- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 8
Depressionen
Ich wache auf. Es ist acht Uhr. Die Schule beginnt um acht. Das trifft sich nicht gut. Sofort eile ich ins Badezimmer, welches abgeschlossen ist. „Hallo, ich muss zu Schule, Mama?“
Kein Ton. In mir staut sich eine gewisse Unzufriedenheit auf, ich bin unpünktlich, ich komme nicht ins Bad, ein unerträgliches Gefühl. Viel wichtiger ist jedoch, warum Mama sich im Bad eingeschlossen hat und keinen Mucks von sich gibt. Erneut versuche ich, auf mich aufmerksam zu machen, ohne Erfolg. Keine Antwort. Was soll ich jetzt machen? Die Tür eintreten? Das geht wohl schlecht.
Auf einmal höre ich ein drängendes Hupen von unten, vor der Wohnung. Es ist Opa. Der bringt Mama morgens immer frische Eier, nachdem ich längst weg bin. Jetzt, da ich noch da bin, meine Mutter jedoch wohl im Bad, öffne ich ihm die Tür. Dieser kommt langsam und ächzend die Treppe hoch, unter seinem Arm zwei volle Kartons Eier. Verfallsdatum: 23.07.2016, noch gut drei Wochen.
„Was machst du denn hier, Tim? Müsstest du nicht in der Schule sein und lernen?“ fragt Opa Reinhard, dessen Wangen aussehen wie reife Tomaten. Ich erkläre ihm die ganze Situation, er ist verblüfft. Auch er fragt sich, wo Mama ist und was im Bad vor sich geht. Da fällt mir ein, dass Mama immer für jeden Raum einen Notfallschlüssel hat, für Notfälle halt, der für das Badezimmer war jedoch gut versteckt, weil ihrer Meinung nach „Das Badezimmer ein sehr intimer Ort zur persönlichen Selbstfindung“ ist. Was das bedeutet, obliegt ihr. Bloß wo ist der Schlüssel? Eventuell ist er in der kleinen Schatulle, die in Mamas Schlafzimmer unter der rechten Kommode liegt.
Der Schlüssel ist da nicht, jedoch eine seltsame Telefonnummer: 0726/882421, was das wohl zu bedeuten hat. Ich traue mich nicht, anzurufen. „Opa, kannst du anrufen?“ Er nickt leicht und nimmt den Hörer in die Hand und tippt ein. Ein paar Sekunden vergehen, bis das Freizeichen zu hören ist, sofort darauf nimmt eine schrille Frau ab: „Deutsche Depressionshilfe, Sie sprechen mit der Projektleitung, Guten Tag!“, Opa sagt, er habe sich verwählt und legt auf. Kurzer Hand entschließen wir uns, die Tür des Bads einzutreten, wir stellen uns davor, und Opa zählt: „1 – 2 – 3!“ Sofort ist die Tür offen, auf dem Boden liegt Mama. Ihr Kopf blutig, in der rechten Hand eine Pistole. Ich falle erschüttert und voller Trauer auf den Boden, Opa nimmt mich in den Arm, es herrscht eisernes Schweigen, mehrere Minuten lang. Ich habe nicht gemerkt, wie sie litt. Keiner von uns.
Der Notruf wurde kurze Zeit später alarmiert. Sie trugen Mamas leblosen Körper raus, im Bad verblieben Blutstreifen auf dem Boden, die Pistole blieb ebenfalls liegen. Ich schloss die Tür von außen, Opa blieb noch etwas, bis er zu einem sehr wichtigen Termin musste. Ich wusste, dass er das kann, sagte es ihm auch, er verschwand mit einem kümmerlichen Blick, der vom Tod seiner Tochter gezeichnet war. Ich setzte mich auf die Couch. Die ersten zehn Minuten hoffte ich, dass es ein Traum war, das war es aber nicht. Ich dachte nach und dachte nach. Ich wollte einfach nur noch schlafen und nicht aufwachen.
Das Leben kann grässlich sein ...