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Der abendliche Besucher
Draußen klopfte es erneut. Sam zuckte leicht zusammen und wischte sich die strähnigen Haare aus der Stirn. Der Sturm, welcher am frühen Morgen eingesetzt hatte, fegte mit einem lautem Pfeifen um das alte Blockhaus.
Vor zwei Tagen hatte es angefangen zu schneien und seit dem nicht mehr aufgehört. Mittlerweile war die Landschaft mit einem weißen Teppich überzogen, der hier und da gewaltige Beulen in Form von meterhohen Schneewehen bildete. Und selbst durch das laute Heulen des Sturmes hindurch war das unheimliche Klopfen an der Tür nicht zu überhören.
Sam leerte das Glas Jack Daniels und schenkte sich aus der Flasche, die vor ihm auf dem Tisch stand, erneut ein. Seit etwa einer Stunde saß er jetzt hier am Tisch und zuckte bei jedem Klopfen zusammen. Vor einer halben Stunde hatte er mit dem Whiskey angefangen, aber bis jetzt verspürte er noch nicht die geringste Wirkung.
Wieder klopfte es, und wieder zuckte er zusammen. Seine rechte Hand krampfte sich um das Glas, so daß seine Fingernägel weiß wurden.
„Es ist niemand zu Hause“, murmelte Sam vor sich hin. „Es ist, verdammt noch mal, niemand zu Hause. Warum verschwindest du also nicht?“ Sam flüsterte in die Faust vor seinem Mund. Niemand hätte ihn so verstehen können, nicht einmal, wenn er direkt neben ihm gesessen hätte. Doch irgendwie wollte Sam auch nicht, daß der abendliche Besucher ihn verstand. Sam wußte, es hätte eh nichts genutzt.
Seit einer Stunde klopfte es jetzt in schon fast regelmäßigen Abständen an seiner Tür. Und seit dieser einen Stunde stand da draußen jemand in dem eisigen Schneesturm und wartete darauf, daß Sam die Tür öffnen würde. Er nahm die Faust von seinem Mund, und ein langer Speichelfaden versuchte die Verbindung aufrecht zu erhalten, zerriß aber kurz darauf und bildete an Unterlippe und Zeigefinger jeweils einen kleinen blasigen Tropfen.
TOCK – TOCK – TOCK!
Sam schluckte und schüttete nach. Er würde, wenn es sein mußte, die ganze Flasche leer trinken. Und sollte das immer noch nicht reichen, hatte er noch eine weitere im Schrank. Doch insgeheim wußte er auch, daß das alles nichts nutzen würde. Der Fremde würde weiterklopfen, immer weiterklopfen; und wenn Sam aus seinem Rausch erwachte, würde er immer noch klopfen, und zwar solange, bis Sam die Tür aufmachte ... Und dann?
Sam bekam einen erneuten Schweißausbruch und trank wieder.
TOCK – TOCK – TOCK!
Aber vielleicht stand dort draußen ja wirklich nur jemand, der ihm eine wichtige Nachricht überbringen wollte?! Sam mußte bei dieser Vorstellung selber grinsen. Er sah vor seinem geistigen Auge einen armen Briefträger, der steif gefroren vor seiner Tür stand, ein ach so wichtiges Telegramm in der rechten Hand; und mit der linken Hand klopfte er bitterlich weinend an die alte Holztür, so daß bei jedem Schlag einer seiner steifgefrorenen Finger abbrach und in den Schnee zu seinen Füßen fiel.
Nein, Sam wußte, wer da draußen stand und von ihm hereingelassen werden wollte. Er war nach dem ersten Klopfen an das kleine Fenster gegangen, welches sich etwa drei Meter rechts neben der Tür befand. Von hier aus konnte man die zwei Stufen vor der Haustür gut erkennen; und wenn nicht jemand direkt vor der Tür stand, was bisher noch nie vorgekommen war, sondern auf eine der beiden Stufen, dann konnte Sam ihn sehen. Er blickte vorher immer aus diesem Fenster, um ungebetenen Gästen erst gar keinen Anlaß zu geben, ihn mit irgendwelchem langweiligen Gelaber zu nerven.
Als Sam hinaus gesehen hatte, war er erschrocken zurückgewichen. Die Schneeflocken peitschten gegen die Fensterscheibe, und er hatte das Gefühl, als säße er in einem Raumschiff und flog mit Lichtgeschwindigkeit durch einen gewaltigen Meteoritenschwarm. Als er dann wieder hinaus sah, konnte er die beiden Stufen kaum erkennen; das dichte Schneegestöber nahm ihm fast die ganze Sicht. Er kniff ein wenig die Augen zusammen und schirmte sein Gesicht mit den Händen ab.
Doch da stand niemand auf den Stufen!
Der abendliche Besucher mußte sich wohl doch dicht an die Tür gepreßt haben. Sam hatte also keine Möglichkeit, seinen Besucher vorher zu sehen, er mußte wohl oder übel die Tür öffnen. Er war bereits auf dem Weg dorthin gewesen, und seine Hand hatte bereits den Türgriff berührt, als er abrupt innehielt. Irgendwas hatte er draußen gesehen, das nicht stimmte. Er wußte nicht, was es war, aber ihm lief trotzdem ein eiskalter Schauer über den Rücken.
Langsam war er noch einmal zurück zum Fenster gegangen; und im selben Moment hatte es erneut geklopft.
Sam hatte es gar nicht gehört und schaute hinaus. Er sah wieder niemanden auf den Stufen und wieder schlugen die Schneeflocken gegen die Scheibe, als wollten sie ihn angreifen. Was war ihm vorhin aufgefallen? Was stimmte hier nicht? Er blickte geradeaus und sah verschwommen seinen Jeep am Zaun stehen. Hier oben konnte man sich bei solch einem Wetter nur mit einem Jeep oder einem Schneemobil von der Stelle bewegen.
Heute früh war er noch unten im Ort gewesen und hatte einige Besorgungen gemacht, denn Sam wußte, wenn es hier oben einmal anfing zu schneien, konnte es durchaus sein, daß die Zufahrtsstraßen für mehrere Tage unbefahrbar waren. Und dann nutzte auch der schönste Allradantrieb nicht mehr viel.
Er sah noch die tiefen Spuren, die der Jeep in den Schnee gedrückt hatte. Sie waren schon fast zugeschneit, und es würde nicht mehr lange dauern, bis man meinen konnte, der Wagen wäre seit Tagen nicht mehr bewegt worden.
Und im selben Moment wußte Sam, was ihm vorhin aufgefallen war. Es waren die Spuren! Es waren die Fußspuren seines Besuchers! Diese waren nämlich nicht vorhanden ...
TOCK – TOCK - TOCK!
Jetzt saß Sam hier in seiner alten Blockhütte mit dem offenen Kamin in seinem Rücken, und er wußte genau, wer da draußen klopfte.
Es war der Tod! Der Tod klopfte an seiner Tür, weil seine Zeit gekommen war. Ja, das war es! Das wußte er genau! Sam war zwar erst 56, aber irgendwann trifft es jeden, den einen früher, den anderen halt später.
Das hatte ihm, als er noch ein kleiner Junge war, bereits sein Großvater erzählt. Sam konnte sich noch genau an jenen Abend erinnern, als er bei seinem Großvater saß, und dieser sich mit ihm über das Sterben unterhalten hatte.
Sam hörte seinem Großvater gerne zu, wenn dieser etwas erzählte. Das jeweilige Thema war eigentlich ziemlich unwichtig, aber Großvater konnte sehr spannend erzählen. Und an diesem Abend war es sogar recht gruselig. Großvater erzählte ihm etwas über den Tod selbst. Er beschrieb ihn als einen großen schwarzen Mann in einem schwarzen Gewand mit schwarzer Kapuze, welche tief in sein knochiges Gesicht gezogen war.
Sam wußte noch genau, wie er erschauderte, als Großvater sich in seinem Schaukelstuhl vorbeugte und leise weitersprach: „Und dann erkennst du ihn noch an der riesigen, messerscharfen Sense, mein Junge. Damit holt er sich jeden! Und irgendwann einmal, wenn deine Zeit gekommen ist, wird es an deiner Haustür klopfen und er wird davor stehen und warten. Er wird klopfen und warten.“ Großvater hatte sich noch ein bißchen weiter vorgebeugt und den letzten Satz beinahe geflüstert: „Er wird klopfen und warten, bis du ihn hereinläßt ...“
TOCK – TOCK – TOCK!
Ein brennender Ast im Kamin brach mit einem lauten Knacken und glühende Funken verteilten sich auf dem Holzfußboden. Doch Sam spürte die Hitze nicht, die aus dem Kamin heraus auf ihn einstrahlte. Er hielt sein Glas mit beiden Händen fest umklammert und starrte in den dunkelbraunen Inhalt.
TOCK – TOCK – TOCK!
Und jetzt war es tatsächlich soweit. Jetzt stand er vor Sams Tür. Hier oben in den Bergen, wo Sam niemand zur Hilfe kommen würde. Er könnte sich die Lunge aus dem Leib schreien, es würde niemand kommen. Und schreien würde er mit Sicherheit, daß wußte Sam, denn er konnte sich lebhaft vorstellen, daß das Bearbeiten des Körpers mit einer messerscharfen Sense doch recht schmerzlich sein mußte. Sam würde genauso laut schreien, wie der Junge damals geschrieen hatte. Damals vor genau zweiunddreißig Jahren ...
Sam führte das Glas wieder zum Mund und ließ den brennenden Inhalt seine Speiseröhre hinunterlaufen.
Warum hatte der Junge nicht einfach sein Maul gehalten? Hätte er nicht angefangen, wie ein Irrer um Hilfe zu schreien, wäre doch gar nichts Schlimmes passiert, und Sam hätte nicht mehr als die Hälfte seines Lebens in einem elendigen Gefängnis verbringen müssen. Aber eigentlich mußte er ja froh sein, daß in diesem Bundesstaat die Todesstrafe abgeschafft worden war. Ansonsten wäre ihm sein jetziger Besucher mit Sicherheit schon eher gegenüber getreten.
TOCK – TOCK – TOCK!
Sam schüttete den letzten Rest aus der Flasche in sein Glas. Er sah wieder das entsetzte Gesicht des Jungen vor sich. Wie alt mochte er gewesen sein? Vielleicht fünfzehn oder sechzehn? Sam wußte es nicht mehr genau, obwohl es während der nicht enden wollenden Gerichtsverhandlung bestimmt hundert Mal erwähnt worden war.
Okay, es wäre auf jeden Fall Verführung eines Minderjährigen gewesen, aber der Junge zeigte ja vorher nicht im Geringsten, daß er es nicht auch wollte. Als sie sich in dieser alten Kneipe kennengelernt hatten, war er keinesfalls abgeneigt gewesen, auf Sams Kosten einen Whiskey nach dem Anderen zu trinken, und als sie dann später durch den Park gingen, lachend und leicht torkelnd, hatte Sam seinen Arm um dessen Schultern gelegt. Und auch da machte der Mistkerl nicht den Anschein, als hätte er etwas dagegen einzuwenden. Nein, er tat es Sam sogar gleich. Und als Sam dann seine bartlose Wange küßte, hätte er ja schließlich auch etwas sagen können ...
TOCK – TOCK – TOCK!
„Laß mich in Ruhe, verdammt noch mal!“ Sam schrie die kahle Holztür an. „Ich habe doch bezahlt! Ich habe für diesen ganzen Mist mit dreißig Jahren meines Lebens bezahlt!“ Er starrte wieder in sein Glas.
Der Junge hatte sich von Sam auf eine kleine Lichtung, umgeben von dunklen Sträuchern, führen lassen, und als sie dort eng umschlungen, ihre Zungen miteinander ringend, dastanden, hatte Sam dessen Erektion an seinem Schenkel gespürt. Er war hinabgetaucht und hatte ihn mit dem Mund bearbeitet. Und als der kleine Schwanz des Jungen zuckend seinen heißen Inhalt in Sams Mund ergoß, wäre er um nichts auf der Welt auf den Gedanken gekommen, es hätte ihm nicht gefallen.
Doch als Sam dann seinen Gürtel öffnete und den Jungen umdrehen wollte, fing dieser auf einmal an Zicken zu machen. Und auf so etwas stand Sam ja gar nicht! Der Scheißkerl hatte seinen Orgasmus gehabt und Sam sollte leer ausgehen. Es hatte Sam dann keine großen Schwierigkeiten bereitet, den Jungen zu Boden zu drücken, und als er dann in ihn eindrang, fing das Schwein an, um Hilfe zu schreien. Sam hatte ihm noch den Mund zugehalten, während er hart zustieß, doch der Kerl biß ihm in die Hand.
Und dann hatte Sam zugeschlagen. Er wußte gar nicht, woher auf einmal dieser Stein in seiner Hand gekommen war. Und als dieser Stein dann die Schädeldecke des Jungen zertrümmerte und Teile seines armseligen Gehirns freilegte, kam auch Sam zum Orgasmus. Und zwar zu einem Orgasmus, wie er ihn bis dahin noch nie erlebt hatte.
TOCK – TOCK – TOCK!
Es hatte lange gedauert, bis man ihm diese Tat nachweisen konnte. Die zwei Jahre bis zu seiner Festnahme hatte Sam damit verbracht, seinen bis dahin besten Orgasmus zu wiederholen. Nur war er bei den acht anderen Opfern schlauer gewesen. Er hatte sie vergraben. An unterschiedlichen Orten, in unterschiedlichen Städten.
Es wurden zwar immer wieder irgendwelche männlichen Jugendliche als vermißt gemeldet, doch hatte man sie nie gefunden. Und dann meldete sich auf einmal so ein Blödmann, der Sam und den ersten Jungen zusammen in der Kneipe gesehen hatte.
Und dessen Aussage hatte Sam für dreißig Jahre aus dem öffentlichen Leben entfernt. Dreißig Jahre unter schwitzenden Männern, dreißig Jahre Prügel und Vergewaltigungen von Zellengenossen und geilen Wärtern. Denn Kinderschänder waren selbst unter Mördern nicht besonders hoch angesehen, und das ist noch harmlos ausgedrückt.
Sam hatte bereut. Er hatte dreißig Jahre lang bereut und seine perverse Geilheit verflucht. Er hatte einen Selbstmordversuch überlebt, und hatte sich mehreren psychiatrischen Behandlungen unterzogen. Er hatte sogar regelmäßig den Gefängnisgottesdienst besucht und einmal in der Woche eine Beichte abgelegt.
Und irgendwann, nach dreißig Jahren Reue und Buße, hatte man ihn entlassen.
TOCK – TOCK – TOCK!
„Verschwinde doch endlich!“ Sam schrie, holte aus und schleuderte das noch halbvolle Glas gegen die Tür. Es zerbarst und hinterließ auf dem rauhen Holz einen dunklen Fleck. Er erinnerte Sam an einen zerplatzten Schädel.
TOCK – TOCK – TOCK!
Die Abstände wurden immer kürzer, und Sam preßte die Fäuste auf seine Ohren. „Oh bitte laß mich doch in Ruhe, bitte!“ Er wimmerte. „Laß mich doch noch ein paar Jahre auf dieser Welt, ich habe doch noch nicht viel davon gesehen ...“
Jetzt weinte Sam, und er wußte gleichzeitig, daß er seinen Besucher dadurch nicht im geringsten von seiner Tat abhalten konnte.
TOCK – TOCK – TOCK!
Mit tränenverschmierten Augen stand Sam auf. Sein Großvater hatte damals recht gehabt; wenn der Tod seine Sense geschliffen hatte, gab es kein Zurück mehr. Und es hatte auch keinen Sinn zu versuchen, seinem vorbestimmten Schicksal zu entkommen.
Er ging schlurfend zur Tür und seine Hände zitterten, und Sam verspürte auf einmal das dringende Bedürfnis, die Toilette aufsuchen zu müssen.
TOCK – TOCK – TOCK!
Sams zitternde Hand faßte nach dem Türgriff. Es hatte keinen Sinn. Er stieß einmal hörbar seinen whiskeydurchsetzten Atem aus, und dann drückte er den Griff hinunter.
Eine stechend kalte Armada aus Schneeflocken und eisigem Wind stieß ihm entgegen, und Sam kniff die Augenlider zusammen. Die eisige Kälte erreichte augenblicklich jede Pore seines Körpers, und Sam hatte das Gefühl, sämtlicher Schweiß würde sekundenschnell gefrieren und seine Haut mit einem dünnen Panzer aus Eis umziehen.
Die Tür wurde ihm aus der Hand gerissen und schlug mit einem gewaltigen Knall gegen die Wand. Sam wich zurück und öffnete die Augen.
Zuerst erkannte er nur Schneeflocken, die auf sein Gesicht zujagten, als wären sie kleine Raketen, die in ihr Ziel einschlugen. Und inmitten dieser winzigen Flugkörper stand eine Gestalt!
Das heißt, sie stand eigentlich gar nicht, ihre Füße schwebten etwa einen halben Meter über dem Boden. Sam stolperte zurück. Ein Ruck ging durch die Gestalt, und sie schwebte langsam über die Türschwelle.
Ein langer Speichelfaden wandte sich über Sams Unterlippe und verwandelte sich in eine grotesk aussehende Liane, die fast bis zu seinem Brustkorb hinabreichte.
Die Gestalt hatte jetzt den Innenraum erreicht, und noch immer schwebte sie in der gleichen Höhe, als würde sie von einem unsichtbaren Luftkissen getragen.
Sam begann zu wimmern, wie ein kleines Kind. Vor ihm stand
- schwebte -
der junge Anhalter, den er heute früh auf seinem Weg aus der Stadt mitgenommen hatte, und dessen Blut jetzt noch immer auf dem Armaturenbrett seines Jeeps kleben mußte. In der linken Schädeldecke klaffte ein etwa faustgroßes Loch, und eine dunkelrote Masse hatte sich über die halbe Gesichtshälfte verteilt. Gefrorene Blutstropfen hingen wie winzige Stalaktiten von seinem Kinn herab, und sein toter Gesichtsausdruck war starr auf Sam gerichtet.
Sam schrie und taumelte weiter zurück. „Ich habe doch gebüßt! Ich habe doch für alles gebüßt!“
Dann begann er wie irre zu lachen ...