume der Vergangenheit, die man versucht an irgendeiner dreckigen, schmierigen Theke mit dem dritten Glas Bier gleich mit runterzuspülen?
Oder sind es einst gehegte Hoffnungen und Wünsche, die unter einem Berg dreckiger Wäsche und hinter Geldsorgen verborgen liegen oder sich vielleicht auch nur durch den fehlenden Mut und die verpassten Gelegenheiten entschuldigen lassen.
Vielleicht ist es das, was Udo Jürgens meint, wenn er singt: „Ich war noch niemals in New-York, ich war noch niemals richtig frei…..

Ich konnte schon wieder lachen und las schließlich weiter:

Der Hirte Santiago hat einen immer wiederkehrenden Traum, der ihm heißt, die grünen Weiden Andalusiens und die Sicherheit seines Lebens hinter sich zu lassen und in das Land der Ägypter zu gehen, hin zu den Pyramiden. Dort würde ein Schatz auf ihn warten. Genau dort an den Pyramiden. Wie dieser Schatz aussehen sollte, das wusste der Hirte nicht, aber er hat den Mut, an seinen Traum zu glauben, und macht sich auf den langen, beschwerlichen Weg.
Verschleierte Frauen und sich bekriegende Wüstenstämme machen es ihm schwer, sein Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Auf seiner langen Reise begegnet ihm die Liebe seines Lebens und die Aussicht auf die Sicherheit einer sorgenfreien Zukunft stellt seinen Willen auf eine harte Probe, seinen Weg bis ans Ende zu gehen. Doch der Leser und auch Santiago begreifen: der Weg ist das eigentliche Ziel. Santiago gelangt schließlich zu den Pyramiden und auf seiner Reise hilft ihm kein geringerer als „Der Alchimist“ seinen Schatz zu finden, tiefes inneres Glück zu erleben und im Einklang mit sich und der Welt zu leben.

„Der Alchimist“ – wie wichtig war er auf dieser Reise? Santiago braucht ihn genau wie den König von Salem, um die Zeichen zu deuten. Die Zeichen, die das Leben einem gibt, seine eigene Bestimmung zu erkennen und zu leben. Dabei sprechen die Dinge viele Sprachen:
Das Schreien eines Kamels in der Wüste kann lediglich der Laut eines Tieres sein oder vielleicht das Zeichen für Gefahr. Ein Buch kann lediglich die Summe geschriebener Ideen, gesammelt zu einer schönen Geschichte oder der Anstoß zu einer Veränderung sein.

Ich hatte auch einen Traum – wie der Hirte Santiago und mit Sicherheit viele von Euch – und ich träume immer noch. Mein Traum war es, irgendwann einmal in meinem Leben einen Roman zu schreiben. Eine Geschichte, die ich schon viele Jahre in mir trage.
Manchen Augen wird mein Traum vielleicht unbedeutend erscheinen. Meine Zeilen werden Euch nicht erreichen, weil ihr nicht wissen könnt, welch langen Weg ich gegangen bin, um ihn mir zu erfüllen, und wie viele Selbstzweifel und Unwegsamkeiten mich immer und immer wieder davon abhielten. Aber vielleicht habt Ihr es auch schon selbst erlebt, - die unbeschreibliche Macht der Bücher. Dass ein einziges kleines Buch, nicht dicker als ein Finger breit, es schafft, Unerreichbares näher zu bringen, Wahrheiten aufzudecken und vergessene Träume wieder lebendig werden zu lassen. Diejenige, die mich am meisten daran gehindert hat meinen Wunsch Wirklichkeit werden zu lassen, war diejenige, die es schließlich doch geschafft hat. Mir ist es gelungen meine Geschichte zu schreiben, weil mich der Mut und die Entschlossenheit des Hirten Santiago, an seinen Traum zu glauben, tief beeindruckt haben. Tief in meinem Herzen trage ich die Gewissheit des Alchimisten, die mir sagt, dass oft das Einzige, was uns davon abhält, unsere Träume wahr werden zu lassen, die Angst vor dem Versagen ist. Und selbst im Versagen liegt ein Gewinn, denn auch wenn es geschieht, so passiert es mit dem Bewusstsein, seinem inneren Weg gefolgt zu sein.

Wie mein weiterer persönlicher Lebensweg aussehen wird, letzten Endes weiß ich es noch nicht genau. Aber mein Ziel liegt in dem geschriebenen Wort. Zu Schreiben gehört zu mir wie die Luft zum Atmen. Zu verstehen, dass es so ist, dafür brauchte es dieses Buch.
Wie immer Euer persönlicher Lebensweg aussehen mag, was immer Ihr für Träume und Wünsche haben mögt, zwischen Alltag und Hektik, zwischen Sorgen und Angst lohnt es,
dieses einzigartige Buch zu lesen und sich ein wenig Zeit zu nehmen darüber nachzudenken.

Als ich das erste Mal mein Manuskript in den Händen hielt - den Geschmack frisch gedruckter Träume auf meiner Zunge - stand ich in Gedanken neben Santiago an den Pyramiden und blickte glücklich auf meinen kleinen Schatz.

Danke, Senhor Coelho!

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi Sandy!

Dein Beitrag ist zwar nicht unbedingt im Stil einer Kurzgeschichte verfasst, aber dennoch finde ich das, was du geschrieben hast sehr ansprechend. Was vermutlich daran liegt, dass "Der Alchemist" zu meinen Lieblingsbuechern gehoert und auch auf mich eine aehnliche Anziehungskraft hatte.

Es steckt sehr viel in diesem kleinen Buch, dass zum Nachdenken anregt und vor allem, dass motiviert und aufbaut - gerade in den Zeiten, wo man etwas Hoffnung gut gebrauchen kann.
Es ist ein Buch, das hervorragend in unsere heutige Gesellschaft passt, die so von Stress gekennzeichnet ist und so wenig Platz zum Traeumen und Hoffen laesst.
Am Ende sind doch wir es, die bestimmen, ob wir den Abend nach der Arbeit vor dem Fernseher verbringen, oder ob wir hinausgehen und das Leben entdecken.
Ich wuenschte, es gaebe mehr Geschichten, die auf diese besondere Weise mit dem Leser kommunizieren. Oftmals sind es gerade Buecher, Filme und Lieder, die uns mehr erreichen als eine Rede im Bundestag. Wir koennten vermutlich sehr viel mehr aus unserem Leben herausholen, wenn wir uns nicht immer wieder zurueck in unser Gesellschaftssystem pressen lassen wuerden.

Und ich bin mir ganz sicher, dass in diesem Forum jeder deinen Traum vom eigenen Roman seht gut nachvollziehen kann. Es ist ein hartes Stueck Arbeit, das jeder hinter sich bringen muss, wenn er am Ende dieses wunderbare Gefuehl der Zufriedenheit verspueren will.
Ich hoffe, dass viele Romane, die in Zukunft noch geschrieben werden, einen aehnlichen Geist, wie ihn "Der Alchemist" hat, verspueren lassen.

Viel kritisieren kann ich nicht an deinem Beitrag. Du hast einen guten Schreibstil. ;)

Mes

 

Hallo Mes,
vielen Dank für Deine lieben Zeilen, die mir aus dem Herzen gesprochen haben. Du hast Recht, eine typische Kurzgeschichte habe ich da wohl nicht geschrieben. Es sollte auch eher als Kolumne oder Buchvorschlag gesehen werden. Ich bin noch nicht so lange bei kg und ich dachte, dass es vielleicht bei dem Thema Gesellschaft gut aufgehoben wäre.
Wie auch immer, es musste halt einfach raus und ich freue mich, dass ich Dich mit meiner Geschichte erreicht habe.

Einen lieben Gruß ans andere Ende der Welt

Sandy

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom