Delirium
Edmund O´Donnel sitzt jeden Abend auf seiner Veranda. Edmund trägt einen hellblauen Pullover, den er nur ungern in die Obhut seiner Waschmachiene gibt. Edmund trinkt Jim Beam aus einem Glas, das er auf dem Jahrmarkt beim Tontaubenschießen gewonnen hat, weil er so gut schießen kann. Der Jim Beam stammt aus dem Keller seines Vaters. Natürlich weiß das sein Vater nicht, aus zwei Gründen: Hätte Edmund O´Donnel´s Vater gewusst, dass sein Sohn seinen Jim Beam aus dem Keller entwendet und das regelmäßig, hätte er Edmund so sehr verprügelt, wie sein eigener Vater zu seinen besten Zeiten, als die Lähmung in den Gelenken noch nicht so fortgeschritten gewesen war. Der zweite Grund ist wesentlich simpler: Edmund O´Donnels Vater ist tot. Er ist beim Bier holen über den Einkaufswagen einer gottverdammten Negerin, wie sein vater sie zu nennen pflegte, gestolpert und hatte sich das Genick gebrochen. Edmund hat kein Geld für eine Beerdigung, also ruht sein Vater in dem von Unkraut überwucherten Garten hinter dem Haus. Edmund´s Mutter ist ebenfalls tot, jedenfalls in Edmunds Augen. Sie liegt in dem Bett aus Zedernholz, das er ihr gebaut hat und starrt die Wand an. Den ganzen Tag. Genau das ist die Vorstellung, die die meisten Leute von Edmund O´Donnel haben. Die Leute, die abends wenn er auf der Veranda sitzt an ihm vorbeigehen un ihm kurze Blicke aus den Augenwinkeln zuwerfen; oder die Leute die ihn auf der Strasse, wo er allerdings selten anzutreffen ist, freundlich grüßen, obwohl die Vorstellung in ihrem Kopf von dem Jungen in dem hellblauen Pullover, alles andere als freundlich ist.
Doch diese Vorstellung trifft nicht exakt auf Edmund O´Donnel zu. Es ist eigentlich so...
Edmunds Mutter liegt in einem Bett aus Zedernholz, das ihr Bruder ihr einst aus fernen Ländern mitgebracht hat. Sie starrt die Wand an. Den ganzen Tag. Edmunds Vater liegt in dem von Unkraut überwucherten Garten hinter dem Haus. Ein einfaches Holzkreuz ziert sein Grab. Edmunds Vater hat sich beim Bier holen das Genick gebrochen in dem er auf den Bürgersteig geflogen ist, aber nicht über den Einkaufswagen einer gottverdammten Negerin, sondern über den Fuß, den sie ihm gestellt hat
und Edmund weiß das, denn er ist ja nicht blöd.
Und dann ist da noch etwas, dass die Leute nicht wissen und was sie nicht bedenken, wenn sie sich das Bild von dem Jungen auf der Veranda ansehen: Edmunds hellblauer pullover trägt in der Mitte eine rote Aufschrift und die ist eigentlich nicht zu übersehen:
AMOK
steht da in mittelgroßen Buchstaben geschrieben.
Jetzt hat Edmund eine Idee. Er hat diese Idee öfters, mehrmals am Tag, doch jetzt hat sich zu dieser Idee auch noch Spaß gesellt. Edmund weiß, dass ihm diese Idee Spass machen wird, alleine daran zu denken macht schon Spaß.
Würde in genau diesem Augenblick, zum Beispiel ein Nachbar, von der anderen Straßenseite auf Edmund O´Donnel´s Veranda schauen, so würde er etwas sehen, dass ihm seltener als eine Sonnenfinsternis erscheinen würde: Edmund steht früher als sonst aus seinem Schaukelstuhl auf, stellt das Glas, das er auf dem Jahrmarkt gewonnen hat, weil er so gut schießen kann, behutsam als wäre es ein Baby, auf den Tisch und verschwindet im Haus.
Edmund geht die Treppen in den ersten Stock hinauf. Sie sind alt und knirschen bei jedem Schritt den er macht, doch er hört es kaum. Er geht weiter, den Flur etnlang, vorbei am Zimmer in dem seine Mutter liegt; er sieht sie aus den Augenwinkeln, doch er registriert sie kaum. Auch der Boden unter seinen Füßen ist alt und auch er knirscht bei jedem Schritt den Edmund geht. Putz brökelt von den Wänden, doch er sieht es kaum. Am Ende des Flurs ist eine Türe und Edmund macht sie auf. In dem Zimmer steht nicht viel. Ein leeres Bett, es ist das seines Vaters. Ein Schrank, der ebenfalls aus Zedernholz ist, doch das ist nur Zufall und ein Schreibtisch, den nur leere ausruckslose Blätter bedecken. Er geht auf den Schrank zu und macht ihn auf. Er ist nicht verschlossen, das Schloss ist kaputt. Edmund nimmt die Waffen, drei an der Zahl, heraus und betrachtet sie lange. Das alte Gewehr seines Vaters fühlt sich gut an in seiner Hand und er legt es auf das Bett. Der Revolver seines Großvaters, mit dem feinen Sandelholzgriff ist ebenfalls wunderschön. Edmund wiegt ihn in seiner Hand und steckt ihn dann in die Hosentasche seiner ausgebleichten Jeans. Und dann ist da noch das Armeemesser seines Onkels. eigentlich passt es nicht in die Sammlung der antiken Waffen, doch auch das Messer gefällt ihm und er steckt es ein.
Man kann ja nie wissen,
denkt er sich und grinst. Sein Grinsen entblöst seine zum Teil schwarzen Zähne. Edmund geht nicht zum Zahnarzt, vor ihm hat er Angst.
Zufrieden blickt er sich um. Im ganzen Raum. Dann dreht er sich um und geht den Weg hinaus, den er gekommen ist und er registriert wieder nicht die ganzen Detaills seiner Umgebung.
Hätte wieder ein Nachbar aus dem Fenster gesehen, so hätte er einen etwas pummeligeren Jungen gesehen, als den von vorhin, obwohl es zweifelsohne der Gleiche ist, den sein hellblauer Pullover mit der roten, mittelgroßen Aufschrift
AMOK
ist im ganzen Viertel einzigartig. vermutlich will ihm keiner ähneln. Der Nachbar, der jetzt also vermutlich aus dem Fenster sieht, sieht nicht die Waffen und die Munition unter dem hellblauen Pullover und wendet sich ab.
Edmund geht die Straße einfach weiter. Er weiß genau wohin er will. Sein Blick ist starr auf einen
nicht definierbaren Punkt gerichtet und die Leute die ihm begegnen, die ihn entweder gar nicht beachten oder nur aus den Augenwinkeln ansehen, sehen nicht den geisteskranken Ausdruck, der sich schon lange sehr tief in ihm verbirgt und der sich jetzt in Edmunds Augen sichtbar zeigt. Edmund O´Donnel geht durch einen Park, er sieht die Leute nicht, die an ihm vorbeigehen, für ihn sind sie Maschienen und das schon lange. Die böse Frau, die ihn unverholen anzugrinsen scheint, sie sieht er. Edmund schießt ihr in den Kopf. er steht hinter einem Busch und etwa dreissig Meter von ihr entfernt, aber er braucht nur einen Schuss, denn Edmund ist ein verdammt guter Schütze. Die Frau geht wie ein Mehlsack zu Boden und die Art, in der ihr Kopf auf den Asphalt knalt, lässt ihn an seinen Vater denken und er muss erneut grinsen. Ein frischer Wind weht ihm durchs Haar und den registriert er, aber nicht, weil der Wind ihn streichelt, sondern weil er die Stimmen der Toten an Edmunds Ohren trägt. Edmund gefällt der Ausdruck
die Stimmen der Toten
und wieder grinst er. Die Leute die ihn jetzt sehen, sehen einen jungen Mann, der grinst oder vielmehr, dessen Mund grinst, denn seine Augen grinsen nicht mit.
Edmund hat die Stimmen der Toten vernommen und er geht unbeirrbar den Kriegspfad, so hat die Stimme in seinem Kopf die Schluchten seiner Stadt genannt, entlang. Vor einem Laden mit der Aufschrift LEBENSMITTEL bleibt er stehen.
Er zögert.
Du bist hier richtig
sagt die Stimme in seinem Kopf, doch es ist nicht seine Stimme, es ist die seines Vaters und sie klingt bedrohlich. Edmund weiß natürlich, dass er hier richtig ist, er ist ja nicht blöd. Er öffnet die Türe des Ladens und geht hinein.
Die frau die die Regale einräumt ist schwarz und als sie Edmund ansieht glaubt er tief in ihren Augen den Ausdruck des Wiedererkennens zu sehen. Die Frau fragt ob sie ihm helfen könne und Edmund kennt die Stimme, er hat sie vorhin im Park schon gehört, der Wind hat sie ihm geflüstert. Edmund schiesst ihr zweimal in die Brust. Sie sackt in sich zusammen und bleibt mit einem Ausdruck in den Augen liegen, der das pure Entsetzen zeigt. So wird sie wenig später gefunden.
Als Edmund den Laden verlässt, weiss er, dass es ihm Spaß macht. Es ist wie Tontaubenschiessen, nein, es ist
besser
und das weiß er auch. Er betrachtet den Bordstein vor dem Laden lange und für einen Moment glaubt er seinen Vaters dort liegen zu sehen. Nicht ihn, aber den mit Kreide gezeichneten Umriss seiner Leiche. Edmund geht weiter und der Wind trägt ihm ein Heer von Stimmen zu und er glaubt alle zu kennen. Der Ausdruck in seinen Augen ist beinahe erloschen, sein Augen scheinen tot und doch hellwach zu sein.
Irgendwie gefährlich.
Ihm begegnen ununterbrochen Menschen. Manche beachten ihn, viele jedoch nicht und ihre Gesichter kennt Edmund auch.
Es sind Tontauben.
Hunderte. Tausende. Unzählige Tontauben hier direkt vor ihm und obwohl Edmund O´Donnel den Hauptpreis nicht kennt, fühlt er unbändige Euphorie in sich aufsteigen, wie sie kleine Kinder vom Jahrmarktkarussell her kennen.
Oder vom Tontaubenschiesen.
Edmund macht sich jetzt nichts mehr aus den Gesetzen seines Vaters sondern geht seinen Weg,
seinen Kreuzzug
durch die Schluchten der Stadt. Er bahnt sich einen Weg durch die Masse,
Tontauben
grinsend, während der einst freundliche Blick seiner graugrünen Augen immer mehr zu einem gemütskranken Ausdruck der Abscheu und des Grauens mutiert und jämmerlich zu grunde geht.
Stirbt
Edmund macht jetzt keinen Unterschied mehr zwischen Menschen und Tontauben, es ist ihm egal. Alle, jeder Einzelne, der ihm hier begegnet hat unverkennbar eine Zielscheibe auf der Stirn tättowiert; die Stimmen in seinem Kopf
die Stimmen der Toten
schlagen groteske Oktaven und raunen ihm abscheuliche Dinge ins Ohr, die er sich merkt und die ihm gefallen.
Edmund O´Donnel befindet sich auf einem riesigen Jahrmarkt und diese Vorstellung scheint ihn noch mehr zu beflügeln. Ein Mann fragt ihn nach der Uhrzeit und bevor er zweimal blinzeln kann schießt Edmund ihn nieder.
Volltreffer
jubelt die Stimme in seinem Kopf, doch er hört sie nicht, genausowenig wie er die Menschen,
die Tontauben
fühlt, die ihn anrempeln und die Stimmen in seinem Kopf dröhnen und höhnen, sind weit weg und wieder beängstigend nahe.-
Das ist der Wind
Nur langsam versteht er, was sie rufen und es überkommt ihn eine panische Gewissheit, dass die stimmen der Toten seinen Namen nennen.
Wieder und wieder.
Würde in exakt diesem Augenblick ein nachbar einen seltenen Blick auf die Veranda der O´Donnels werfen, so sehe er den schlafenden Edmund, der sich die Augen reibt und sich langsam aufrichtet. Den Edmund, der nach seinem Glas Coca-Cola greift und es sich zum Mund führt. Er sehe Mr. O´Donnel, einen kräftigen Mann im Türrahmen stehen und neben ihm seine Frau mit geröteten Wangen, die den Namen ihres Sohnes ruft. Würde der Blick des Nachbarn wieder auf Edmund fallen, so würde er einen Jungen im Schaukelstuhl sehen. Einen Jungen mit ausgebleichter Jeans und einem hellblauen Pullover, mit der roten, mittelgroßen Aufschrift
I LOVE NEW YORK, der gerade geschlafen zu haben schien.