Denn der Wind kann nicht...
Denn der Wind kann nicht lesen…
Ein heftiger Platzregen - schwer und kalt. Blitze flammen durch die unnatürliche Dunkelheit. Ein alter Mann steht verloren am Grab seiner Lebensliebe. Man könnte glauben, die regenschwere Kleidung beuge ihn noch mehr. Seine Tränen strömen mit denen des Himmels über das gebräunte Gesicht. Es scheint, als tröste es ihn, dass auch die Welt weint.
Ähnliche Szenen hat Ernst in vielen Filmen gesehen. Doch heute entscheidet sich das Leben gegen jeden Kitsch: Dunst hängt über den Friedhofsflächen und die Sonne brennt schon am frühen Morgen unerträglich. Im gleißenden Licht verschmelzen Konturen von Kapelle, Bäumen und Grabmalen zu einem über-belichteten Bild. Und mittendrin steht er. Der Kopf schmerzt. Ernst ist seit Tagen wieder einmal nüchtern. Die Hitze presst alle Gedanken zusammen. Trotzdem erinnert er sich:
1959! In diesem Jahr hatte Margarethe sich in ihn verliebt. Damals, an einem Abend im März, waren sie im Kino: „Denn der Wind kann nicht lesen“; ein trauriger Film. Auf dem Heimweg hatte er dagegen eine freudige Nachricht: „Margarethe, lass uns noch feiern gehen. Ich kann für ein Jahr nach Australien!“ Sie wurde noch trauriger. An Bord der M.V. Aurelia erreichte er fünf Wochen darauf erreichte er Sydney.
Nur zwei Monate später vergaß er, dass er nicht schwimmen konnte und sprang für Diana von einem Zehn-Meter-Turm ins Wasser. Doch schon bald lernte er Amber kennen - dann Sandy, Kathy, Jill und schließlich Susan. Mit ihr blieb er zusammen. Aus einem Jahr Australien wurden - zweiundfünfzig!
Ernst weiß nicht, wo genau Margarethes Grab ist. Er schließt seine Augen und spürt tief in sich hinein. Trotz der brütenden Hitze fühlt er eine alte Wärme, die er nie vergessen hat. Er geht los.
Es ist nicht so, als ob ihm seine australischen Beziehungen nichts gegeben hätten. Im Gegenteil: Diana war viel älter als er und aufregend lehrreich. Sie mochte seine kraftvolle deutsche Art. Doch bald langweilte sie sich mit ihm. Amber dann, war gebildet und elegant. Sie hatte Geld und bezahlte ihm eine Privatschule. Ernst interessierte sich jedoch mehr für die Filmwelt. Lernte Sprache lieber im Kino von den Stars aus Hollywood. Er brach die Schule ab - Amber darauf die Beziehung. Nach einigen kurzweiligen Affären, lernte er Susan kennen. Sie bauten sich ein Programmkino auf. Mit dreißig Plätzen und sechs Notsitzen. Viele Jahre betrieben sie es erfolgreich. Doch er zeigte immer seltener aktuelle Filme und es liefen nur noch eine handvoll Klassiker. Schließlich reichten die Notsitzplätze für die Vorstellungen aus. Oft schaute er ganz alleine die alten Schinken. Und wenn sich doch ein verliebtes Pärchen in eine Vorführung verirrte, beobachtete er verstohlen seine Gäste, die in den meisten Fällen ebenfalls nichts von dem Film mitbekamen. Susan verließ ihn. Auch ein neues Filmprogramm konnte das nicht verhindern. Und so kehrte er zurück nach Deutschland. Wieder auf einem Schiff. Als ob er mit der Umkehrung des Hinweges auch die Zeit zurückdrehen könne.
Doch Margarethe war vor zwei Jahren verstorben.
Und jetzt steht er tatsächlich vor ihrem Grab. Ernst liest die Inschrift auf dem schlichten Stein:
Wenn auch die Worte geschrieben sind: „Nicht pflücket die Blüten! Sie sind lebend Wesen!“ Doch diese Zeichen vermögen nichts wider den Wind, denn der Wind kann nicht lesen.
In schlechten Filmen würde ein alter Mann nun am Grab niedersinken, es würde aufhören zu regnen und der Horizont wäre in versöhnliches Licht getaucht.
Doch so ist das Leben nicht.