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Denen wir folgen
Die Menschenschlange zog sich über den weißen Marktplatz. Der Winter hatte die Stadt erwischt und eine dicke Schneeschicht auf ihren Dächern hinterlassen.
„Wenigstens haben die auf die Sonne verzichtet. Unser letztes Licht. Es ist so kalt!“, sagte Paul. Ein dichter Nebel entstand vor seinem Mund.
Alle nickten betrübt.
Die jungen Männer standen eng zusammen um sich Wärme zu schenken.
„Ja die kann uns aber auch nicht am Leben halten. Wir bekommen nicht mehr als diese dünnen blauen Pullover!“, antwortete Mark. Er war etwas älter als sein Freund und die Strapazen der letzten Monate hatte deutlich Spuren auf seinem Gesicht hinterlassen, sodass sein Aussehen kaum noch seinem Alter entsprach.
„Einheitskleidung, Einheitsessen, Einheitsleben. Wie viel Einheit können die noch aus uns rausholen?“, fragte ein anderer Freund, der ebenfalls mitgenommen aussah.
Die Schlange bewegte sich ein paar Meter weiter. Traurig trotteten die Menschen hintereinander her. Einzig die blauen Pullover unterschieden die Bleichen vom umgebenden Schnee.
„Ich hätte echt mal wieder Lust auf ein gutes Stück Fleisch. Irgendetwas, das ich essen will. Gott wie lange habe ich schon nichts Ordentliches mehr gegessen?“
Mark warf seine Arme gen Himmel.
„Hey, Hey! Runter mit den Armen! Schau doch...“
Paul zeigte auf einen Soldaten in brauner Uniform, der mit einem Gewehr in der Hand an der Schlange vorbei patrouillierte und immer wieder einen prüfenden Blick auf die zitternden Menschen warf.
„Schon gut. Aber Leute das geht doch so nicht weiter!“
Er nahm seine Arme wieder herunter und richtete seine Kleidung.
„Sei lieber ruhig Junge, sonst endest du wie die anderen Aufrührer. Gerade dir sollte das Leben noch was wert sein. Hast die doch bestimmt gewählt. Hast uns das Grauen ins Land geholt“, sagte ein Greis, der sich auf einen Stock stützte und das Gespräch verfolgt hatte.
Derweil hatte sich die Schlange wieder ein paar Meter vorgeschoben. Die Gruppe kam dem Gebäude, das früher mal als Rathaus gedient hatte und von der Partei zu einer Großküche umgebaut worden war, immer näher.
Ein paar Raben hatten sich auf dem Dach niedergelassen und schauten auf die Menschen herab.
„Aber Hören Sie mal! Was fällt Ihnen ein? Ich wähle die doch nicht. Niemals! Nicht gestern und nicht heute!“
Mark drängte zu dem Greis.
„Eine Wahl haben wir nun eh nicht mehr. Ist alles verschenkt...“, antwortete der ältere Herr.
Paul trat schlichtend dazwischen.
„Leute, Leute. Benehmt euch. Wir sind doch alle irgendwie dran Schuld. Die Wähler waren zu naiv und die Gegner zu zurückhaltend, haben zugesehen und wollten das Ganze aussitzen. Es bringt nichts, das Ganze wieder aufzurollen. Ich meine-“
Er machte eine Pause und schaute ob der Soldat in der Nähe war.
„Ich meine wir müssen jetzt daran arbeiten, alles wieder richtig zu stellen. Da sind wir uns sicherlich einig.“
Die Menschen in der Schlange zitterten und gruben sich tiefer in ihre Pullover. Den Kindern fehlte die Kraft zum Schreien. Eine bedrückende Stille lag über ihnen.
„War aber auch verführerisch. Diese ganzen Versprechen. Das klang alles vernünftig. Ich dachte das die wirklich was verändern könnten. Das der Protest uns Fortschritt und Wohlstand bringen würde. Auch wenn ich die nicht gewählt hab, war ich doch beeindruckt“, sagte Mark.
„Das dachten wir doch alle irgendwie“, flüsterte der Greis und legte ihm die Hand auf die Schulter.
„Ihr. Auseinander. Sofort!“, schrie der Soldat, dem das Gespräch aufgefallen war. Er sprintete zu der Gruppe und hob drohend das Gewehr.
Der Greis ließ von Mark ab und alle warfen die Arme in die Höhe.
„Über was habt ihr gesprochen? Sprich alter Mann!“
Zitternd ließ der Greis seinen Stock fallen.
„Nichts. Wir haben über das kalte Wetter gesprochen und ich meinte zu dem Jungen, früher hätten wir nur solche Winter gehabt.“
Der Soldat kniff prüfend seine Augen zusammen und näherte sich dem Alten, das Gewehr auf den Kopf gerichtet.
„Ich möchte es für dich hoffen. Ihr Alten solltet euch nicht so sicher sein. Ihr seid gefährlich, aufrührerisch und eine Last. Mal sehen wie lange die da oben das noch mit euch mitmachen.“
Die ersten Personen in der Schlange begannen sich interessiert umzuschauen.
„Natürlich mein Herr! Darf ich meinen Stock wieder aufheben? Ich kann nicht mehr aufrecht stehen.“
Der Soldat legte dem Greis die Mündung des Gewehrs an die Stirn.
„Schau dich nur an. Kannst bald nur noch auf allen Vieren kriechen. Wie ein Affe!“, er lachte laut.
„Komm nimm dir deinen Stock und dann stellst du dich ganz ans Ende der Schlange. Verstanden?“
Der Alte nickte.
„Warte. Ich helfe dir“, sagte Paul und bückte sich nach dem Stock.
„Du nicht! Lass das den Alten machen. Zurück in die Reihe!“, schrie der Soldat und zielte mit dem Gewehr nun auf Paul.
Der erstarrte und hob langsam seinen Kopf.
„Lass das den Alten machen! Der muss bestraft werden.“
Paul blieb in der gebückten Haltung.
„Bist du schwerhörig? Komm rauf Junge!“
Der Soldat entsicherte sein Gewehr.
„Ich warne dich jetzt nur noch ein Mal“, schrie er und auf seiner Stirn bildeten sich Schweißperlen.
Der ganze Platz schaute nun gespannt zu der Ursache des Lärms.
„Hey Soldatenschwein! Ich hab keine Lust mehr auf euren Haferbrei und eure hässlichen Pullover!“, schrie jemand aus dem hinteren Teil der Schlange.
Der Soldat fuhr auf, ließ von Paul ab und zielte nun in die Gruppe, in der er den Schreienden vermutete.
„Ihr habt uns unser Leben genommen!“, rief einer von der anderen Seite.
„Wer-“
Der Soldat drehte sich um seine eigene Achse und zielte in die andere Richtung. Mark hatte sich inzwischen hinter Paul gestellt und zog in wieder in die Schlange zurück.
„Ihr habt uns unsere Freiheit genommen!“
Ein glatzköpfiger Mann trat aus der Schlange. Er hatte seinen Pullover zerrissen und sein nackter Oberkörper dampfte nun in der Kälte.
„Dir werde ich eine Kugel in die Stirn jagen. Du Bastard, du-“
Der Soldat rannte los.
„Und uns versklavt!“
Auf der anderen Seite trat ein weiterer Mann aus der Schlange und zerriss seinen Pullover. Ihm schloss sich nun die gesamte Schlange an.
„Ruhe! Zurück in die Schlange! Alle! Ich brauch Verstärkung!“, schrie der Soldat. Er fuchtelte wahllos mit seinem Gewehr herum. Sein Gesicht war mittlerweile beängstigend rot und an seiner Schläfe pulsierte eine Ader.
„Es ist soweit“, flüsterte der Greis.
Die Menschen traten geschlossen nach vorn. Weitere Soldaten hatten sich eingefunden und stellten sich drohend in einer Linie auf.
Sie waren klar in der Unterzahl.
„Stehen bleiben oder es wird geschossen!“, schrie ein Soldat.
Unter Geschrei rannten die Menschen los und die Soldaten feuerten wahllos in die Menge. Aber es waren zu viele und sie wurden überrannt.
Die Menschen holten sich die Gerechtigkeit zurück.