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Den Falschen
Den Falschen oder Nichts geschieht ohne Grund
Licht und Schatten.
Grellstes Licht und dunkelste Schatten bilden Dein momentanes Leben.
Ein stetiger, entnervender Wechsel, der Dich an den Rand des Wahnsinns bringen soll, was bereits geschehen ist.
Und trotzdem!
Trotzdem hören Sie nicht auf.
Sie zerren Dich aus Deiner absoluten Dunkelheit ins grelle Tageslicht. Deine Hände und Füße schmerzen vom Druck der Fesseln. Und kaum haben sich Deine Augen an das Tageslicht gewöhnt, ziehen Sie Dir eine Kapuze über, zwingen Dich in eine kniende Haltung und lassen Dich so verharren.
Jede entlastende Bewegung wird durch Schläge oder Wasser- bzw. Essensentzug bestraft. Schon bald fühlen sich Deine Kniescheiben an, als würden sie sich auf Speerspitzen stützen.
Du versuchst zu schweigen.
Deine Unterdrücker mit eisigem Schweigen zu bestrafen.
Aber es gelingt Dir nicht.
Der Schmerz ist zu groß.
Als die ersten Schmerzenslaute den dunklen Schacht Deiner lichtschluckenden Kapuze verlassen, erreichen die Fragen Dein Ohr. Verwirrende Fragen, die Dich umschwirren wie Bienen den Honig. Deine Peiniger drehen sich bei diesen Fragen um Dich im Kreis, damit sie aus jeder Richtung auf Dich einstürzen können.
Du bist verwirrt.
Dein wirrer Geist ist verwirrt.
Sind das nicht dieselben Fragen wie gestern?
Dieselben Fragen wie jeden Tag?
Am Anfang begnügen sich Deine Folterknechte damit, ihre spitze Zunge zu gebrauchen, Dich zu verhöhnen und zu verspotten. Sie zeigen Dir mündlich, wie sehr sie Dich verachten.
Doch schon bald reicht ihnen auch das nicht mehr, wird Ihre Ungeduld zu groß.
Schläge prasseln auf Dich ein.
Erst leicht, dann schwer.
Immer wieder.
Immer mehr.
Irgendwann reisst man Dir die Kapuze vom Kopf, wieder trifft Dich der helle Strahl der Sonne unvermittelt und blendet Dich. Noch bevor Deine Augen sich an das Licht gewöhnen können, fällt der Schatten einer Faust über Dein Gesicht und lässt die Wunden wieder aufbrechen, die Du am Vortag bereits davongetragen hast.
Besser gesagt, an den Vortagen...
Irgendwann ist das Spiel zu Ende und Du bist nur noch ein wimmerndes, blutendes Etwas, dass sich in embryonaler Haltung – sofern es Deine Fesseln zulassen – am Boden krümmt.
So bleibst Du liegen.
Der Hitze der Sonne ausgesetzt.
Ab und an kommt jemand vorbei, überschüttet Dich mit Wasser, bespuckt Dich oder verrichtet sein Geschäft auf Dir.
Es ist Dir egal, denn Dein Geist hat sich schon längst wieder nach drinnen verzogen, an den heiligen Ort, der Dir gehört, wo sie ihn (Dich???) – hoffentlich – niemals finden werden.
Doch auch hier findet er keine Ruhe. Zu viele Sorgen plagen ihn. er rennt in seinem sicheren Gefängnis umher, trommelt an die Wände und schreit:
Warum?
Warum ich?
Warum bin ich hier?
Was habe ich getan?
Ich habe doch niemandem was getan!
Keiner Menschenseele!
Für was werde ich bestraft?
Weil ich die falschen Kumpels und Freunde hatte, um die ich mich nie wirklich gekümmert hatte, weil mir mein eigenes Leben zu wichtig war?
Weil ich einfach nur ihre Nähe genoß, mit ihnen Dinge unternahm, wie Freunde es nun mal tun?
Weil ich ihren Glauben respektierte und ihre Art, Dinge zu sehen, ohne gleich Fanatismus dahinter zu wittern?
Weil ich ihren Rückzug aus meinem Leben falsch verstanden hatte und glaubte, sie hätten einfach nur eine Frau gefunden – oder andere Freunde?
Wo war mein Fehler?
Kann ich bestraft werden dafür, dass ich nicht allein sein wollte?
Kann ich bestraft werden, weil ich jemanden brauchte, mit dem ich reden und etwas unternehmen konnte?
Kann ich bestraft werden, weil ich am falschen Ort zur falschen Zeit war?
Weil ich blind war???
Und während Hände fluchend Deinen zerbrechlichen Körper packen, und ihn zurück ins Dunkel Deiner Zelle zerren, wo Dich andere Leidgeprüfte erwarten, lehnt Dein Geist sich in einem imaginären Lehnstuhl zurück, wirft erst einen Blick auf das imaginäre Kaminfeuer und dann auf sein imaginäres Whiskyglas, bevor er Dir zuprostet und mit einem geheimnisvollen, verschmitzten Lächeln entgegenflüstert:
"Ja...genau deswegen kannst Du bestraft werden..."
"Oh mein Gott...Sieh, was sie ihm angetan haben." flüsterte eine Stimme aus dem Dunkel. Eine Stimme von Zwölfen, die hier auf engstem Raum hausen mussten.
Gerade hatten die Wärter ihn rein gebracht.
Denjenigen, der unschuldig war und mit der ganzen Sache gar nichts zu tun hatte. Wie ein voller Sack Unrat war er in die Ecke geworfen worden, wo er still liegenblieb, die Augen vom Schock weit aufgerissen, vor sich hinstarrend. Sein Gesicht war voller Blut, seine Lippen aufgeplatzt, seine Zähne ein einziger Trümmerhaufen.
Die zwölf Gestalten schoben sich wie eine Mauer nach vorne und umringten die gebrochene Kreatur. Sie knieten sich nieder und wuschen mit dem Teil ihres Trinkwassers, das sie sich für ihn aufgespart hatten, das Blut und den Dreck von seinem Körper, so wie sie es jeden Tag taten.
Es war ein abendliches Ritual, dass das Opfer teilnahmslos über sich ergehen ließ.
Viele von ihnen hatten dabei Tränen in den Augen.
Andere wiederum gar keine Tränen mehr übrig.
"Warum?!" flüsterte einer von Ihnen entsetzt. "Warum tun sie ihm das immer wieder an? Von uns allen ist er der Unschuldigste..."
"Und doch müssen wir jeden Tag zusehen, wie sie ihn bearbeiten", flüsterte ein anderer, "während sein eigenes Gesicht verhüllt ist. Jeden Tag sind wir gezwungen, seinem Schmerz zu lauschen."
"Genau", sagte ein Dritter verbittert. "Weil Du..."
Hier machte er eine bedeutungsschwangere Pause
"Weil wir alle uns daran erinnern werden, wenn wir an der Reihe sind..."