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Den Falschen

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20.04.2002
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Den Falschen

Den Falschen oder Nichts geschieht ohne Grund

Licht und Schatten.
Grellstes Licht und dunkelste Schatten bilden Dein momentanes Leben.
Ein stetiger, entnervender Wechsel, der Dich an den Rand des Wahnsinns bringen soll, was bereits geschehen ist.
Und trotzdem!
Trotzdem hören Sie nicht auf.
Sie zerren Dich aus Deiner absoluten Dunkelheit ins grelle Tageslicht. Deine Hände und Füße schmerzen vom Druck der Fesseln. Und kaum haben sich Deine Augen an das Tageslicht gewöhnt, ziehen Sie Dir eine Kapuze über, zwingen Dich in eine kniende Haltung und lassen Dich so verharren.
Jede entlastende Bewegung wird durch Schläge oder Wasser- bzw. Essensentzug bestraft. Schon bald fühlen sich Deine Kniescheiben an, als würden sie sich auf Speerspitzen stützen.
Du versuchst zu schweigen.
Deine Unterdrücker mit eisigem Schweigen zu bestrafen.
Aber es gelingt Dir nicht.
Der Schmerz ist zu groß.
Als die ersten Schmerzenslaute den dunklen Schacht Deiner lichtschluckenden Kapuze verlassen, erreichen die Fragen Dein Ohr. Verwirrende Fragen, die Dich umschwirren wie Bienen den Honig. Deine Peiniger drehen sich bei diesen Fragen um Dich im Kreis, damit sie aus jeder Richtung auf Dich einstürzen können.
Du bist verwirrt.
Dein wirrer Geist ist verwirrt.
Sind das nicht dieselben Fragen wie gestern?
Dieselben Fragen wie jeden Tag?
Am Anfang begnügen sich Deine Folterknechte damit, ihre spitze Zunge zu gebrauchen, Dich zu verhöhnen und zu verspotten. Sie zeigen Dir mündlich, wie sehr sie Dich verachten.
Doch schon bald reicht ihnen auch das nicht mehr, wird Ihre Ungeduld zu groß.
Schläge prasseln auf Dich ein.
Erst leicht, dann schwer.
Immer wieder.
Immer mehr.
Irgendwann reisst man Dir die Kapuze vom Kopf, wieder trifft Dich der helle Strahl der Sonne unvermittelt und blendet Dich. Noch bevor Deine Augen sich an das Licht gewöhnen können, fällt der Schatten einer Faust über Dein Gesicht und lässt die Wunden wieder aufbrechen, die Du am Vortag bereits davongetragen hast.
Besser gesagt, an den Vortagen...
Irgendwann ist das Spiel zu Ende und Du bist nur noch ein wimmerndes, blutendes Etwas, dass sich in embryonaler Haltung – sofern es Deine Fesseln zulassen – am Boden krümmt.
So bleibst Du liegen.
Der Hitze der Sonne ausgesetzt.
Ab und an kommt jemand vorbei, überschüttet Dich mit Wasser, bespuckt Dich oder verrichtet sein Geschäft auf Dir.
Es ist Dir egal, denn Dein Geist hat sich schon längst wieder nach drinnen verzogen, an den heiligen Ort, der Dir gehört, wo sie ihn (Dich???) – hoffentlich – niemals finden werden.
Doch auch hier findet er keine Ruhe. Zu viele Sorgen plagen ihn. er rennt in seinem sicheren Gefängnis umher, trommelt an die Wände und schreit:
Warum?
Warum ich?
Warum bin ich hier?
Was habe ich getan?
Ich habe doch niemandem was getan!
Keiner Menschenseele!
Für was werde ich bestraft?
Weil ich die falschen Kumpels und Freunde hatte, um die ich mich nie wirklich gekümmert hatte, weil mir mein eigenes Leben zu wichtig war?
Weil ich einfach nur ihre Nähe genoß, mit ihnen Dinge unternahm, wie Freunde es nun mal tun?
Weil ich ihren Glauben respektierte und ihre Art, Dinge zu sehen, ohne gleich Fanatismus dahinter zu wittern?
Weil ich ihren Rückzug aus meinem Leben falsch verstanden hatte und glaubte, sie hätten einfach nur eine Frau gefunden – oder andere Freunde?
Wo war mein Fehler?
Kann ich bestraft werden dafür, dass ich nicht allein sein wollte?
Kann ich bestraft werden, weil ich jemanden brauchte, mit dem ich reden und etwas unternehmen konnte?
Kann ich bestraft werden, weil ich am falschen Ort zur falschen Zeit war?
Weil ich blind war???
Und während Hände fluchend Deinen zerbrechlichen Körper packen, und ihn zurück ins Dunkel Deiner Zelle zerren, wo Dich andere Leidgeprüfte erwarten, lehnt Dein Geist sich in einem imaginären Lehnstuhl zurück, wirft erst einen Blick auf das imaginäre Kaminfeuer und dann auf sein imaginäres Whiskyglas, bevor er Dir zuprostet und mit einem geheimnisvollen, verschmitzten Lächeln entgegenflüstert:
"Ja...genau deswegen kannst Du bestraft werden..."

"Oh mein Gott...Sieh, was sie ihm angetan haben." flüsterte eine Stimme aus dem Dunkel. Eine Stimme von Zwölfen, die hier auf engstem Raum hausen mussten.
Gerade hatten die Wärter ihn rein gebracht.
Denjenigen, der unschuldig war und mit der ganzen Sache gar nichts zu tun hatte. Wie ein voller Sack Unrat war er in die Ecke geworfen worden, wo er still liegenblieb, die Augen vom Schock weit aufgerissen, vor sich hinstarrend. Sein Gesicht war voller Blut, seine Lippen aufgeplatzt, seine Zähne ein einziger Trümmerhaufen.
Die zwölf Gestalten schoben sich wie eine Mauer nach vorne und umringten die gebrochene Kreatur. Sie knieten sich nieder und wuschen mit dem Teil ihres Trinkwassers, das sie sich für ihn aufgespart hatten, das Blut und den Dreck von seinem Körper, so wie sie es jeden Tag taten.
Es war ein abendliches Ritual, dass das Opfer teilnahmslos über sich ergehen ließ.
Viele von ihnen hatten dabei Tränen in den Augen.
Andere wiederum gar keine Tränen mehr übrig.
"Warum?!" flüsterte einer von Ihnen entsetzt. "Warum tun sie ihm das immer wieder an? Von uns allen ist er der Unschuldigste..."
"Und doch müssen wir jeden Tag zusehen, wie sie ihn bearbeiten", flüsterte ein anderer, "während sein eigenes Gesicht verhüllt ist. Jeden Tag sind wir gezwungen, seinem Schmerz zu lauschen."
"Genau", sagte ein Dritter verbittert. "Weil Du..."
Hier machte er eine bedeutungsschwangere Pause
"Weil wir alle uns daran erinnern werden, wenn wir an der Reihe sind..."

 

Hi Henry Bienek

Ein harter Brocken, deine Geschichte, kein Wunder, dass noch keine Antworten kamen. Da mir keine Fehler aufgefallen sind (Danke dafür, angenehme Überraschung ;)), werde ich mich gleich mal in die Interpretation stürzen.

Zuerst hatte ich zwei Szenarien im Kopf: die thailändischen Entzugslager für hoffnungslose Fälle und die amerikanischen Gefängnisse für die richtig Bösen.
Dann wurde mir aber schnell klar, dass die Handlung eher surreal angehaucht und symbolisch zu verstehen ist. Wenn ich das ganze richtig verstehe, macht der Prot den Fehler, alles über sich ergehen zu lassen, die Bestrafung hinzunehmen, ohne sich, bis zuletzt, selbst über seine Schuld Gedanken zu machen.
Das hat mich wiederum an die Gerichtsparabel von Kafka oder an den Stiller von Frisch erinnert.
Die Stelle find ich wichtig:

"Warum bin ich hier?
Was habe ich getan?
Ich habe doch niemandem was getan!
Keiner Menschenseele!"

Da fragt er zwar, was er getan hat, aber gleich darauf rechtfertigt er sich vor sich selbst, entschuldigt er sich, als wäre er sich einer Schuld bewusst.

Nach der Schlussszene kann man die INterpretation aber über den Haufen werfen :( , der Prot scheint nicht selbst schuld zu sein, sondern als "abschreckendes Beispiel" missbraucht worden zu sein.
Im Bezug auf den Satz mit dem Fanatismus und dem Glauben könnte man da natürlich auf Kritik am Afghanistankrieg usw. schließen, soweit will ich mich aber nicht aus dem Fenster lehnen.

Somit bleiben also zwei Interpretationen: entweder wird der Prot bestraft, oder die Mitgefangenen. Evtl natürlich auch beide...

Gut geschrieben ist der Text mit Sicherheit, aber leider wird mir die Intention nicht ganz klar, falls es eine gibt.

Liebe Grüße
wolkenkind

 

Hi Wolkenkind,

die zweite Variante dürfte die Richtigere sein.

Im Grunde war das Ganze gar nicht sooo surreal gedacht.

Folgendes Szenario:
Ein Mensch hängt zufälligerweise mit den falschen Leuten rum und bemerkt einfach nicht, dass sie gedanklich (fanatisch) einer ganz anderen Richtung folgen. Das geschieht aus dem Grund, dass er einfach zufrieden mit ihrer Gesellschaft ist und sich nicht mehr wünscht als genau das:
Leute mit denen man weggehen kann, aber über die man im Grunde nicht viel nachdenken muss, da der Spasslevel erhalten bleibt.
(Ja, ich weiss, so ist das nirgendwo in der Geschichte beschrieben, und der Gedanke kam mir auch erst während dem Schreiben, also hierbei bitte nicht so eng sehen.)

Naja, und dann ist das Kind in den Brunnen gefallen, die eigenen "Freunde" stellen sich als Terroristen, Staatsfeinde - was auch immer heraus - die den Typen, die ganze Zeit benutzt haben, wie er sie - als Freunde - benutzt hat.

Und genau das vollzieht sich - in psychisch kranker Weise - in dem Gefangenenszenario...
Auch hier wird der Prot. nur benutzt, Tag für Tag, so dass sein Geist schon deutlich jenseits von Gut und Böse ist.
Denn durch die Tatsache, dass seine ehemaligen Freunde und jetzt Mithäftlinge gezwungen sind, ihn leiden zu sehen, versucht man sie schneller zum Reden zu bringen, da sie jetzt wissen, was ihnen "blüht", wenn sie selbst einmal an der Reihe sind...

Bizarrerweise - oder besser gesagt leider - habe ich zwei Tage nach Veröffentlichung der Story einen Zeitungsbericht gelesen, wo über Guantanamo Bay berichtet wurde.
Und siehe da, meine Fiktion ist - zumindest in bezug auf folterähnliche Züge (Flackerlicht, bzw. Wechsel von absoluter Dunkelheit in grelles Licht, stundenlanges Stehen auf den Knien oder NACKT in unnatürlich verrenkter Haltung und mit Sack über dem Kopf) - schon näher an der Wahrheit dran, als mir persönlich lieb ist.

Schätze, wir Menschen sind halt doch nur Bestien, wenn man uns lässt :(

Die kafkaesken Züge sind zwar unbeabsichtigt, aber ich bin Fan von Kafka, da haben die sich vielleicht reingeschlichen.

Ich hoffe, Du kannst mit meiner Interpretation was anfangen.:D

Henry Bienek :cool:

 

Hm, genau, an Guantanamo Bay hab ich auch denken müssen. War mir nur nicht mehr sicher, wie man das schreibt ;)

Ich denke, jetzt ist mir die Aussage klarer, anscheinend ist sie doch näher am Text als ich angenommen hatte.

"die eigenen "Freunde" stellen sich als Terroristen, Staatsfeinde - was auch immer heraus - die den Typen, die ganze Zeit benutzt haben, wie er sie - als Freunde - benutzt hat."

Ich versteh nicht ganz, wie sie ihn hier benutzt haben, wenn er doch nur mit ihnen rumhing und sie nicht etwa in ihrem Fanatismus aktiv unterstützt hat.
Oder haben sie ihn "verpfiffen", weil sie dachten, das bringt ihnen was?

 
Zuletzt bearbeitet:

@ wolkenkind:

Nein, seine Harmlosigkeit war ihre Tarnung, nur dass sie auf Dauer halt nicht gereicht hat.

Um ein krasses Beispiel zu geben:

Drei Neos ziehen in eine neue Stadt und geben sich als Antifaschos aus, damit sie Kontakt zur Szene bekommen und so Opfer auftreiben.
Sie werden mit einem von ihnen bekannt, machen auf gut Freund und halten ihm auch jederzeit den Rücken frei.
Ihre Opfer besuchen sie dann unabhängig davon in Nacht-und-Nebel-Aktionen (und natürlich vermummt) und ziehen ihr "Ding" durch, worin das auch immer bestehen mag, während sie tagsüber ihrem Freund erzählen, wie "scheiss feige dass doch von den Glatzen ist".

(Hab ich jetzt zuviel Phantasie oder einfach nur kein Vertrauen in die Welt :confused: )

Das kannst Du - glaube ich - mehr oder weniger auf jede Form des Fanatismus umsetzen...

Henry Bienek :cool:

 

Hi Blackwood,

Der Schluss sollte eigentlich gar nicht aufgesetzt wirken, sondern einfach nur perfide.

Stell Dir mal vor, Du bist ein Massenmörder, Terrorist, etc.
Du hast Dich mit (D)einer Gruppe unter einen - vielleicht auch mehrere - Unschuldigen gemischt, um den Schein des Normalen zu wahren.

Aber es hat nicht gereicht, und ihr wurdet trotzdem erwischt. Der Unschuldige, den ihr - für ihn selbst unwissentlich - benutzt habt, wird mit eingebuchtet.

Selbst wenn Dir als Mörder sein Leben egal wäre, weil er ein Ungläubiger ist oder weil Dich sein Leben einfach nicht kümmert, würdest Du etwas empfinden, wenn Du sein Leiden täglich erleben müsstest und wie er daran zerbricht.

Denn Du wüsstest, Du befindest Dich in den Händen der selben Macht. Und über kurz oder lang wirst Du an der Reihe sein.

Ja, es ist trostlos und es macht einen betroffen. Aber das soll es ja auch. Deswegen finde ich die Geschichte eigentlich auch nicht aufgesetzt.
Vor allem, wenn ich dann lesen muss, dass meine Geschichte nur zum Teil anders ist als die Realität, und ein eigentlicher Rechtsstaat eine Gesetzeslücke nutzt, um in Ruhe Verbrechen gegen die Menschlichkeit begehen zu können.

Siehe auch mein Kommentar an "wolkenkind"

Henry Bienek :cool:

 

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