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Serie Deine Sehnsucht

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21.01.2009
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Deine Sehnsucht

Es ist hart, wenn man sich morgens um sechs in die atmungsaktiven, wärmeisolierten Laufklamotten zwängt, wenn man die anatomisch geschnittene Mütze aus Thermo-Stretch-Funktionsmaterial für sehr kalte Tage aufsetzt und in die vorfuß- und fersengedämpften Sportschuhe steigt, um eine Runde durch den Wald zu laufen. Und es ist besonders hart, wenn es sich dabei um einen Montagmorgen im Januar handelt, während der Ostwind Schneeregen übers Land treibt. Dann beginnt man zu zweifeln, an seinem Verstand, an der Sinnhaftigkeit seines Tuns, am Leben im Allgemeinen. Doch wenn man die Vierzig überschritten hat, wenn sich Bequemlichkeit, Alkohol, fettes Essen in Form von erschlaffendem Bindegewebe in der Bauchregion und das Herz durch Extrasystolen bemerkbar machen, dann fällt es leichter die Frage nach der Sinnhaftigkeit zu ignorieren. In wenigen Wochen werde ich fünfundvierzig …
Also öffne ich die Haustür und trete in die Kälte hinaus. Ich gehe einige Meter, vollführe ein paar Dehnübungen, dann laufe ich los. Zügig. Ich friere. Meine Beine sind schwer. Mein linkes Knie schmerzt. Jetzt schon. Ich spüre meine Schulterverspannungen. Fünfunddreißig Minuten liegen vor mir. Fünfunddreißig Minuten und zwei unangenehme Steigungen.
Ich überquere die Kreisstraße, laufe nach Westen den Fahrradweg entlang. Ich schalte meine Stirnlampe mit Streulinseneffekt ein, weil die Straßenbeleuchtung am Ortsausgangsschild endet. Nach zweihundert Metern laufe ich in den Wald hinein. Hier ist es stockdunkel, doch die Leuchtweite der Stirnlampe beträgt fünfzehn Meter. Die Gefahr über eine Rotte Wildschweine oder freilebende Wölfe zu stolpern ist demnach relativ gering.
Der Waldweg beginnt mit einer langgezogenen, fünfzehnprozentigen Steigung. Ich kontrolliere meine Atmung. Durch die Nase einatmen, durch den Mund ausatmen. Wegen der kalten Luft, um die Bronchien zu schonen, und weil ich es in einem Laufbuch-Bestseller eines berühmten Langstreckenläufers gelesen habe. Darin steht zwar auch, dass man als Laufanfänger Steigungen meiden oder zunächst nur gehend bewältigen solle, doch ich stehe nicht um fünf Uhr fünfundvierzig auf, um durch die Eiseskälte zu gehen …
Als ich das Ende der Steigung erreiche, habe ich längst die Kontrolle über meine Atmung verloren. Ich werfe einen Blick auf meine neue Pulsuhr mit integrierter Herzfrequenz-Zielbereichseinstellung. Hundertzweiundfünfzig Schläge in der Minute, zeigt mir das digitale Nightlight-Display an. Das ist eindeutig zuviel! Das ist absolut anaerob! Ich verlangsame meine Geschwindigkeit und gehe nun, ähnlich einem staksigen Schnellgeher, den aufgeweichten Sandweg entlang. Meine atmungsaktiven Winterlaufsocken sind durchnässt. Es fühlt sich an, als gehe ich auf nassen Schwämmen.
Ich laufe wieder los. Langsames Tempo, jedoch schneller als schnelles Gehen. Es handelt sich eindeutig um Laufen. Das ist wichtig.
Die zweite Steigung, die zwar kürzer aber wesentlich steiler ist, zwingt mich in die Knie. Meine Beine scheinen mit jedem Schritt Tonnen stemmen zu müssen. Mein Puls schießt in die Höhe. Ich gebe auf und erklimme die Steigung kaum schneller als ein sonntäglicher Spaziergänger.
Als ich den Wald verlasse und auf dem Fahrradweg in Richtung Ortseingang zurücklaufe, bläst mir der Ostwind unbarmherzig entgegen.

Nachdem ich mich geduscht und mein krebsrotes Gesicht rasiert habe, sitze ich am Esstisch, esse Toast und trinke Kaffee. Es ist angenehm ruhig im Haus. Lediglich das Ticken der nachempfundenen Bahnhofsuhr aus der New Yorker Grand Central Station erfüllt die Stille. Meine Frau wird in einer halben Stunde aufstehen. Sie wird ihre Yoga-Matte ausrollen und den Sonnengruß vollziehen. Danach wird sie mit einem dehnbaren Gymnastikgummiband verschiedene Übungen trainieren, bevor sie sich den Schweiß mit einer heißkalten Wechseldusche abspült. Anschließend wird sie warmes Müsli mit Hafermilch löffeln und Kaffee mit Magermilch trinken. Um neun Uhr wird sie ihren Laden für gebrauchte Reitsportartikel öffnen, den sie sich im Souterrain des Hauses eingerichtet hat und der eher mäßig läuft.
Meine sechzehnjährige Tochter wird auch diesen Ferientag verschlafen, mein neunzehnjähriger Sohn ist vermutlich nicht zuhause. Niemand weiß wo er ist, wann er kommt, wohin der geht. Er hat sich aufgelöst. Er erscheint nur noch punktuell, in Minisequenzen, wie eine kurze Gastrolle in einer langweiligen Familien-Sitcom.
Ich werde von all dem nichts mitbekommen, da ich um halb acht das Haus verlasse.

Ich verdiene mein Geld als Psychologe in Lübeck. Ich arbeite sechzig Stunden in der Woche und benötige fünfundvierzig Minuten, um von der dörflichen Haustür an meinen städtischen Schreibtisch zu gelangen. Als ich mich vor fünf Jahren selbständig machte, hatte ich zehn Jahre Klinikalltag in der Psychiatrie hinter mir. Die Aufgabe der sicheren Anstellung hatte etwas Revolutionäres und rief die Sicherheitsfanatiker, die Eltern und Schwiegereltern auf den Plan. Sie schlugen die Hände über den Köpfen zusammen. Sie erbrachen ihre Skepsis in endlosen Tiraden. Sie schälten in stundenlangen Diskussionen die Vorteile einer Festanstellung heraus und zeichneten die Freiberuflichkeit in düstersten Farben. Sie redeten mir ins Gewissen, appellierten an meine Vernunft als Ehemann, Vater, Sohn und Immobilienbesitzer. Sie fuhren mächtige moralische Geschütze auf, doch ich spürte, dass ich mich verändern musste, um eines Tages nicht selbst als Patient in der Klapse zu landen.
Doch die anfängliche Euphorie ist nach fünf Jahren der nüchternen Erkenntnis gewichen, dass eine persönliche Veränderung nicht durch einen Jobwechsel herbeigeführt werden kann. Aber die Praxis läuft gut und wirft, wenn ich sechzig Stunden in der Woche arbeite, genug ab, um relativ sorglos davon leben zu können. Ich bezweifle, dass das der vielfach gesuchte Sinn des Lebens ist, doch mittlerweile besteht für derlei Überlegungen kein Spielraum mehr, da die Lebenshaltungskosten soweit angewachsen sind, dass sich gewisse Fragestellungen erübrigen. Selbstdiagnostisch würde ich behaupten, dass meine Ich-Funktionen im Bereich der Frustrationstoleranz gut ausgebildet sind.

Wie jeden Morgen rauche ich zunächst eine Selbstgedrehte am offenen Bürofenster. Dann schlage ich meinen Terminplaner auf und betrachte die Namen von Menschen, die mir heute in meinem Behandlungszimmer gegenüber sitzen werden. Es sind neun Stück. Neun Gesichter, neun Fassaden, neun Geschichten, neun Tragödien. Ich werde ihnen in die Augen schauen, werde an den Fassaden kratzen, werde Vater, guter Freund, Ratgeber, Wegweiser, Projektionsfläche und Übertragungsobjekt sein, werde Notizen machen, werde um neun Uhr damit beginnen, werde eine Stunde Mittagspause haben und werde gegen neunzehn Uhr dreißig in mein Auto steigen, um zurück aufs Land zu fahren.
So vergehen die Tage. Den notwendigen Schriftkram erledige ich zwischen den Gesprächen, in der Mittagspause, in terminabsagebedingten Freistunden oder am Samstag in meinem Büro zuhause.
Das ist mein Leben ...

Dieser Montagvormittag verläuft ohne nennenswerte Vorkommnisse, bis auf die Tatsache, dass mich beim vierten Gespräch eine hartnäckige Müdigkeit überkommt. Das liegt zum einen an Fleischmann, einem depressiven Mittdreißiger, der seiner verflossenen Liebe nach drei Jahren weiterhin hinterhertrauert. Er spricht mit leiser, tonloser, weinerlicher Stimme. Zum anderen liegt es vermutlich an der morgendlichen Waldrunde, die sich nun bemerkbar macht. Ich blicke in Fleischmanns leidvolles Gesicht, verändere immer wieder meine Sitzposition und kämpfe gegen die schwerer werdenden Augenlider an. Um zehn vor eins ist es geschafft. Ich verabschiede Fleischmann, rauche eine Selbstgedrehte am offenen Bürofenster und hole mir belegte Brötchen vom Bäcker gegenüber. Ich rauche eine weitere Selbstgedrehte, dann lege ich mich auf die Bürocouch und döse eine Weile vor mich hin.
Der Nachmittag plätschert in ebenso gleichförmiger Ereignislosigkeit dahin. Zwischen den Gesprächen trinke ich schwarzen Kaffee. Der siebzehn-Uhr-Termin erscheint nicht. Ich lege mich erneut auf die Couch, weil ich zu müde bin, um mich mit Bürokratie zu befassen. Ich nehme mir vor, sportliche Aktivitäten zukünftig auf den Abend zu verlegen. Um achtzehn Uhr wird das Erstgespräch mit einer neuen Klientin stattfinden. Ihr Name ist Maria Greco. Dann falle ich in einen oberflächlichen Schlaf.

Maria Greco erscheint um fünf nach sechs. Sie ist jung, Mitte zwanzig, und sie ist hübsch. Groß, schlank, schwarze Korkenzieherlocken und die Farbe ihrer Augen erinnern mich an das Grün norwegischer Fjorde. Sie trägt Jeans und Stiefel, ein fliederfarbenes Oberteil, darüber eine abgewetzte Lederjacke. Wir setzen uns ins Behandlungszimmer, sie schlägt die Beine übereinander und sieht mir in die Augen, während ich einen Bogen Papier unter das Klemmbrett schiebe, um mir Notizen zu machen.
„Was führt Sie zu mir?“, frage ich wie üblich.
„Mein Vater schickt mich“, sagt sie mit fester Stimme.
„Ihr Vater schickt Sie, soso … Und warum schickt Ihr Vater Sie?“
„Vermutlich nicht, um ein halbes Pfund Beefsteakhack bei Ihnen zu kaufen“, erwidert sie, ohne ihre ernste Mimik zu verändern.
„Vermutlich nicht“, sage ich gelassen, obwohl mich ihre Antwort irritiert. „Warum also dann?“
„Vermutlich weil er der Meinung ist, dass ich die Hilfe eines Seelenklempners brauche.“
„… und glauben Sie das auch?“
„Ich glaube, dass es meinem Vater an der nötigen Toleranz fehlt, um seiner Tochter ein freies Leben zu gewähren“, sagt sie.
„Wie alt sind Sie, Frau Greco?“
„Sechsundzwanzig.“
„Nun, Sie sind erwachsen und können ein eigenverantwortliches Leben führen. Warum tun Sie dennoch das, was Ihr Vater von Ihnen verlangt?“
„Weil mein Vater im Laufe seines Lebens durch zwielichtige Immobiliengeschäfte Millionen verdient hat und weil er mich enterben will, wenn ich seinen Anweisungen nicht nachkomme.“
Ihr fester, unnachgiebiger Blick verunsichert mich. Spannung baut sich auf. Es ist die Spannung, die bei Zweikämpfen entsteht.
„Und glauben Sie, dass das als Motivation für eine Psychotherapie ausreicht?“, frage ich mit ruhiger Stimme.
„Ich glaube, dass Sie Geld verdienen müssen, um Ihre Rechnungen und Kredite zu bezahlen, um Ihrer Frau und Ihren Kindern ein angenehmes Leben zu bieten, weil Sie in der Falle sitzen, wie so viele andere Typen auch.“
„Das beantwortet nicht meine Frage“, lächle ich.
„Doch, das tut es. Sie nehmen mich in Therapie, wir tun als ob und mein Vater zahlt das Honorar. Er ist privat versichert.“
Ich meine ein Funkeln in ihren Augen wahrzunehmen. Ein kurzes Aufblitzen. Ich frage mich, ob sie tatsächlich etwas über mich und mein Leben weiß oder ob es ein Schuss in den Busch war, in der Hoffnung ein darin vermutetes Tier zu erlegen.
„Hören Sie, Frau Greco, es gibt gewisse Prinzipien, die ich befolge. Eine dieser Prinzipien ist, dass ich grundsätzlich keine Therapie anbiete, wenn es an Motivation mangelt. Es gibt genug Leute, die darauf warten und angewiesen sind, einen Therapieplatz zu bekommen. Insofern mache ich keine falschen Kompromisse.“
Jetzt lächelt sie. „Ah, Sie sind also ein ganz Aufrechter. Ein Unbestechlicher. Einer mit Prinzipien. Einer, der an das Gute im Menschen glaubt.“
„Wie auch immer Sie es bezeichnen mögen, ich lasse mich auf solche Sachen nicht ein.“
Sie legt den Kopf in den Nacken, streckt die Arme in die Höhe, streckt mir die Brust entgegen und seufzt. „Und was sage ich nun meinem Vater? Er wird enttäuscht sein, dass Sie mich nicht als Patientin annehmen.“
„Er kann mich während der telefonischen Sprechzeiten gern anrufen; dann erläutere ich ihm meine Sichtweise“, sage ich.
Sie grinst mich an. „Vielleicht wird er es sogar tun. Doch denken Sie noch einmal über mein Angebot nach“, sagt sie und legt den Kopf zur Seite. „Sie sind ein gar nicht mal so unattraktiver Mann, wissen Sie das eigentlich? Ich kann mir vorstellen, dass auch ich Ihnen gelegentlich einen kleinen Gefallen tue, ganz unverbindlich natürlich. Denken Sie darüber nach, Herr Psychologe.“
Sie steht auf, greift in die Seitentasche ihrer Lederjacke, zieht eine Visitenkarte hervor und wirft sie mir auf das Klemmbrett auf meinem Schoß. „Ich bin Tag und Nacht über mein Handy zu erreichen.“ Sie lächelt. Dann wendet sie sich ab und verlässt das Behandlungszimmer. Ich sehe ihr nach, bis die Tür des Warteraums ins Schloss gefallen ist. Ich blicke auf die Visitenkarte. Deine Sehnsucht steht auf ihr in geschwungenen Buchstaben geschrieben. Darunter eine Mobilnetz-Nummer.
Ich gehe ins Büro, drehe mir eine Zigarette, öffne das Fenster und inhaliere. Draußen ist es dunkel geworden. Es regnet.

 
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Hallo machaczek,

ich mag den Stil und den Humor der Geschichte, der Charakter ist glaubwürdig und interessant gezeichnet und macht Lust auf mehr. Einzig die Gewichtung scheint nicht recht zu stimmen, die ganze (sehr unterhaltsam zu lesende) Vorgeschichte, und der eigentliche Konflikt kommt dann erst im letzten Drittel mit diesem unmoralischen Angebot. Aber gut, ist als "Serie" gekennzeichnet und insofern wohl Teil eines größeren Ganzen.

Darin steht zwar auch, dass man als Laufanfänger Steigungen meiden oder zunächst nur gehend bewältigen solle, doch ich stehe nicht um fünf Uhr fünfundvierzig auf, um durch die Eiseskälte zu gehen …

Den Gag mag ich, geschmunzelt habe ich schon bei "aber ich stehe nicht". Irgendwie wird es danach ein bisschen kompliziert, das mindert die Durchschlagskraft des Witzes. Da muss man um die Ecke denken, er will nicht gehen, ach klar, beim Gehen wird einem ja schneller kalt. Vielleicht geht das ein bisschen schnoddriger: "... aber ich stehe doch nicht um viertel vor sechs auf, um dann mit angezogener Handbremse durch die Eiseskälte zu schleichen." Auch nicht perfekt, aber ich würde auf jeden Fall die drei Punkte am Ende wegnehmen und fünf Uhr etc. durch viertel vor sechs ersetzen, auch das "doch" muss da m. E. rein.


Das ist eindeutig zuviel! Das ist absolut anaerob!

Und absolut witzig, aber ohne die Ausrufezeichen käme es lässiger, unaufgeregter und somit für mich noch besser. (!)


Niemand weiß wo er ist, wann er kommt, wohin der geht.

Finde ich auch super. Aber "er geht" statt "der geht".

Er erscheint nur noch punktuell, in Minisequenzen, wie eine kurze Gastrolle in einer langweiligen Familien-Sitcom.

Er erscheint nur noch punktuell, wie ein Gaststar in einer Sitcom. Knackiger.


Als ich mich vor fünf Jahren selbständig machte

Perfekt klingt logischer, weil er ja noch selbstständig ist.


dass ich mich verändern musste, um eines Tages nicht selbst als Patient in der Klapse zu landen.

Das finde ich nicht so originell. Um nicht vom Kopf-Doktor zum Kopf-Patienten zu werden, um nicht vom Stuhl hinter dem Schreibtisch auf das Sofa davor zu wechseln, um nicht selbst irgendwann nur noch mit weichen Wachsstiften malen zu dürfen etc.


Doch die anfängliche Euphorie ist nach fünf Jahren der nüchternen Erkenntnis gewichen, dass eine persönliche Veränderung nicht durch einen Jobwechsel herbeigeführt werden kann. Aber die Praxis läuft gut

Holpert.


So vergehen die Tage. Den notwendigen Schriftkram erledige ich zwischen den Gesprächen, in der Mittagspause, in terminabsagebedingten Freistunden oder am Samstag in meinem Büro zuhause.
Das ist mein Leben ...

Würde ich komplett streichen. Der vorangehende Absatz braucht diese Abschlussbetrachtung nicht.


Grüße
JC

 

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