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Demos
Eingekesselt. So fühlt sich das also an. Menschen stehen dicht an dicht. Kein Schritt möglich, egal in welche Richtung. Tristan steht zwischen zwei geparkten Autos, wegen der Idee, dass man dort nicht so einfach zu Boden getrampelt werden kann. Stellt sich auf die Zehenspitzen und sucht nach dem Mädchen, mit dem er Sekunden vorher noch sprach. Die trägt Black Jeans und schwarzen Windbreaker und ist als Schwarzgewandete unter Schwarzgewandeten im Unbunten verschwunden. Er macht sich Sorgen und wünscht, ihre zarte Körperlichkeit möge nicht unter die Räder der Massenmaschinerie geraten. Mehr kann er gerade nicht tun, also. Weitersehen.
Links von ihm, direkt unter der Eisenbahnbrücke: Eine Staffel Fußsoldaten in dichter Formation, die an eine Phalanx erinnert. Fast bewegungslos, inmitten eines Freiraum-Radius'. Dort ist Platz, der ihnen fehlt. Auf der rechten Seite wird die Straße von einer noch größeren Zahl Polizisten in Vollschutz gesperrt. Die stehen vor einem Lastkraftwagen mit Wasserwerfer, der bei Demos stets von dieser Seite kommt, weil seine Aufbauten zu hoch sind für die Eisenbahnbrücke. Oh Mann, denkt Tristan, was für ein Auflauf. Es braucht einige Momente, bis er in Zeit und Raum orientiert ist.
Sie zogen mit dem Haupttross der Demonstranten, nahe an der Spitze, durch drei Straßen der Schanze, um gegen die polizeilichen Kontrollen zu protestieren, die von Aktivisten als racial profiling etikettiert wurden.
In der dritten Straße, ungefähr unter der S-Bahn-Haltestelle Sternschanze, waren sie auf Polizisten getroffen, die dort die Straße abriegelten. Kurz standen sich beide Gruppen gegenüber ohne dass etwas geschah. Dann kam das Feuerwerk. Polen-Böller und Bengalos tauchten die Nacht für lange Minuten in unruhig flackerndes Rot. Die Sprechchöre klangen wütender, wurden lauter. [um Europa keine Mauer, Bleiberecht für alle und von Dauer!] Bald wurden die Sprechchöre von einem Steinwerfer unterstützt: er stand, warf und traf einen Polizisten an der Schulter, der zu Boden fiel. Ihm wurde aufgeholfen, seine Kollegen hakten sich bei ihm unter und brachten ihn weg. "Beamter verletzt!" Kurz nach diesem Ruf spurtete die Phalanx los, zum optischen Mittelpunkt der Demo. Traf dort auf vermummte Schwarzgewandete, die zu sechst ein Plakat trugen. Einen Plakatträger erwischte ein Knüppelschlag an der Schulter, als er gerade mit einem Böller hantierte. Den nächsten Schlag fing sein Nachbar mit seinem Körper ab. Als ihn der Knüppel traf, schrie er wütend auf, ließ das Plakat los und stolperte unwillkürlich ein paar Schritte nach hinten. In die entstandene Lücke drängten weitere Einsatzkräfte im Vollschutz, tackelten die Aktivisten weg und knüppelten bei Widerstand. Ein paar Widerständige wurden aus der Kernmasse gezogen und abgeführt. Wenn sie sich wehrten, verschwanden ihre Körper unter den Körpern von Bullen. Die taten alles, um die Demonstrierenden zu Boden und unter Kontrolle zu bringen. Ein paar Aktivisten liefen zu den ungleichen Kämpfen, mischten sich ein und kassierten dafür schnelle harte Schläge von den ausführenden Kräften der unsichtbaren Hand. Die meisten Demonstranten aber entfernten sich vom Kampfplatz und sahen zu, dass sie Land gewannen. Verfolgt von den Einsatzkräften, die nachsetzten und die Demonstranten noch schneller die Straße hinunter drängten, als die ohnehin schon flohen.
"Zurück, zurück!", rief jemand. "Hier gibts Prügel!!" Die Demonstranten rannten die Straße hinunter, fort von den maskierten Uniformierten. Die nur ein paar Reihen weiter hinten Stehenden hatten nicht sehen können, was die Flucht auslöste, aber niemand blieb stehen, alle flohen im Sog der Angst die Straße hinunter, bis jemand das gleiche rief, "Zurück! Zurück!", aber die andere Richtung meinte. Und die Fließrichtung der Masse drehte, wollte in die andere Richtung, woher sie gekommen war, aber dort stand nach wie vor die Polizeiphalanx, und die sah nicht aus, als wollte sie weichen. So drückte die Dynamik aus zwei Richtungen auf die Masse und stauchte sie zusammen.
Da stehen sie jetzt, eingekeilt. Ohne dass jemand wüsste, was zu tun wäre. Tristan sieht sich um. Angespannte Gesichter, Pärchen halten einander fest. Ein großer Typ erklärt lachend, das hier sei immer die Straße, in der die Schanzendemos gestoppt würden, und immer kämen die Wasserwerfer von der anderen Seite, weil sie unter der Brücke nicht hindurchpassten. Sie stehen und warten. Es entsteht etwas Raum, gibt wieder Luft zum Atmen. Zwei Leute tragen ein Fahrrad hoch über den Köpfen durch die Masse, sieht sinnlos aus, fühlt sich surreal an. "Sanitäter!" Von der anderen Seite kommen zwei Sanis und gehen Richtung Polizeiphalanx. Tristan sucht wieder nach dem Mädchen, aber keine Chance.
Er fühlt sich hilflos und denkt, es ist möglicherweise genau das Ziel des Einsatzes, ihnen dieses Gefühl zu vermitteln. Um Mittelstandskids einzuschüchtern. Menschen, die sich den Protesten aus Sympathie für die Lage der Flüchtlinge oder wegen des Eventcharakters anschlossen. Um ihnen zu zeigen: das ist kein Spaß. Und es gibt einen anderen Preis zu zahlen als nur den Eintritt für eine Party, wenn mensch bei Demos mitläuft, die von Autonomen mobilisiert wurden. Die immer mal wieder in Straßenkämpfe münden. Von den letzten acht Demos im Oktober und November ist es bei dreien zu brutalen Schlägereien gekommen. Und Tristan, der vorher Menschen suspekt fand, die Bullen sagten, hält die Bezeichnung 'Polizist' für eine Exekutivkraft, mit der Freund-und-Helfer-Konnotation, für immer weniger angemessen. Zu viel war in den letzten beiden Monaten geschehen, zu oft wurde er Zeuge von unverhältnismäßiger Gewalt. Aus welchem Grund man auch dabei ist: wer dabei ist, gehört aus Sicht der Exekutive dazu.
Die Masse verliert an Dichte, der Kessel wird gelockert. Ein ganzer Schwung verlässt den Schauplatz. Tristan sucht sich seinen Weg, sucht nach den Freunden, mit denen er herkam. Auf der anderen Straßenseite, vor dem McDonalds, dessen Glasfassade jetzt ein neongrüner Schriftzug wider den kapitalistischen Realismus ziert, sitzt eine kaffeebraune Punkerin im Schneidersitz und dreht eine Zigarette. Neben ihr spielt ein Schoßhund, entspannt wie am sonnigen Sonntagnachmittag auf der Hundewiese. Dabei sind sie mitten im Niemandsland, zwischen der Phalanx und den Schwarzgewandeten. Tristan geht so nah an die Phalanx wie er es wagt, und versucht etwas zu entdecken. Aber er entdeckt nichts, und er weiß auch nicht, was er sucht. Dafür sieht er extra lang und genau hin, als könnte er auf diese Art seine ziellose Unruhe besiegen. Oder als gäbe es etwas zu erkennen, das diese Situation beeinflusst. Tristan schlendert ratlos in Richtung Wasserwerfer, sieht den Filmer, dessen Flüchtlingsdokumentation sie vor Kurzem während der Refugee Film Nights zeigten, mit seiner Kamera über die Straße streifen. Vor dem Wasserwerfer spricht ein Demonstrant mit einem Polizisten. Der Polizist sagt, er wünsche der Senat fände eine andere Lösung, und dass er solche Einsätze nicht möge. Erwarte aber kein Mitgefühl von seinem Gesprächspartner. Sein Gesprächspartner sagt, er sei dankbar, dass die Bullen die Straßen sicherten und wie wichtig eine funktionierende Polizei für die Sicherheit auf den Straßen sei. Tristan glaubt ein zorniges Funkeln in den Augen der Einsatzkraft aufblitzen zu sehen, als er 'Bulle' hört. Tristan spürt selbst einen Anflug von Übelkeit, als er die Umtitulierung von Bulle auf Polizist in nur einem Satz mitkriegt. Der Typ klingt auch wie ein Besoffener, der sich besonders viel Mühe gibt, geradeaus zu sprechen und seinem Gegenüber zu gefallen. Einer von denen, die schnurgerade über Schlangenlinien gehen.
Dort, wo der Kessel sich öffnete, trifft Tristan den Ehemann seiner Geliebten. Der weiß das natürlich, sonst hätte Tristan sich nie darauf eingelassen, und, nach einem Jahr Laufzeit sieht es aus, als funktionierte diese menage a trois. Die beiden sind in der Sankt Pauli Church aktiv, wo das Refugee Welcome Center eingerichtet wurde. Geben Deutschunterricht, helfen beim Kochen für vierzig Personen, sammeln Spenden, machen Nachtwachen. Sie begrüßen sich mit einem breiten Grinsen, haben sich aber sonst nicht viel zu sagen. Tristan bekommt einen Zettel in die Hand gedrückt, liest ihn ... 040 – 324 87 887 / Informationen des EA-Hamburg / Notiere die Nummer des Ermittlungsausschusses auf dem Arm. Beobachtest du eine Ingewahrsamnahme oder Festnahme oder bist du selbst betroffen, melde dich oder die Person möglichst zeitnah beim EA. / Auf der Demo / Aktion ist es äußerst sinnvoll, immer mit der Bezugsgruppe zu gehen und für diese Gruppe ein Kennwort als Rufnamen auszumachen, um sich in unübersichtlich gewordenen Situationen schnell wieder sammeln zu können und verloren gegangene Personen gleich bemerken zu können. Für den Fall von Ingewahrsamnahmen ist es sinnvoll, die Nachnamen und Geburtsdaten der Leute aus deiner Bezugsgruppe zu kennen. ... und geht weiter.
Trifft jemand anderen, mit dem er das Kino für die Filmnächte fit machte. Tristan kennt nur seinen Nachnamen, sein Rufname, "Hey Mell". Der suche ein Mädchen, klein und braunhaarig, schwarze Klamotten. "Witzig!", ruft Tristan. "Bisschen genauer?" Haselnussbraun. "Alles klar! ich ruf an, wenn ich sie sehe." Die Straße ist voller Grüppchen, viel lautes Gerede. Die Luft summt vor Spannung, aber die Gesichter sind jetzt entspannt, gelöst. Festivalatmosphäre. Immer noch ratlos, was jetzt zu tun sei, schlendert Tristan wieder zurück, bis unter die Brücke. Er kann ja schlecht jemand fragen, was sie jetzt tun sollen. Denkt er. Wenn das eine Party wäre, würde er gehen, aber das ist keine Party, auch wenn es sich zwischendurch so anfühlt. Er spricht mit einem kleinen Blonden, der ebenfalls ratlos wirkt. Fragt ihn, was er hier tut, warum er da ist. Spürt den Trieb, ihn auf seine blassen Lippen zu küssen. Kiss me like a stranger. Nach ein paar gewechselten Sätzen werden sie unterbrochen. Rufe und Schreie, jemand kreischt. Wieder wogt die Menge gegen ihn und schiebt Tristan auf die Phalanx zu. Er greift nach dem Arm des Jungen, möchte nicht schon wieder jemand an die Menge verlieren. Dafür werden sie jetzt gemeinsam auf die Phalanx zugeschoben, die unverrückbar steht wie eine bronzene Skulptur. "Pferde!", ruft der Blonde und zupft an seinem Arm. Tristan dreht sich um. Eine Pferdestaffel sucht und findet ihren Weg durch den amorphen Körper der Masse. Postiert sich vor dem McDonalds. Die Masse treibt Tristan weiter vor sich her, in eine etwas andere Richtung, er kommt den Pferden immer näher. 'Halt, Stopp!', ruft er, aber das hilft natürlich nicht. Er verliert den Jungen. Stemmt sich gegen die Triebkräfte, aber keine Chance. Die hinter ihm Gehenden, ihn treibenden, werden genauso getrieben. Viele angestrengte Gesichter, ein paar wirken panisch. 'Verdammt', denkt Tristan, nur noch Zentimeter von einem riesigen Pferd entfernt. Die Masse drückt weiter. Der vermummte Reiter beobachtet ihn genau. 'fuck, was soll die Reiterstaffel hier?' Tristan will zurück, ein paar Meter zwischen sich und die Viecher bringen, aber da ist kein Durchkommen. Wieder Rufe, diesmal aus der Wasserwerferrichtung. Rufe, die bald von Geschrei und Gebrüll übertönt werden. Jemand stimmt einen neuen Sprechchor an. Der handelt nicht mehr von der Freiheit für Asylsuchende, sondern vom Kampf gegen Staatsmacht und Polizeigewalt. Immer mehr stimmen ein, überstimmen das Gebrüll. Die Sirenen auf dem Dach des Wasserwerfers jaulen das erste Mal an diesem Abend. Vor der Phalanx knallen Böller. Einer explodiert mittendrin, aber niemand tritt aus der Formation. Tristan erdrängelt sich einen Weg, er ist immer noch in der ersten Reihe, direkt vor den Pferden, die jetzt Ziel für die Böller werden. Eins wird von einem Knaller erwischt, der zwischen den Vorderläufen explodiert. Es schnaubt und tänzelt, bleibt ruhig, bleckt aber die Zähne. Tristan sieht lange gelbe Hauer. 'Weg hier', denkt er und macht die letzten Meter, bis vor ihm keine Pferde mehr sind, sondern nurmehr Zaun. Er greift nach den Streben und zieht sich hoch. Sieht von hier, dass der Kessel wieder geschlossen ist. Vor dem Wasserwerfer prügeln sich welche. Aus der gleichen Richtung kommen Bullen, die mit Pfefferspray auf Demonstranten zielen und abdrücken. In der Querstraße sind viele Balkone besetzt. Auf einem stehen schöne junge Menschen in 30er-Jahre-Klamotten mit langstieligen Gläsern zwischen den Fingern, zeigen auf verschiedene Punkte in der Masse, unterhalten sich angeregt, lachen manchmal.
Aus der anderen Richtung wird ein einzelner Streifenwagen von einem Bullen die Straße hochgefahren, steuert auf die Mitte der nun lose verteilten Masse, fährt vielleicht 30 Stundenkilometer. Die meisten machen den Platz frei, hasten zu den Bürgersteigen, aber ein paar Schwarzgewandete bleiben stehen. Einer stellt sich direkt auf den Mittelstreifen, breitet die Arme aus, blickt auf einen Punkt in der Luft über dem schnell näherkommenden Einsatzwagen, als ginge ihn die physische Präsenz des Wagens nichts an, als kommuniziere er mit einem riot god, von dessen flammender Hand er sich geschützt fühlt. Nur noch Sekunden. Der Wagen wird nicht langsamer, der Aktivist bleibt stehen. Alle Augen auf sie. Wer blufft, wer wird geblufft? Frontalaufprall.
Kurz davor. Steigt der Bulle in die Eisen, bremst ruckartig und wird in den Gurt gedrückt. Der Aktivist rührt sich nicht, verändert die Haltung kein bisschen. Für den Moment passt das überhebliche Siegergrinsen seiner Superheldenmaske von Vendetta.
Schnell nähern sich andere Aktivisten, die nicht den Schutz des Bürgersteigs suchten und auf der Straße blieben, im Angesicht des Fahrzeugs, aber hinter dem riotgod-believer. Keine Sirenen, keine Sprechchöre, keine Böller. Es ist still auf der Straße. So still wie es nur sein kann, wenn sich zwei so große Menschenmengen gegenüberstehen. Der Bulle lässt das Fenster runter, lehnt sich aus dem Wagen und schreit den Aktivisten an, was der Scheiß soll, warum er den Weg nicht freigemacht habe, was ihm verdammt noch mal einfalle, er solle sich auswei...
Da, die schnelle Bewegung. Einer der Aktivisten zieht etwas aus dem Hosenbund, holt aus und schleudert es im selben Schwung auf den Fahrer. Der schreit und hält die Hände vor's Gesicht, Tristan glaubt Blut zu erkennen, das zwischen seinen Fingern fließt. Jetzt gibt der Aktivist seine Pose auf, sieht zu den anderen Schwarzgewandeten, zeigt auf einen Punkt in der Demosmasse und rennt darauf zu, die anderen folgen ihm. Der Körper der Masse öffnet sich und absorbiert die vier. Schon ist von ihnen nichts mehr zu sehen.
Tristan erspäht ein Loch im Kessel. Er springt von seinem Aussichtspunkt, setzt die Kapuze ab, quert die Straße und schlüpft durch den Polizeikordon. Eine knappe Minute später geht er an der Flora vorbei, wo sie vor eineinhalb Stunden starteten. Die Gedanken tosen in seinem Kopf, keine Chance, da jetzt Ruhe reinzubringen. Hier ist nichts zu spüren von dem Krawall zwei Straßen weiter. Von weitem sieht er Joker mit seiner Töle um die friedlichen Blocks ziehen, durch die leeren Straßen, wenige Meter von dem Trubel entfernt. Er überlegt, wo die nächste Haltestelle der Öffentlichen ist, stellt fest, auf dem richtigen Weg zu sein, geht weiter, merkt, wie schnell er immer noch ist und verkürzt die Schrittlänge, schließlich bin ich nicht auf der Flucht, denkt er, ich habe nichts verwerfliches getan, nicht mal was verbotenes, es gibt keinen Grund zu fliehen, ich bin doch nicht auf der Flucht.