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Der Abschied

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08.09.2002
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Der Abschied

„Ich verlasse das Land.“

Der Ausdruck auf seinem Gesicht erinnert mich daran, wie sentimental er sein kann.
Vor zwei Jahren, bei diesem riesigen Unglück, als die ersten Todeszahlen im Fernsehen verlesen wurden, so um die 300, glaube ich, saß er eine ganze Woche mit verstörtem Blick in seinem Ledersessel, rauchte das doppelte seines gewöhnlichen Zigarettenpensums, trank jeden Abend ein gutes Stück mehr als er gewohnt war und versank dann in stiller Lethargie, einmal so weit, dass er es noch nicht einmal bemerkt hatte, als ich aufgestanden und gegangen war. So ist er eben.
Unter den Voraussetzungen eigentlich ein Wunder, dass wir jemals Freunde wurden, aber ich sage mir, dass ich mich zu der Zeit auch mit Lee Harvey Oswald oder John Lennon angefreundet hätte, zum einen aus tatsächlicher Einsamkeit heraus, zum anderen einfach aus dem Bedarf an Tarnung.
Klar, die natürlichste Sache der Welt. Da helfen weder die zwanzig Tauglichkeitstest, durch die man geschickt wird, noch das Manipulieren des natürlichen Hautteints und der Gesichtszüge durch plastische Chirurgie, der Unterricht in fremden Sprachen, Umgangsformen und Ansichten, das jahrelange Training um einen zum körperlich wie geistig perfekt konditionierten Mechanismus zu machen, ist man erst einmal in das Land eingeschleust mit so präzise gefälschtem Lebenslauf und Papieren, dass die eines wirklich dort Geborener dagegen wie eine von Stümpern zusammengeschriebene Fassade scheinen, treibt einen die Einsamkeit in wenigen Wochen fast in den Wahnsinn, besonders bei Fällen wie meinem, bei denen man keinerlei Ahnung hat, wann man wieder verschwinden darf.
Die Rede ist hier nicht von den profanen Bedürfnissen, die jeder einsame Mann empfindet, in dem Geld für Verpflegung, dass einem jeden Monat zugespielt wird, ist der wöchentliche Besuch eines Bordells einkalkuliert, Nein, es fehlt einem einfach ein echter Mitmensch. Schließlich ist man an sich von Feinden umgeben, auch wenn diese es weder sehen noch hören noch auf sonst eine Weise bemerken dürfen.
Jemand, mit dem man lachen kann, sich über die Woche unterhalten, man die Feierabende verbringen, sich betrinken kann, zumindest in Maßen. Der einen davon ablenkt, dass man nur einen zum Reden gebrachten Kollegen, nur einen kleinen Ausrutscher, nur ein winziges Leck in der Informationsleitung davon entfernt ist, verhaftet, gefoltert und hingerichtet zu werden.
Kurz, ein Freund.
Und die gibt es dummerweise nicht stundenweise für Geld.
Natürlich erhöht das die Gefahr eines verräterischen Patzers, aber nach 2 Monaten Wände anstarren, Bücher in Fremdsprachen lesen (meine Muttersprache wäre zu verdächtig gewesen) und den Verstand mit Fernsehen abtöten hielt ich es einfach nicht mehr aus.
Ich zog los in die nächste Kneipe, gab eine Runde aus (was bei 20 Anwesenden und den gesalzenen Getränkepreisen fast genau soviel kostete wie ein Abstecher ins Freudenhaus) und kam mit ein paar Leuten ins Gespräch, natürlich so unpersönlich wie möglich.
Einer der Männer, ein ziemlich erfolgloser Maler, bestand darauf, mir bei nächster Gelegenheit auch einen Drink zu zahlen, nur heute sei er schlecht bei Kasse. Klar, eine nette Freundlichkeitsfloskel, zu der die Leute hier aus Tradition an sich verpflichtet waren, das war mir noch im ersten Ausbildungsjahr beigebracht worden.
Ein paar Wochen später begegnete ich dem Burschen zufällig wieder, zu meinem großen Erstaunen erinnerte er sich sogar an meinen angeblichen Namen und lud mich auch gleich auf den versprochenen Drink ein. Es wäre vermutlich mehr als auffällig gewesen, hätte ich seine Einladung einfach abgelehnt, und eigentlich wollte ich das auch gar nicht, und so gingen wir zusammen etwas trinken, klagten einander unsere Leiden um Geld, Frauen und Beruf (um meine Identität zu perfektionieren hatte ich tatsächlich eine ausgesprochen stupide, aber körperlich ertüchtigende Beschäftigung als Möbelträger angetreten, der Rest war natürlich frei erfunden), tranken ein paar Gläser mehr als ich hätte sollen und ehe ich mich versah hatte ich ihm meine Telefonnummer gegeben und mich auf eine Feier am kommenden Wochenende einladen lassen.
Seitdem sind volle vier Jahre vergangen und wir haben zusammen so einiges erlebt, haben uns die Freude über die weniger Erfolge und das Leid über die vielen Mißerfolge geteilt, uns gegenseitig so viele Gefallen getan, dass wir zu zählen aufgehört haben und kaum Geheimnisse voreinander gehabt.
Natürlich erzählte ich ihm nicht, dass ich ein feindlicher Agent war und auch nicht von den diversen Attentaten und Sabotageakten, aber davon mal abgesehen lernte er mich besser kennen als jeder andere, und zwischenzeitlich fragte ich mich, ob ich ihm nicht einfach alles erzählen konnte. Hätte er mich gefragt, ich kann nicht beschwören, dass ich es nicht getan hätte.
Im Nachhinein frage ich mich, wie ich so verdammt leichtsinnig sein konnte, aber an sich kenne ich die Antwort und was geschehen ist ist geschehen. Daran läßt sich nichts ändern, und ich würde es auch nicht, wenn ich könnte, denn es war seine Freundschaft, die mich davon abhielt, entweder wahnsinnig zu werden oder alles hinzuschmeißen und mich zu ergeben.
Jetzt aber ist meine Aufgabe hier beendet, vor 5 Tagen habe ich drei Männer des feindlichen Geheimdienstes getötet und mich einer Liste all ihrer Maulwürfe in unseren Reihen bemächtigt, und es wird höchste Zeit, meine Sachen zu packen, die Spuren zu verwischen und das Land schnellstens zu verlassen.
Und leider ist der einzige Freund, den ich in den letzten vier Jahren hatte, der vermutlich beste Freund, den ich je getroffen habe, unter Spur einzustufen.
„Ja, ich fliege morgen früh, und werde nicht mehr wiederkommen.“ wiederhole ich und versuche die unsagbare Vertrautheit seiner Wohnung zu ignorieren.
„Verdammt, wieso? Hast du hier Probleme? Du weißt, du kannst auf mich zäh“ setzt er an und will sich erheben, aber ich drücke ihn sanft in seinen Sessel zurück und unterbreche ihn: „ Dieses mal kannst du mir nicht helfen, es gibt keinen anderen Weg, so sehr ich es hasse. Der Grund ist doch unwichtig.“
Sein Gesicht zeigt deutlich, wie sehr es ihn schmerzt.
„Ich bin nur vorbei gekommen, um...“
Völlig schutzlos sitzt er da, hat nicht einmal bemerkt, dass ich heute Handschuhe trage, unwissend um die schallgedämpfte Automatikpistole in meiner Manteltasche, einfach nur in sich selbst zusammengesunken. All meine Erfahrung brüllt mich an, es jetzt zu tun, eine bessere Gelegenheit als diese ist in keinem Lehrbuch dieser Welt zu finden, aber ich zögere.
„den Abschied in Stil abzuhalten.“ beende ich meinen Satz, öffne die Vitrine, in der er den Schnaps aufbewahrt und schenke uns beiden die Gläser randvoll ein. Der Alkohol wird es uns beiden erleichtern, zumindest hoffe ich das.
Er nimmt sein Glas seufzend entgegen, stößt an und schüttet dann den gesamten Inhalt auf einen Satz in sich hinein. Ich tue es ihm gleich und schenke nach.
Er ist der Feind, sage ich mir.
Mir eine Zigarette ansteckend lasse ich mich in den anderen Sessel fallen, in dem ich so viele Stunden meines Lebens verbracht habe, dass ein deutlicher Umriß meiner Silhouette in den Polstern erkennbar ist, nippe an meinem zweiten Glas und starre ihn durch den aufsteigenden Rauch an.
Der Feind? Wenn er der Feind ist, weshalb denke ich dann bei seinem Anblick nicht an Tod und Bedrohung, sondern an die etlichen fröhlichen Abenden, an die Mädchen, mit denen er mich andauernd verkuppeln wollte, obwohl er sich meist selbst in sie verliebt hatte, an die Unannehmlichkeiten, die er auf sich genommen hatte, um meine geringfügigen Schulden bei einem kleinen Kredithai zu bezahlen, ohne es mir zu sagen (ich hatte das Geld nicht geborgt, weil ich es brauchte, sondern um zu verschleiern, dass mein Lebensstil trotz meines schlecht bezahlten Berufes nicht allzu spartanisch ausfiel) und an den ganzen Rest?
„Scheiße, ich werde dich vermissen.“ sagt er und signalisiert mit seinen Augen, dass er den Schnaps schon deutlich spürt.
Nein, so kann ich ihn nicht töten. Nicht von Angesicht zu Angesicht. Ich will ihn nicht sterben sehen.
Nur so schnell wie möglich weg von ihm, zurück nach Hause, in welchem Land das liegt weiß ich im Moment selbst nicht, aber weg von ihm.
Mit leichtem Schwanken komme ich auf die Beine, sage „Ich dich auch, glaub mir.“ und verlasse seine Wohnung ohne mich noch umzudrehen.
„Einen Moment!“ ruft er als er nach mir auf die Straße tritt.
Laufen ist das, was ich tun sollte, aber ich bleibe stehen.
„Hast du denn überhaupt nichts gelernt in der Zeit, seit du hierher gezogen bist?“ fragt er, mit Gekränktheit spielender Stimme, der Schwermut von Alkohol weggeschwemmt. Er hält mich nach wie vor für einen jungen Mann vom Lande, der in der Stadt sein Glück versuchen wollte. „Wenn es ein echter Abschied sein soll, so wird zumindest eine letzte Zigarette geteilt.“ fährt er in lehrerhaftem Ton fort, und folgt seinen eigenen Anweisungen, indem er eine seiner langen filterlosen Zigaretten zwischen seinen Finger entzwei bricht und mir die eine Hälfte reicht. „Mensch, nur vier meiner 28 Jahre kenne ich dich und ich könnte doch beschwören, du wärest seit meiner Geburt der engste Freund, den ich je hatte. Ich beschwöre, wir würden einander überall wiederfinden.“
Ich zucke zusammen. Er hat recht. Selbst wenn die Ärzte mir mein echtes Gesicht wiederherstellen, mir wieder Haut meiner eigenen Farbe geben, sein Wissen über mich würde dennoch ausreichen, mich überall zu finden.
Von den Vergeltungsmaßnahmen seiner Seite haben sie mir während der Ausbildung mehr als genug erzählt und auch gezeigt. Mein direkter Vorgesetzter zu der Zeit hatte mir von einem Freund namens Toni erzählt, der während seiner Zeit als Maulwurf bei der Gegenseite den Fehler begangen hatte, seinen richtigen Namen anzugeben, als er nach erledigtem Auftrag die Karte für den Flug nach Hause gekauft hatte. Zwei Wochen später wurden er, seine Frau und seine zweijährige Tochter auf grausamste Weise ermordet. Die Männer, die die Vergeltungsaktionen ausführen, sind alle verurteilte Gewalttäter, werden außerhalb ihres Dienstes in geschlossenen Anstalten gehalten und müssen das Opfer mindestens vier Stunden quälen, bevor der Tod eintreten darf. Die Leichen sehen grauenhaft aus, sind oft nur noch anhand ihres Gebisses zu identifizieren.
Und er könnte dazu benutzt werden, dass ich, meine Freundin, meine ganze Familie Opfer einer solchen Aktion werden.
Ohne eine weitere Überlegung reiße ich die Waffe aus meiner Tasche und schieße ihm zwei mal in die Brust, die Kugeln durchschlagen ihn scheinbar ohne langsamer zu werden.
Sein Körper bricht zusammen und schlägt mit einem dumpfen Laut auf den Boden auf, innerhalb von Sekunden bildet sich um seiner Herzgegend herum eine kleine Lache Blut.
Mit weit aufgerissenen Augen sieht er mich an, um Hilfe flehend, vermutlich wird er nie wissen, was geschehen ist. Seine Lippen zucken, als wolle er etwas sagen, aber er bringt nur ein rasselndes Geräusch hervor.
Aus seiner Brust kommt ein weißes Wölkchen und steigt langsam nach oben.
Man sagt, die Wikinger hätten geglaubt, es sei die Seele eines Menschen, die gen Himmel fährt, in eine bessere Welt. Inzwischen wissen wir es besser, wissen, dass es nur warme Luft aus den Lungen ist, aber der alte Gedanke gefällt mir besser.
So schnell wie möglich zu verschwinden ist das einzig richtige, das jetzt zu tun ist, aber ich kann die Augen nicht von seinen verzweifelten letzten Sekunden nehmen, erst als der Körper sich ein letztes mal aufbäumt und dann erschlafft gelingt es mir, mich abzuwenden.
Er war der Feind, ich mußte es tun, letzten Endes lief es auf ihn oder mich hinaus, ich spüre kein Bedauern, brauche kein schlechtes Gewissen zu haben. Egal, wie sympathisch er scheint, ein Gegner bleibt ein Gegner, das wurde mir doch sicher einmal gesagt...
Nach ein paar Schritten zurück in seine, Nein, die jetzt unbewohnte Wohnung übergieße ich dort alles mit dem Brandbeschleuniger, den er gelegentlich benutzt hatte, um seine Bilder „einem kurzen Moment der Zerstörung preiszugeben, denn nur wer Schönheit aufs Spiel zu setzen bereit ist hat sie auch verdient“, wie er mir einmal in einem Moment des Überschwangs erklärte. Hauptsache, das Zeug kann jetzt möglichst schnell alle meine Spuren und alle Erinnerungen so schnell wie möglich „der Zerstörung preisgeben“. Die Pistole lasse ich da, es ist kein typisches Modell meiner Organisation, sollen sie mit den verschmorten Überresten machen, was sie wollen, auf mich deutet sie nicht mehr hin.
Nachdem das ganze in Brand gesteckt ist, wanke ich zu meiner eigenen Mietwohnung, dir nur aus einer kleinen Küche, einem Bad und einem einzige Raum besteht, versichere mich, dass alles bereit liegt und wälze mich auf meiner billigen Matratze umher.

Lange liege ich wach da, der Schlaf will nicht kommen. Vom Treppenhaus dringen Schrittlaute unter der viel zu großen Spalte unter der Tür in mein Zimmer. Nervosität steigt in mir auf, mein Körper verkrampft sich, ich bin dem Ziel einfach zu nahe, um jetzt noch erwischt zu werden! Die Schritte verstummen, ich entspanne mich wieder.
Tock, tock, tock.
Das ist meine Tür! Durch dem Türspalt dringt kein Licht herein, wer immer es ist, er meidet es, von anderer gesehen zu werden. Ich fahre hoch. Nicht jetzt, nicht jetzt, nicht jetzt. Nicht so nah vor dem Ende.
Soll ich einfach nicht antworten und sehen, was passiert? Aber wenn ich beobachtet wurde, so wissen sie bereits alles, wissen, dass ich ihn getötet habe, auch dass ich hier bin...es hat keinen Sinn!
Halt! Beruhige dich. Atme langsam und stetig, so wie sie es dir beigebracht haben, pumpe so viel Sauerstoff wie möglich in dein Blut, denk nach. Hätten sie dich schießen sehen, so hätten sie dich sofort verhaftet.
Aber wer dann? Niemand würde mich um diese Zeit besuchen kommen, niemand außer...
Tock, tock, tock.
Verdammt, wer immer es ist, er weiß, dass ich da bin! Es hat keinen Sinn mehr, nichts!
Ich springe auf und reiße die Tür auf, auf alles gefaßt.
Er! Unmöglich, er kann nicht leb...tut er nicht, in seiner Brust sind zwei große Löcher.
Ich sehe meine Pistole, die schallgedämpfte .32er und den Mündungsblitz. Zwei mal.
Der Schmerz ist unbeschreibbar, jegliche Kraft entweicht meinem Körper durch die Wunden, ich breche zusammen, werde jedoch nicht bewußtlos, sondern starre ihn weiter an.
In seinen Augen ist nicht das geringste Mitleid. Kein Bedauern. Da ist nichts, überhaupt nichts.

Schweiß brennt in meinen Augen, mein Hemd klebt am Rücken, ich bin in aufrechter Haltung, immer noch in in meinem Bett. Mein Gott, bloß ein Traum.
Gerade will ich mich wieder auf die Matratze fallen lassen, da sehe ich das Licht unter der Tür.
Es hat wirklich geklopft!
Nerven behalten, nur die Nerven behalten, dann wird alles gut gehen. Atmen, ruhig, regelmäßig, aus dem Bauch heraus.
Es sind mindestens zwei Schatten unter der Tür.
Sie wissen, dass ich da bin, soviel ist sicher. „Moment“ murmle ich halblaut, lasse absichtlich wesentlich mehr Müdigkeit durchklingen als ich empfinde, das kann mir einige Sekunden erkaufen.
Schnell schlüpfe ich in die Hose, hänge mir die Tasche über, die nichts enthält, das ich bräuchte, aber dem Gepäck eines üblichen Verreisenden entspricht, was mir eine gründlicherer Durchsuchung am Flughafen ersparen soll und klemme dann mein spezial angefertigtes Messer in meinen hinteren Hosenbund.
Es hat eine dreifache Klinge, um das Verschließen der Wunde zu verhindern, und besteht aus einem besonderen Plastik, dass ähnlich scharf wie Stahl, jedoch mit Metalldetektoren nicht zu finden ist. Meine Notfallwaffe, die letzte Karte, die ich zu spielen im Ärmel habe, sollte alles schief gehen.
Dann öffne ich die Tür.
Zwei Polizisten in Uniform, ihre Hände an den Waffen, aber noch nicht gezogen.
Ein dummer Fehler. Und ein tödlicher.
Der erste setzt an, etwas zu sagen. Meine Hand schießt vor, er sieht sie und zieht seine Waffe, ich ramme ihm das Messer tief in die Kehle, noch nicht einmal einen Schrei bekommt er noch hervor und ich packe mit der Linken seine in Verkrampfung festgeklammerte Pistole.
Der andere springt zwei Schritte nach hinten, mit entsetzensgeweiteten Augen, und reißt seinen Revolver aus dem Hohlster. Die Waffe des Sterbenden in die Richtung des anderen haltend werfe ich mich zu Boden, sehe, wir der auf mich zielt...
Ich reiße den Abzug, der laute Knall hallt ohrenbetäubend in meinem Kopf nach, irgendwo in meine Nähe splittert Holz, einzelne Teilchen bohren sich in meinen Rücken, doch ich spüre sie kaum.
Dann ist alles still. Mein Herz rast als ich aufschaue, Blut auf dem Boden sehe und erst eine Sekunde danach realisiere, dass es aus der Schnittwunde im Hals des Polizisten sprudelt, der nun neben mir liegt und dessen Augen immer noch völlig verständnislos umherfahren.
Ob das wirklich nur ein Reflex ist oder ob er mich noch wahrnimmt bleibt eine Frage der Ethik.
Der andere Polizist liegt reglos auf dem Boden gleich neben der Treppe, dort, wo gerade eben noch seine Nase war ist ein nun häßlicher, rot-weißer Krater, aus dem ein einzelner spitzer Turm hervorragt, das ehemalige Nasenbein.
Berufsrisiko sage ich mir, nehme mein Messer wieder an mich und löse die Pistole aus der starren Hand des Toten. Keine Zeit mehr zu verlieren, ich muß so schnell wie möglich außer Landes kommen.
Beim Aufstehen bemerke ich, dass mein Unterhemd sich langsam rötet, in der linken Seite, um eine großes Brandloch herum. Der Schmerz explodiert eine Sekunde später in meinem Kopf und läßt alles schwarz werden.
Nein, Nein, Nein, ich darf nicht, ich kann nicht, ich werde nicht versagen. Zuviel hängt von mir ab, ich darf nicht, ich darf einfach nic...

Hinter dem Steuer, irgendeinem Steuer, komme ich wieder zu mir, sehe mich um, es ist ein Polizeiwagen, die Tasche thront auf dem Beifahrersitz, der Schlüssel steckt im Schloß. Keine Ahnung, wie ich hierher gekommen bin, und auch kein Interesse daran, es herauszufinden, was zählt ist, dass ich hier bin.
Mein Heim in den letzten Jahren steht lichterloh in Flammen. Gut.
Auf der Rückbank liegt eine Lederjacke, zu klein, um gut zu passen, aber ich streife sie mir über und knöpfe sie zu, um die Wunde zu bedecken. Mir ist kalt und meine Sicht verschwimmt wieder, aber darum geht es nicht.
Das ist vollkommen unwichtig. Hör auf zu jammern, Hunderte, Tausende zählen auf dich und deinen Erfolg.
Ich drehe den Zündschlüssel und fahre los, Richtung Flughafen, schlängle mich durch den Verkehr, denn es ist keine Zeit mehr zu verlieren.
„Fantastisch machst du das, dafür bekommst du sicher einen Orden!“ kommt eine Stimme von der Rückbank.
Kein Bedarf, sich umzudrehen, ich weiß, dass er es ist.
„Halt die Klappe, du elender Bastard! Du bist tot, verstehst du? Tot! Te O Te!“ brülle ich zurück, was dumm ist, denn da ist niemand, da kann niemand sein.
„Oh natürlich, jetzt ist alles vergessen, nicht wahr? Zwei Kugel, Peng Peng, dann nichts wie zurück nach Haus, zu deiner sicherlich riesigen Belohnung, den Orden, deinem kleinen Mädchen, dem Leben auf der hellen Seite des Lebens. Scheiß auf die vier Jahre hier, die gute Zeit, die Freundschaft, die Aufopferung, die Leute, die du hier getroffen hast, wozu gibt es Pistolen, wenn nicht, um sie alle verschwinden zu lassen?“
„Halt die Fresse!!“ Verdammt, ich habe ihm nie von meiner Verlobten erzählt, die Bemerkung macht mich nervös. Aber es ist egal, sie kommt von einem Toten, der zu dumm ist, einfach zu verschwinden.
„Wie viele Menschen hast du schon getötet, hm? Zehn? Zwanzig? Und wie viele mehr wird diese Liste töten,, die, die du in deine Unterhose versteckst?“
„Sei ruhig und verschwinde.“ Mehr habe ich ihm nicht mehr zu sagen. Er plappert weiter, versucht, meine Moral zu unterwandern, spricht schlecht von meiner Mission, klagt über die Eliminierten, aber was habe ich anderes erwartet von einem Feind? Ich höre ihm nicht mehr zu, drehe das Radio an so laut es geht und lausche der Musik, bis ich angekommen bin. Es ist Popmusik, sie verdrängt die Schmerzen und übertönt ihn.
Am Flughafen angekommen nehme ich die Tasche, die Pistole lasse ich im Fußraum liegen, ohne Lizenz kann sie mir nur Ärger bereiten, steige aus dem Auto auf, gebe mir selbst zwei Sekunden, um die schwarzen Punkte aus meinen Augen zu vertreiben, dann betrete ich die Wartehalle und gehe zu einem Verkaufsschalter, dem einzigen, der spät nachts noch in Betrieb ist und sage der Verkäuferin, wohin ich fliegen will, und zwar mit dem nächsten Flug.
Sie fragt ob ein Ticket erster oder zweiter Klasse, ich antworte zweite, so gerne ich mir nach den Jahren der Sparsamkeit wieder ein wenig Luxus gönnen will, ein paar Stunden muss ich noch warten, um keinen Verdacht zu erwecken. Ich reiche ihr das Geld, nehme mein Ticket, lasse mir sagen, dass das Flugzeug in voraussichtlich dreißig Minuten zu betrete ist und setzt mich dann auf eine dieser unbequemen Flughafenbänke.
Eine Zigarette zu rauchen wäre ebenfalls ein Wunsch von mir, aber das Rauchen ist Teil meines Lebens hier, und nun ist es an der Zeit, es hinter mir zu lassen, und meiner baldigen Frau würde es gar nicht gefallen, wenn ich weiterhin eine halbe Schachtel am Tag bräuchte.
„Na, auf zu neuen Ufern, nicht wahr, alter Freund.“ fängt er wieder an, jetzt sitzt er direkt neben mir. Ich sehe nicht hin. „Gesetzt dem Fall, du schaffst es, so wirst du in weniger als 12 Stunden die Liste übergeben, den Orden entgegennehmen, oder die Oden, wer sagt denn, dass es bei einem belassen wird, dann wirst du ein wenig Schampus schlucken und mit deiner Frau in spe schlafen. Das heißt, wenn dich die Bullen nicht erwischen, zum Beispiel der Kerl in Zivil da drüben, oder die so verzweifelt unauffällig schauende Frau im Mantel da.“
Tatsächlich, der gedrungene ältere Mann auf der Bank gegenüber, der so tut, als ob er Zeitung lesen würde, aber seit meiner Ankunft nicht einmal umgeblättert hat, ist mir schon aufgefallen, und auch die junge Frau im roten Mantel, die an einer der Säulen lehnt, eine Zigarette raucht und mich immer dann anstarrt, wenn sie meint, ich würde es nicht bemerken.
„Ach übrigens, die Wunde sieht nicht gut aus, besonders wenn man bedenkt, dass die Kugel noch drin ist... schon mal etwas von Metalldetektoren gehört?“
Mein Gott, er hat recht! Ich klammere mich an die Tasche, erhebe mich wankend und gehe zum Klo, in eine Einzelkabine, die sich abschließen läßt. Er bleibt draußen stehen.
Die Wunde sieht wirklich nicht gut aus, sie blutet noch ein wenig, aber nicht allzu schlimm, nur die Kugel, die sich noch irgendwo in dieser Höhle verbirgt ist ein Problem. Kein unlösbares allerdings.
Meine Tasche, ein billig aussehendes Sportmodell, hat einen Riemen, den ich abnehme und mich damit kneble. Egal, was passiert, ich darf nicht auffallen, und die Wahrscheinlichkeit, dass ich schreie, ist trotz allen Trainings mehr als gegeben. Mit einer Entzündung kann ich leben, darum können sich die Ärzte kümmern, also bin ich bei der Hygiene ein wenig nachlässig, sie werden es mir verzeihen.
„Das willst du nicht wirklich tun, oder?“ kommt es von draußen, aber ich höre nicht zu, ich ziehe einfach mein Messer, konzentriere mich auf einen Punkt an der Decke, setze an und beginne zu schneiden.

Als ich fertig bin, liege ich auf dem Boden, schwarze und grüne Punkte tänzeln überall umher, aber damit werde ich fertig. Die blutige Patrone liegt neben mir, bis ich sie in die Kloschüssel werfe, dann stopfe ich ein wenig Klopapier in die Wunde, um die Blutung zu stillen.
Nur noch einen Moment, um durchzuatmen, mir den Schweiß und das Blut abzuwischen, dann ziehe ich mich an der Wand langsam auf die Beine, nehme die Tasche und verlasse das Klo, um auf direktem Weg zu dem richtigen Flugschalter zu gehen.
Karte zeigen, Gepäck durchleuchten lassen (besteht vor allem aus Kleidung, Zahnbürste, einem Fotoapparat und einer Aktenmappe), Uhr ablegen, Metalldetektor passieren, Uhr wieder anlegen, Flugzeug betreten, auf meinen Platz setzen, anschnallen, warten.
„Unfaßbar! Hätte nie geglaubt, dass ein Mensch so was wirklich machen kann. Na, jetzt hast du es gleich geschafft, bald hast du dein Gefängnis für die letzten vier Jahre und den Ruheort für deine Opfer hinter dir gelassen, all die Menschen, die du erschossen hast, ohne mit der Wimper zu zucken. Nur eine letzte Frage: was es das Wert? Reichen eine dumme Liste, die nur zu noch mehr Tod und Leid dient, und eine ein wenig bessere Verhandlungsbasis für dein Land als Grund aus, deinen einzigen Freund zu töten?“ Er sitzt wieder neben mir
„Sei ruhig.“ flüstere ich und erschrecke, wie quengelig und schwach meine Stimme klingt.
„Oh verzeih, es ist ja gar nicht das Land und die Liste, die dich interessieren, die jucken dich ebenso wenig wie die Toten, richtig? Es ist das Geld, das dein Blut zu brodeln bringt und dich dazu, das anderer zu vergießen, stimmts?“
„Nein, verdammt, du lügst! Ich habe es für das Ziel und den Vorteil aller getan, nichts anderes!“
„Nun, ich habe sicher keinen großen Vorteil daraus gezogen, so sehr ich auch suche, ich finde nur zwei Löcher in meiner Brust, sonst nichts. Aber bei dir sehe ich den Vorteil schon: eine sicher atemberaubende Blondine zur Frau, ein Konto so dick dass die meisten Leute hier ein Leben damit auskämen, die Orden, wer weiß, vielleicht eine hohe Stelle in eurer kleinen Organisation...dafür lohnt es sich doch, Freunde abzuknallen, oder?“
„Halts Maul! Ich habe niemanden verraten!“ brülle ich und drehe mich doch, um ihn anzusehen.
Nur eine Stewardeß, die mich verwirrt ansieht.
Ich kann nicht mehr anders, meine Augen brennen, ich hämmere meinen Kopf gegen den Sitz vor mir und beginne, leise die Tränen fließen zu lassen.

Der Pilot des Fluges begrüßt alles Passagiere des Fluges und verbreitet die Details, während die Stewardeß mir einen warmen Tee bringt und mir sanft die Hand auf den Arm legt. Zwei Minuten später hebt die Maschine von der Startbahn ab, er bleibt weg, wofür ich sehr, sehr dankbar bin.
Der Tee schmeckt nicht sonderlich. Billiger Aufbrühtee, aus dem Supermarkt, noch dazu einer dieser gräßlichen mit Vanillin angereicherten. Bah.
Ich trinke ihn schluckweise und versuche mir vorzustellen, es sei der Tee, den ich bald zu Hause trinken werde, teurer, aus Japan importierter Blättertee, echte Natursorten. Es funktioniert nicht, aber zumindest schmecke ich einfach nur gar nichts.
Keine Zigaretten mehr, aber andererseits sollte ich eh aufhören, zu rauchen.
Das Rauchen, das Trinken, die Arbeit, all das liegt jetzt bald hinter mir, das war eigentlich nicht ich, nur jemand, der mir verdammt ähnlich sieht, ab dem jetzigen Moment bin ich ein neuer, ein besserer Mensch.
Mein Gesicht lächelt ein wenig, und die Schmerzen sind so gut wie vergessen. Bald bin ich zu Hause.
Ich lehne mich zurück, schließe die Augen ein wenig und stelle mir vor, ich wäre auf Hawaii. Ohne Schmerzen, ohne Tod, ohne tote Gespenster, ohne Geldsorgen, einfach nur ich und meine Verlobte und ein paar Bedienstete und ein schönes, großes Haus und viel Sonne am Strand.

„Mister, Mister, wachen Sie auf. Wir sind gelandet, sie müssen jetzt aussteigen.“
Eine Hand schüttelt meine Schulter, ich muss eingeschlafen sein...die Stewardeß sieht mich besorgt an, scheint das Blut aber nicht gesehen zu haben...verdammt, so ein Fehler kann einen das Leben kosten.
Ich sehe ihr kurz in die Augen, nuschele ein „Danke“ und stehe vorsichtig auf, darauf bedacht, die Wunde zu verbergen, nehme meine Tasche und versuchte, gerade zu gehen. Klappt nicht ganz, aber man kann es auf die Müdigkeit schieben.
Durch die Ausweiskontrolle, die Tasche holen, in die Empfangshalle gehen, nach dem Schild „Cornell Adams“ Ausschau halten, auf den Träger des Schildes zugehen, die unfassbar stupiden Losungsworte austauschen, mit ihm in den blauen Mittelklasse Kombi steigen und sich zurücklehnen.
Geschafft.
„Es war knapp, ein Haftbefehl auf Sie wurde nur 8 Minuten nach Ihrem Abflug ausgestellt, aber natürlich mit Ihren momentanen körperlichen Eigenschaften und unter falschem Namen...seien Sie vers“

Weiße Wände. Weiße Vorhänge. Weiße Bettbezüge. Ein großer, silberlich weißer Fernseher. Ein Mann und zwei Frauen in Weiß.
Der Mann will mir irgend etwas sagen, ich höre „Kugel“, „plastische Chirurgie“ und „ursprüngliche optische Merkmale“ heraus, aber es interessiert mich zu wenig, als dass ich das ganze verstehen wollte.
Denn hinter ihnen steht er wieder. Er steht wirklich, nicht nur ein Stimme oder ein Schatten, sondern er, ein einziger schwarzer Fleck im gesamten weißen Himmel, in seinem schwarzen Lieblingshemd, den zu weiten schwarzen Stoffhosen und der so verdammt lächerlichen Sonnenbrille, die überhaupt nicht zu seinem Gesicht paßt. Und zwei großen, rot umrandeten Löchern in der Brust, durch die man die Wand sieht.
Er sagt nichts. Er steht einfach nur da und sieht mich an.
Ich will den Arzt fast nach irgendwelchen Tabletten gegen Halluzinationen fragen, aber das wäre dumm, kurz nach einer solch wichtigen Operation darf man keine Schwäche zeigen, will man sicher sein, nicht entbehrlich zu werden, in jedem Geheimdienst.
Ich schließe die Augen und denke an Hawaii.

Als ich die Augen wieder öffne ist es dunkel, durch die zugezogenen Vorhänge fällt nur wenig Licht.
Er ist immer noch da, steht regungslos im Raum und sieht mich an, leise irgendein altes Lied aus unserer Stammkneipe pfeifend. Mein Gedächtnis ergänzt den vermutlich vor Jahrzehnten von einem sturzbetrunkenen Studenten geschriebenen Text ohne meine Bitte darum.

Für die Freiheit kämpfen wir heut,
den Narren wird jetzt heim gebleut.
Schulter an Schulter kämpfen wir, Kameraden,
Auf uns zu schießen sollte keiner wagen,
Dem Tod lachen wir ins Gesicht,
wie dem, der von Versagen spricht.
Denn Freundschaft wird immer siegen.

Nur eine Halluzination, nicht mehr. Ich ziehe mir das Kissen über den Kopf und sage ihm, er soll da ruhig sein.
Das Pfeifen geht weiter.

Die Wochen vergehen, die Wunden heilen, die Besucher kommen und gehen, ebenso Licht und Schatten, nur er und ich bleiben als zwei feste Konstanten im Raum, und das Pfeifen.

Mein Vorgesetzter kommt um mir zu gratulieren, ich habe unserem gemeinsamen Heimatland einen großen Dienst erwiesen, sei ein Held. Die Organisation sei mir zu ewigem Dank verpflichtet, er habe mich für drei Orden vorgeschlagen, einer sei mir bereits sicher.
Ich sehe nur die weiße Wand durch die beiden großen, roten Löcher.

Meine Verlobte kommt um mir zu erzählen, heute morgen sei eine immense Summe auf unser gemeinsames Konto überwiesen worden, und unser Haus auf Hawaii würde bereits gebaut werden, mit einem großen Grundstück, etwas abgelegen, direkt am Strand, genau wie wir es uns immer gewünscht hätten.
Freundschaft wird immer siegen. Ich nicke, kann meine Blicke aber nicht von den Löchern abwenden.

Der Arzt kommt um mich über meinen Heilungsprozeß zu unterrichten, die Wunden würden hervorragend heilen, mein Gesicht wäre vollständig wieder hergestellt, ja, sogar verbessert worden, die Schußverletzung hätte nur ausgeschabt und genäht werden müssen, es sei unglaublich, wie großartig ich mich selbst versorgt hätte unter den Umständen.
Die Löcher bewegen sich nicht, sie bluten nicht, zwei perfekte leere Kreise, nur ein kleiner Knochensplitter, vermutlich von einer Rippe, ragt in das eine hinein.

Ein kleines kahles Mädchen kommt im Rollstuhl an mein Bett und fragt, ob ich ihr in ihr Poesiealbum schreiben könne, wedelt mit einem Stift vor meiner Nase herum und plappert irgend etwas von Gedichten, bis eine Krankenschwester sie entdeckt und sie vehement rügend aus dem Zimmer schiebt, mit gelegentlichen Pause für Entschuldigungen in meine Richtung, sie habe auch keine Ahnung, wie die Kleine hier hereingekommen sei.
Man könnte einen Bleistift durch die Löcher stecken ohne mit ihm irgendwelches Fleisch zu berühren.

Der Psychologe kommt und fragt mich, ob ich irgendwelche seelischen Probleme hätte seit ich zurück wäre, es sei ganz natürlich, wenn man so lange wie ich unter Feinden gewesen sei könne man leicht Irritationszustände oder ähnliches erleiden.
Ich schüttle den Kopf, sehe ihm in die Augen und sage ihm, dass ich keinerlei Probleme hätte und nur möglichst schnell hier raus wolle.
Er habe Verständnis, ich läge ja inzwischen auch schon sehr lange hier und er habe gehört, mein neues Heim sei bereits fertig.

Zwei Tage später spüre ich den Sand unter meinen nackten Füßen, habe einen Arm an der Hüfte meiner Verlobten und sehe unser neues Haus an.
Vier Stockwerke, 17 Zimmer, fast ein Kilometer Grundstück.
„28 Tote, ich habe nachgezählt.“ sagt er.
Ich sage ihr, ich würde sie lieben und sei so glücklich wie noch nie. Es klingt so als wäre es die Wahrheit.
Wir gehen das riesige, weiße Haus hinein, ziehen uns aus und weihen das 3 x 2,50m Wasserbett ein.
Als sie schläft höre ich wieder seine Stimme „7 Minuten 23 Sekunden.... 28 Tote...Fast 800 Jahre Lebenszeit und Erfahrung ausgelöscht.“
„Statistiken interessieren mich nicht, verschwinde“ flüstere ich leise.
„Deine Lösung für alles, nicht wahr? Aber Nein, so einfach mach ich es dir dieses mal nicht.“
„Du bist nur ein Streßsyndrom meiner Psyche.“
„Richtig, aber du redest trotzdem mit mir, oder? Mit deinem toten Kumpel...weißt du, wie man Leute nennt, die mit Toten reden? Wahnsinnig.“
Morgen werde ich mir Medikamente holen.
„Mach dir nichts vor...“
Ich stehe auf, schleiche aus dem Raum und gehe ins Wohnzimmer. Er folgt mir und sieht sich um.
„Schön hast du es hier, muss ich schon sagen...verdammt schön.“
Da steht eine Flasche Schnaps auf dem Tisch, ich schraube sie auf und nehme einen großen Schluck. Er brennt sich bis in meinen Magen hinab und legt einen leichten, weißen Schleier über die Welt. Nicht genug, ich trinke weiter.

Die Zeit vergeht, wie viel weiß ich nicht, Tage, Wochen, Monate.
Die Medikamente helfen nichts, ich hole neue, die auch nichts helfen, ich hole neue...dasselbe gilt für den Schnaps, so viel ich auch trinke, nichts wird besser.
Irgend wann ruft mich mein Vorgesetzter an und sagt, er habe einen wichtigen Auftrag für mich und käme morgen in mein Haus.
„28 und steigend...“
„Sei ruhig:“ Immer noch da...ich nehme mir zwei Tabletten und spüle sie mit ein wenig Wodka runter.
„Tja, das wars dann für die Ruhe, nicht wahr? Ne ganze Menge getötet, aber nicht genug für ihren Geschmack.“
Vielleicht medikamentisiere ich einfach falsch? Zwei rote, zwei blaue, zwei weiße Kapseln, alle in ein Glas geben, mit Wodka übergießen und sturztrinken...
„ Interessante Methode des Selbstmordes...auf was hoffst du, auf die Katharsis?“
Es dreht sich alles...meine Beine geben nach, ich krache gegen das Telefontischchen...er steht über mir und sieht mich mit diesem verdammten Ausdruck im Gesicht an.
„Ja, verdammt, ja, nach der Reinwaschung! Ich will nicht mehr jeden verdammten Morgen aufwachen und einen Mensch im Spiegel sehen, den ich nicht kenne!!!“ Verdammt, ich hätte das Zeug nicht schlucken sollen, ich werde schwach und sentimental.
„Und du denkst, eine erbärmliche Überdosis könnte 28 Menschenleben ausbaden? Oder eigentlich ja nur 27...waren ja zwei Kinder dabei.“
Ich kann ihn gar nicht mehr hören. Ich will nicht, ich werde nicht, ich kann nicht. Ich kauere mich zusammen und bedecke mit meinen Armen den gesamten Kopf.
„Erinnerst du dich noch, der Junge, etwa 10, der seine Cola-Dose in den Mülleimer werfen wollte...dummerweise in den Mülleimer mit deinem Sprengsatz, damals, bei der Parade...hab gelesen, sein Kopf sei 14 Meter weiter weg wieder aufgekommen und geplatzt wie eine überreife Melone, aber wieso erzähl ich dir das, du hast es ja selbst gesehen.“
12 Meter, es waren höchstens 12 Meter.
Nichts hören, nichts denken, nichts fühlen. Tot sein, bis er ruhig ist.
„Und dann natürlich noch den Säugling, den der Minister für die Kameras küssen wollte...genau vor allen lebenswichtigen Organen hat er ihn gehalten, nicht wahr? Zu dumm...PENG, PENG.“
Er lügt nicht, aber spricht auch nicht die Wahrheit, das war nicht ich.
Das war dieser andere Typ, den ich für ein paar Jahre im Spiegel gesehen habe, aber nicht ich. Ich bin nur ein friedlicher Bürger, in einem großen, teuren Haus mit einer schönen Frau und viel Glück.
„Designermöbel, Schönheitschirurgie und 2 Stunden täglich am Strand liegen waschen dich nicht von Morden rein, das solltest du wissen.“
„WAS DANN?!?“ Zu laut, zu weinerlich, einfach falsch...ich sollte nicht fragen, ich sollte es nicht wissen wollen...aber ich bin plötzlich so verdammt schwach. Irgendeine warme Flüssigkeit läuft mir über die Wangen und meine Sicht verschwimmt als er zum ersten mal seit meiner Ankunft die Sonnenbrille abnimmt und lächelt.
„Jetzt können wir reden...“

Der Vorgesetzte kommt 20 Minuten vor seiner Ankündigung, aber ich hatte mit 30 gerechnet und bin schon vorbereitet.
Er trägt einen weiten Anzug aus beschem Stoff und eine Sonnenbrille. Als er mich sieht lächelt er. Seine beiden Wachen tun es nicht.
Ich will es nicht tun, aber es muß sein. Er hat mir einen exakten Plan vorgelegt, wie Rache zu nehmen ist. Es liegt alles bereit. Aber ich will es nicht tun.
Wir begrüßen uns, ich fordere ihn auf, sich zu setzen. Die Wachen bleiben stehen.
„Sie sehen gut aus!“
„Sie ebenfalls, danke.“
Austausch von Freundlichkeiten und Vorgeplänkel.
„Und, wie geht es ihrer Frau?“
„Gut, gut, sie ist sicher draußen am Strand und sonnt sich, und der eigenen?“
„Gut. Inzwischen bin ich sogar Großvater geworden.“
Natürlich keine Fotos des Kindes, aber irgendwie freue ich mich trotzdem für ihn. Er war mein Ausbilder, wir kennen uns seit Ewigkeiten, und in einem gewissen Maße ist er für mich zu einer Art Zweitvater geworden.
Ich will es nicht tun. Egal, wer es mir befohlen hat, ich will es nicht tun.
„Heute nacht hatte ich wieder Albträume. Ich sah, wie 28 Menschen starben. Viele von ihnen wurden von Kugeln durchschlagen, großen, tödlichen Kugeln, die auf einer Seite mit winzigen Löchern eintraten und auf der anderen Seite gemeinsam mit mehreren Pfund Fleisch wieder austraten, nachdem sie Knochen und Organe durchdrungen hatten. Andere wurden von Bomben zerrissen, ihre Körperteile über große Flächen verteilt, ihr Körperfett innerhalb von Sekunden verbrannt...aber Sie kennen das ja alles, oder?“
„Haben Sie seelische Probleme? Sie wissen, Sie können mit mir offen reden...“
„Nein, oder zumindest haben die nicht damit zu tun...was ich sagen will ist, ich will nicht mehr töten. Nie wieder...“
Der Vorgesetzte sieht mich eine Zeit lang still an, mit einer gewissen Fassungslosigkeit in den Augen, dann dreht er sich zu einer Wache um und fordert dessen Zigarettenschachtel.
„Verstehe“ sagt er, holt zwei Zigaretten aus der Schachtel, gibt mir eine und zündet sie beide an.
Er starrt seine Glut für eine Sekunde an, nimmt dann einen Zug und sieht mich an. „Lustig, ich hatte für über ein Jahr aufgehört, wissen Sie...“
Ich erwidere den Blick und nicke.
Seine Augen wandern von meinen fort und suchen den völlig leeren Tisch ab, dann beginnt er zu nicken, erst unmerklich, dann bestimmter und sieht mich wieder an.
„Sie sind sich sicher?“
„Ja.“ Ich nehme einen Zug und fühle mich wie nie zuvor in meinem Leben.
„Nun...dann...“ Er zögert, sein Gesicht zeigt Bedauern. „werde ich den Auftrag wohl einem anderen geben müssen, schätze ich...“ Seine Hand streckt sich nach meiner aus „ich verliere Sie verdammt ungern, Sie waren mein bester Schüler...“
Ich nicke und schüttle die Hand.
Er steht auf und verläßt mit seinen Wachen das Haus.
Ich drehe mich um, aber er ist nicht mehr da. Nirgends. Er ist weg!
Ich setze mich an den Tisch, nehme einen weiteren Zug an meiner Zigarette und grinse in den Spiegel.
Nie wieder Mord, nie wieder unter Zwang stehen, endlich frei.
Ich grinse, muss aber plötzlich stutzen.
Aus dem Kopf meines Spiegelbildes steigt Rauch. An zwei Stellen.
Das Fenster neben mir ist zerbrochen.
Eine Nanosekunde später, während ich ohne jegliche Möglichkeit mich zu bewegen auf den Boden falle, sich meine Muskeln alle auf einmal verkrampfen und dann erschlaffen, höre ich zwei laute Explosionen.
Eine Kugel ist schneller als der Schall...ein guter Geheimdienst läßt nie Zeugen zurück...
Ich würde gerne fluchen, aber meine Stimme versagt.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi maledictus,

erstmal - die Geschichte gefällt mir echt gut. Der psychische Zusammenbruch ist mE sinnvoll dargestellt und steigert sich im richtigen Maß.
Auch der Spannungsaufbau lässt einen mitfiebern (schafft er es raus? wie geht er mit dem 'Geist' um?) und obwohl der Agent Menschen tötet, schlägt man sich beim Lesen trotzdem auf seine Seite - vor allem im Kampf mit seinem Gewissen.

Ich habe mir die Geschichte ausgedruckt und gebe deswegen mal ein, zwei Sachen an, die mir aufgefallen sind:

- Manchmal schreibst Du Sätze zu lang - so, daß man Mühe hat, den ganzen Verschachtelungen zu folgen. Z.B.:
Da fällt vor allem der Satz "Da helfen weder die zwanzig Tauglichkeitstest..." auf, am Anfang. Ab und zu würde ich einige Punkte mehr setzen. Der Zusammenhang bleibt ja bestehen.

- Ab und zu einige Rechtschreibfehler, z.B.:

Durch dem Türspalt
Durch den...
er meidet es, von anderer gesehen zu werden
...von anderen...
was es das Wert
War es das wert?

- Manchmal ist weniger mehr: ;)

das 3 x 2,50m Wasserbett ein
vielleicht einfach 'das große...'

Zahlen sollten auch ausgeschrieben werden.

An einigen Stellen habe ich mich gewundert, dass er mit einer Schußwunde so agil ist, dass er so selten über den Schmerz klagt. So wirkt es ab und an etwas unglaubwürdig.

Ansonsten sind vor allem die beiden Charaktere echt gut gezeichnet und in ihren Gedanken glaubwürdig. Der anfängliche Monolog - seine Rechtfertigung, warum er die Freundschaft einging - ist echt klasse. Auch das Ende - für ihn wohl das einzig Akzeptable. Mit seiner Schuld konnte er nicht weiterleben, denn ich glaube, unterbewusst hat er mit der Reaktion seiner Arbeitgeber gerechnet - oder?

:thumbsup:

Gruß, baddax

 

Hallo maledictus,

interessante Geschichte. Hat mir ganz gut gefallen, wenngleich ich die erste Hälfte spannender fand als die zweite. Den Teil in der Klinik (mit den vielen Konjunktivsätzen) fand ich ein bisschen lang.

Geschichten, die im Präsens geschrieben sind, lese ich an sich nicht so gerne (vor allem längere Geschichten; einen Roman im Präsens würde ich mir, glaub ich, gar nicht antun). Hier passt es aber einigermaßen. Ist sicherlich Geschmackssache.

Bei den teilweise arg langen Sätzen kann ich baddax nur zustimmen. Manchmal ist es ein bisschen viel.

Ein paar Wortwiederholungen haben sich in deine Geschichte eingeschlichen:

...die Kugeln durchschlagen ihn scheinbar ohne langsamer zu werden. Sein Körper bricht zusammen und schlägt mit einem dumpfen Laut...
Die Formulierung mit den Kugeln, die scheinbar nicht langsamer werden, hat mir nicht so gut gefallen. So was kann man mit menschlichem Auge doch nicht sehen, oder?
Wortwiederholung "schlagen" evtl. vermeiden.

...ich ramme ihm das Messer tief in die Kehle, noch nicht einmal einen Schrei bekommt er noch hervor...
Ein "noch" zuviel.

Der Pilot des Fluges begrüßt alles Passagiere des Fluges...

Mein Gesicht lächelt ein wenig und die Schmerzen sind so gut wie vergessen. Bald bin ich zu Hause. Ich lehne mich zurück, schließe die Augen ein wenig und...

Mein Vorgesetzter kommt um mir zu gratulieren, ich habe unserem gemeinsamen Heimatland einen großen Dienst erwiesen, sei ein Held.
Der erste Konjunktiv war für mich ein bisschen missverständlich.

...und meiner baldigen Frau...
"künftige Frau" ist mir geläufig, aber "baldige" ... ?

Anzug aus beschem Stoff
"beigefarbenem"

Die vielen Zahlen würde ich ausschreiben.

Wie gesagt: Gute Geschichte.

Viele Grüße

Christian

 

Tag beide,
erstens, herzlichen dank für die Antworten.
So, wo anzufangen?
Danke für die Recthschreibekorrekturen, da ich meine Geschichten im Schnitt über maximal 36 Stunden hinweg schreibe und danach selbst nie mehr lese, da ich das Zeug dann gewöhnlich als Schrott deklariere und jede Weitergabe an andere abwürge, sind wohl meine meisten Sachen da verbesserunsgbedürftig.
Das mit meinen Schachtelsätzen ist generell ein problem von mir, in dem fall aber insofern beabsichtig, als dass ich damit die beinahe maschinellen Denkstrukturen des Agenten zu Anfang der Geschichte hervorheben wollte.
Beim "Realismusgrad" habe ich lange gehadert, mich dann aber für den Halb-Actionfilmstil entschieden. Zum einen weil ich zu dem zeitpunkt riesiger Hong Kong-Filmfan war, zum anderen weil das ganze mein Beitrag zum Agentthrillergenre sein sollte (hatte damals den im nachinein irgendwie niedlichen Gedanken, zu jedem irgends populären Genre eine Geschichte zu schreiben, um meinen Sti zu erweitern...irgendwo da in der Gegend liegen knappe 30 Storyleichen).
Andererseits wollte ich auch keine "coole" Gewalt im Stile von "Matrix", daher die (dann irgendwann zur allgemeinen Gewohnheit gewordenen) etwas drastischen Gewaltszenen.
Die Geschichte ist etwas über 2 Jahre alt und bedürfte sicher einer Aufmöbelung (ich hab irgendwann für ein englisches Kurzgeschichtenboard eine wesentlich schlechtere, längere und actionlastigere Version angefangen, die allerdings in genau die falsche Richtung ging), für weitere Vorschläge und Anregungen wäre ich dankbar.
Cheers, Bene

 

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