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Delly, oder: Das Zucker-Konto
In der kleinen Stadt, in der ich groß geworden bin und noch einige Jahre nach meinem Schulabschluss gearbeitet habe, gab es einen ziemlich zurückgebliebenen Jungen.
Sein Name war Daniel, den konnte er aber nicht aussprechen und deshalb nannte er sich selbst Delly. Seinen wirklichen Namen vergaßen die Menschen mit der Zeit und so nannten sie ihn auch alle Delly, nur seine Eltern nicht.
Die Zeit war leicht und schwer zugleich für uns, leicht, weil sich alles in eine sauber beschriftete Schublade einordnen ließ und schwer, weil es nicht viele Möglichkeiten gab, aus ebenjenen Schubladen wieder hinaus zu kriechen.
Ich arbeitete bei der winzigen Bank hinter dem Schalter, meine ältere Schwester arbeitete in der gegenüberliegenden italienischen Eisdiele und gemeinsam wohnten wir in einer bescheidenen Zweizimmerwohnung über einem Plattenladen. Wir hatten uns vorgenommen, Geld zu sparen. Belinda (so heißt meine Schwester, und der Name passt außerordentlich gut zu ihr) wollte nichts lieber, als verschwinden und in irgendeiner aufregenden Stadt Sängerin oder Schauspielerin werden. Und ich wusste nicht, was ich wollte, aber der Punkt „Verschwinden und irgendwo anders irgendwas anderes machen“ tauchte auch in meinen Zukunftsvorstellungen auf.
Bis dahin standen wir also jeden Tag, bis auf den Sonntag, gegenüber hinter dem Bankschalter beziehungsweise der Eisdielentheke und taten das, was wir immer taten.
An dieser Stelle kommt Delly ins Spiel.
Natürlich kannte ich ihn irgendwie – jeder in der Stadt kannte ihn irgendwie, er saß ständig am Marktplatz auf den Bänken und beäugte die Tauben und Marktleute oder rannte durch die Gassen und Sträßchen der Altstadt und spielte alleine Ritter oder Zauberer oder was auch immer.
Eine Zeit lang hatte es ihm der Hitlergruß angetan und er vollführte ihn, wann immer er auf einen anderen Menschen traf. Ich glaube, seine Eltern ließen ihn viel zu oft fernsehen, denn ich konnte mir nicht vorstellen, wo er so etwas sonst gelernt haben könnte – diese Zeiten waren lang vorbei und daher sorgte sein Betragen für einigen Aufruhr in der Stadt. Nicht auszudenken, was Touristen von uns denken sollen! Sagten viele, und Delly war das Klatschthema der Woche. Irgendwann verlor er das Interesse an der Geste, deren Bedeutung er ohnehin nicht verstand.
Ich hatte noch nie ein Wort mit ihm gewechselt oder dergleichen, für mich war er eben jemand, der ins Bild gehört, eine Hintergrundfigur, deren Anwesenheit nicht angezweifelt und auch nicht näher beachtet wird.
An einem sonnigen Vormittag saß ich hinter der von der Zeit eingetrübten Plastikscheibe, die die Kunden der Bank auf professionelle Distanz hielt, spähte nach draußen, Belinda stand in ihrer pistaziengrünen Schürze vor der Eisdiele und rauchte. Es war nicht viel los, auf der Straße tummelten sich Renterinnen und Postboten und ich erschrak, als der Junge vor meinem Schalter auftauchte. Ich hatte nicht bemerkt, dass er in die Bank gekommen war.
Ich überlegte kurz, ob ich den Sicherheitsdienst rufen oder den Jungen fragen sollte, was er wollte, und entschied mich für letzteres.
Er hielt sein blasses, kleines Gesicht dicht vor die Plastikscheibe und flüsterte verschwörerisch:
„Konto machen!“
Ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen.
„Du bist viel zu jung, um ein eigenes Konto zu eröffnen. Das können nur deine Eltern für dich machen,“ erklärte ich ihm langsam. Er verstand nicht.
„Du hast doch noch nicht einmal Geld,“ fügte ich hinzu, in der Hoffnung, dass er nun begreifen und weggehen würde.
Sein Gesicht rückte immer näher und er legte eine kleine Einkaufstasche auf den Tresen. Ich unterdrückte ein Seufzen und besah den Inhalt der Tasche. Es waren etwa ein Dutzend kleine Zuckerpäckchen, wie man sie in Cafés anstelle von Zuckerstreuern auf den Tischen stehen hat.
„Das sind Zuckerpäckchen,“ erklärte ich ihm, als ob er das nicht wüsste. Er nickte schnell und aufgeregt, legte seine unnatürlich dünnen und farblosen Hände auf den Tresen und lächelte mich breit an.
„Ziemlich wertvoll, was?“ rief er.
„Du möchtest ein Konto für deine Zuckerpäckchen eröffnen?“ fragte ich und bereute es im selben Augenblick. Als ob ich jetzt noch eine Chance gehabt hätte, Delly schnell wieder loszuwerden.
Er nickte und strahlte.
Eine ältere Dame betrat die Bank. Sie stellte sich hinter die auf den Boden gemalte Diskretionslinie und schaute mich auffordernd an. Ich sollte nicht mit dem behinderten Jungen plaudern, sondern echte Kunden bedienen.
Hastig zog ich die Tüte mit den Zuckerpäckchen hinter den Schalter und verstaute sie in einer Schublade.
„Ich mache dir ein Konto für deinen Zucker,“ sagte ich schnell zu Delly, „aber nur, wenn du jetzt gleich wieder nach draußen gehst und spielst, okay?“
Wieder nickte er und grinste und zeigte mir den Daumen nach oben.
„Cool!“ rief er, winkte mir zu und rannte nach draußen, und ich war insgeheim sehr erleichtert, dass er sich die Sache mit dem Hitlergruß schon vor einer Weile wieder abgewöhnt hatte, denn die ältere Frau wirkte auch so schon leicht pikiert.
In der Mittagspause ging ich rüber zu Belinda und erzählte ihr bei einem Espresso von der Begegnung, und sie erzählte mir flüsternd und kichernd von der neuen Aushilfe in der Eisdiele, einem ihrer Erzählung nach geradezu unfassbar schönen Griechen, der weder Italienisch noch Deutsch besonders überzeugend sprach.
Wir saßen auf der kleinen Terrasse und aalten uns in der Frühsommersonne und ich hatte über meinem Kaffee und Belindas Zigarettenrauch schon fast wieder vergessen, was mir eben passiert war.
Zwei Tage später war in der Bank viel zu tun, ich arbeitete konzentriert und hatte den Blick auf irgendjemandes Sparbuch geheftet, als Dellys helle, piepsende Stimme durch das Foyer schallte.
„Durchlassen, ich möcht´ an mein Konto!“ rief er und drängte sich zwischen den Wartenden hindurch zu mir. Ich hatte ihn völlig vergessen und seine Zuckerpäckchen lagen immer noch in der Schublade.
Ungerührt von der Tatsache, dass ein Mann vor dem Schalter stand und offenbar gerade im Gespräch mit mir war, stellte Delly sich wieder dicht an die Plastikscheibe und legte freudestrahlend einige lose Zuckerpäckchen und einen Frischhaltebeutel voll Zucker vor mir hin.
Irritiert sah der Mann Delly an, und ich beeilte mich, sein Anliegen zu bearbeiten. Einige der Wartenden räusperten sich hörbar. Als der Mann mit seinem Sparbuch fertig war, lächelte ich den Menschen in der Warteschlange entschuldigend zu und beugte mich zu Delly.
„Du kannst nicht einfach hier rein kommen und dich vordrängeln,“ flüsterte ich ihm zu. Seine großen hellen Augen drückten Unverständnis aus. Er schob den Zucker näher zu mir und flüsterte zurück:
„Das kommt bitte auf mein Konto.“
„Du hast hier nichts verloren,“ sagte ich etwas lauter, die Situation war mir vor den anderen Kunden sehr peinlich, sie tuschelten schon.
Ich klaubte die Papiertütchen vom Tresen und ließ sie hastig in der Schublade verschwinden, in der auch schon die andern lagen.
„Gut, aber jetzt geh, ja?“ zischte ich Delly an. Er winkte mir wieder fröhlich zu und lief raus, wobei er die anstehenden Menschen anlachte. Ein paar lächelten zurück.
Am Nachmittag, als die Bank schloss, nahm ich die Einkaufstüte mit Dellys Zuckersammlung mit nach Hause. Belinda sah mich schräg an, als ich ihr beim Abendessen davon erzählte. Sie sagte nichts, rauchte am offenen Küchenfenster und zog sich ein Kleid an. Dann ging sie los, um sich mit dem Griechen zu treffen, und ich saß am Tisch und war froh, dass Samstag war und Delly morgen nicht zur Bank gehen konnte.
Ich holte die Zuckertüten aus meiner Handtasche und sah sie an. Sie waren aus verschiedenen Cafés und Kneipen in der Stadt, aus „Kelly´s Kaffee“, der „Bar Marina“ und der Eisdiele. Offenbar wusste Belinda nicht, dass ein Zuckerdieb sich an den Tischen auf der Terrasse bediente, oder es war ihr egal, weil sie sowieso nur von dem Griechen träumte oder davon, eine berühmte Schauspielerin zu werden.
Ich suchte einen alten Schuhkarton heraus, legte Dellys Schatz darein und schrieb mit einem dicken Filzstift „Konto von Delly“ darauf. Den Karton stellte ich auf das Schränkchen im Flur, ich wollte ihn am Montag wieder mit in die Bank nehmen und Delly überreichen, falls er noch einmal auftauchte. Dann könnte er sein Konto bei sich zu Hause aufbewahren und würde nicht mehr für Unruhe sorgen.
Am Sonntagmorgen in der Dämmerung kam Belinda heim, die blonden Haare klebten an ihrem Gesicht, und wir frühstückten und redeten nur über unsere Pläne, endlich wegzuziehen.
Delly kam von da an fast jede Woche mindestens ein mal zur Bank und vertraute mir seine kostbaren neuen Errungenschaften an. Meinen Vorschlag, er könne sein eigenes Konto mitnehmen, was den Vorteil mit sich brächte, dass er seine Sammlung jederzeit würde betrachten können, hatte er nicht einmal zur Kenntnis genommen.
Also verwahrte ich den Schuhkarton mit der beständig wachsenden Ansammlung verschiedenster bedruckter Zuckerpäckchen unter meinem Tresen und hoffte ständig, keinen Ärger mit den Bankkunden oder dem Direktor zu bekommen. Wenn Delly das kleine Foyer betrat, wusste ich schon, was folgte, warnte die wartenden Kunden, entschuldigte mich, wickelte schnell das „Geschäft“ mit Delly ab und war froh, wenn nicht viel los war.
Belinda rauchte auf der anderen Straßenseite, räumte leere Eisbecher von den Tischen, knutschte heimlich mit dem Griechen, wenn ihr Chef im Hinterzimmer war und gab mir in der Mittagspause Kaffee umsonst.
Einmal kam Dellys Mutter zu mir in die Bank. Sie war eine kleine, graue Person und wirkte viel älter, als sie sein mochte. Ihr Sohn Daniel habe erzählt, er habe hier ein Konto eröffnet und sei schon sehr reich, es klang wie ein Vorwurf. Das sei Unsinn, behauptete ich. Er habe ja garkein Geld, nicht wahr?
Da verließ Dellys Mutter schulterzuckend die Bank und schlich wieder in ihr Haus und ich hörte nichts mehr von ihr.
Im Hochsommer schwitzte ich in meinen schwarzen oder dunkelblauen Kostümen und Strumpfhosen. Belinda trug bunte Kleider und ihre grüne Schürze und wollte sich von ihrem Freund nicht überreden lassen, mit ihm zurück nach Griechenland zu gehen. Also ging er alleine und Belinda heulte, während sie Eis verkaufte, während sie aus lauter Traurigkeit noch mehr rauchte und im Treppenhaus mit dem Besitzer des Plattenladens, über dem wir wohnten, über die Vergeblichkeit der Liebe redete.
Unterdessen sortierte ich die Zuckersammlung auf Dellys Konto. Nach Größe, nach Farben, nach der jeweiligen Bar, aus der der Zucker geklaut worden war. Manchmal wollte Delly sein Konto ansehen, und er freute sich über alle Maßen, wenn ich es neu sortiert hatte und ihm, falls ich sonst nichts zu tun hatte, erklärte, in welcher Reihenfolge seine Schätze nun angeordnet waren.
Er spielte mit den bunten Päckchen, brachte meine Ordnung durcheinander und war verzückt.
Meistens nahm ich den prall gefüllten Karton nach Feierabend mit nach Hause, damit der Bankdirektor und die Putzfrau ihn nicht finden und wegschmeißen konnten.
Belinda und ich sparten weiter, auch wenn meine Schwester einige Male kurz davor stand, all ihr Erspartes zu nehmen und nach Griechenland zu reisen, um ihren ehemaligen Liebsten zu finden. Ich verbot es ihr und irgendwann vergaß sie die Idee auf dem Fußboden hinter der Kasse des Plattenladens.
Der August ging vorüber wie im Traum, Belinda lackierte mir die Fingernägel, wir hörten bei geöffneten Fenstern Musik und ich fand es überaus schade, dass das ganze Geld, das täglich durch meine Hände ging, nicht Belinda und mir gehörte. Der August ging so vorüber, dass ich erst spät bemerkte, dass Delly schon seit einer ganzen Weile nicht mehr in der Bank gewesen war. Sein Zuckerkonto stand unberührt da, ich arbeitete, in der Mittagspause saß ich auf der Terrasse bei Belinda und dem Plattenladenbesitzer, der mit mir gemeinsam nach Delly Ausschau hielt.
Er sei nun auf einer speziellen Schule, wo man auf seine speziellen Bedürfnisse eingehen könne, sagten ein paar Leute. Seine Eltern haben ihn umgebracht und im Garten vergraben, behaupteten andere, ich glaubte denen, die ihn auf einer Spezialschule wähnten und nahm sein Konto mit nach Hause und verstaute es irgendwo im Schrank.
Im nächsten Frühling zog Belinda mit dem Plattenladenbesitzer nach Spanien, wo sie gemeinsam einen neuen Plattenladen eröffneten. Belinda wurde keine berühmte Sängerin oder Schauspielerin, aber es gefiel ihr in Spanien, und wir besuchten uns oft gegenseitig.
Ich hingegen suchte mir eine Wohnung am westlichsten Rand von Deutschland, weit weg von der kleinen Stadt, in der ich aufgewachsen bin, und studierte mit einem Stipendium.
Die Zeiten sind immer noch leicht und schwer, leicht, weil ich nicht mehr schwitzend in einem marineblauen Kostüm hinter der vergilbten Plastikscheibe stehen muss, schwer, weil Belinda so weit weg ist und ich immer das Gefühl habe, eine Sache nicht zu Ende gebracht zu haben. Manchmal fahre ich in das Städtchen, in dem sich nicht viel verändert hat, setze mich auf die Eisdielen-Terrasse, bestelle mir einen Espresso, für den ich dann leider bezahlen muss. Das Zuckerkonto habe ich dabei, falls Delly von seiner Spezialschule zurückgekommen ist und auf einer Bank am Marktplatz sitzt oder wie wild durch die Straßen rennt und alleine spielt oder die Touristen verschreckt. Vielleicht sehe ich seinen kleinen blonden Kopf irgendwann in der Menge und kann ihm sein Konto, seinen Schatz, wiedergeben.