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Dein Wille Geschehe
„Doch dann hast du [Herr] dein Gesicht verborgen. Da bin ich erschrocken. Zu dir, Herr, rief ich um Hilfe, ich flehte meinen Herrn um Gnade an. Was nützt mein Blut, wenn ich begraben bin? Kann der Staub dich preisen, deine Treue verkünden?“
Psalm 20,8ff
(Die Bibel)
Jesus weilte angenagelt auf seinem Kreuz über ihm, angenagelt, wie er schon Jahrzehnte, ein Jahrhundert fast, hing. Vater Johann wälzte seinen Leib hin und her. Was hatte er getan? Wie konnte er es verantworten? Wohin sollte er fliehen, um sich zu verstecken? Würde Er ihn denn nicht finden, Er, der alles erschaffen hatte? Er, der sich selbst die dunkelsten Verstecke ausgedacht hatte?
„Herr, erhöre mich!“, schrie er das Kirchengewölbe an und tausende Stimmen kamen zurück geschossen. Das Echo kam Vater Johann so vor, als wolle Gott ihn nicht hören, als wolle Er seine Worte nicht annehmen, darum schleuderte Er sie auf ihn zurück.
Vater Johann zog den Kopf ein und versteckte sich unter seiner Kapuze, bis auch der letzte Fetzen seiner Stimme gestorben war. Dann stand er auf. Gebeugt, den Blick auf den Boden vor ihm gerichtet. Er konnte die Bilder um ihn herum nicht ertragen. Die Bilder von den sterbenden Sündern, die auf die Fenster gemalt waren. Die Bilder von Jesus, der brav die Prüfung Luzifers bestanden hatte. Statuen der Jünger, die überall in der Kirche herum standen, nie etwas böses getan hatten und schließlich heilig gesprochen worden waren.
War er denn nicht auch immer so ein Mann gewesen? Jemand, der alles richtig gemacht hatte? Einer, der auf dem besten Weg gewesen war, heilig gesprochen zu werden?
„Du Schlange!“, schimpfte er jemanden, der nicht da war und ging danach das Vaterunser betend zum Altar.
Er bereitete alles für die Messe vor, die in Kürze beginnen würde. Er richtete den Kelch her, in dem er roten Wein goss.
„Dies ist das Blut Christi...“, sagte er, hob den Kelch hoch um ihn der Petrus-Statue zu zeigen und nahm einen Schluck. Dann legte er das Heilige Brot auf die gefaltete Serviette. „Das ist der Leib Christi“, brach die Rohscheibe und legte es sich selbst auf die Zunge.
Es war nicht üblich, von sich selbst die Kommunion zu empfangen, aber er musste Gott zeigen, dass er glaubte! Dass er verdammt noch mal ein Sohn Gottes war!
Er bekreuzigte sich angesichts des Fluches, als Hände zusammengeschlagen wurden, immer und immer wieder. Doch es waren nicht seine Hände. Es klang wie Applaus einer verirrten Seele. Es wurde kalt.
Ein Mann trat aus der Sakristei. Er war gekleidet wie ein Mönch, wie Vater Johann selbst, doch die Farbe der Kutte des Mannes war... nicht richtig. Sie war kräftiger oder dunkler oder... Vater Johann konnte es nicht sagen.
„Wer sind Sie?“, versuchte Vater Johann mit kräftiger Stimme zu fragen, jedoch brach sie in der Hälfte des Satzes und überschlug sich über die restlichen Worte. Das Echo verstärkte die Lächerlichkeit der Stimme.
„Dein Vater“, sagte der Mann und Vater Johann erschrak. Natürlich war es nicht sein Vater, dieser wohnte Kilometer weit weg von Saint Coer. Wahrscheinlich war es irgendein verrückter, neuer Bruder aus Berloins. Das machte Vater Johann keine Angst. Nur die Stimme des neuen hatte etwas Furchterregendes.
„Mein Vater, ja?“, brachte Vater Johann heraus, jedoch hallte das Echo so laut, dass er sich vor nahm, nichts mehr zu sagen.
„Komm, mein Sohn“, sprach der Mann und verschwand in einer Öffnung in der Mauer, die Vater Johann noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Er folgte dem seltsamen Mann. Nun wusste er auch, was so seltsam an dessen Stimme war. Sie hatte kein Echo.
Die Öffnung in der Mauer gab eine Treppe frei, die sich spiralenförmig ihren Weg nach unten bahnte. Es gab kein Geländer und der Abstand zwischen den Stufen war teilweise so groß, dass Vater Johann springen musste um die nächste zu erreichen. Er konnte sich nirgends festhalten und an der Seite ging es viele Meter in die Tiefe.
Doch Vater Johann konnte nicht zurück, er musste dem Mann folgen. Er musste die Gestalt sehen, deren Stimme in der Kirche nicht widerhallt und die auf einen heimlichen Fluch mit Applaus geantwortet hat.
Immer weiter ging es die Treppen hinunter, Stufe für Stufe bahnte er sich seinen Weg in die Tiefe. Es wurde kalt um ihn herum, es fröstelte ihn. Dann vernahm er einen leisen Schrei, der von irgendwo hergekommen sein mag. Er hörte eine dünne Explosion und das Auflodern von Flammen, doch all das war so weit weg, dass es nicht real schien. Einzig und allein die Treppe, sie war real. Er hatte gar nicht gewusst, dass es ein so tiefes Kellersystem in Paris gab. Nirgendwo hätte er ein solches vermutet, doch es war da.
Eine Stufe, dann die nächste und die nächste. Dann fiel er. Er hatte nicht mitbekommen, dass er von der Treppe gestürzt war, oder ähnliches. Er hatte wie zuvor immer einen Schritt nach vorwärts gemacht, doch er musste wohl gefallen sein, denn sonst wäre er nicht so schmerzhaft auf dem Rücken gelandet.
Er war plötzlich in einem Raum, dessen Wände aus Fleisch zu sein schienen. Er fasste sie an und wirklich, sie waren weich und kalt und sie pulsierten, doch Fleisch konnte es nicht sein. Gott hatte nie ein solch großes Tier geschaffen, dessen Muskeln man als Mauer verwenden konnte. Es konnte einfach kein Fleisch sein. Oder kein Tier, das Gott geschaffen hatte.
Rechts von ihm in einer dunklen Ecke saßen zwei kleine Gestalten. Statuen, die aus dem gleichen Material wie die Mauer waren. Fürchterliche Kreaturen, die mit nichts anderem zu vergleichen waren. Ihre Extremitäten waren derart verbogen, dass sie sich nie fortbewegen hätten können, wenn sie gelebt hätten. Ihre Bäuche waren so dünn, dass man ihre Därme sehen konnte und ihre Gesichter waren zu schmerzverzerrten Fratzen geformt. Welch Künstler etwas so schreckliches gemacht haben konnte, überlegte Vater Johann. Selbst in der Pariser Pathologie, in der man Ermordete und Totgeburten betrachten konnte, hatte es so etwas nicht gegeben.
Er ging näher um zu greifen, aus welchem Material sie bestünden, als eine der Kreaturen einen Schrei ausstieß. Dieser Schrei hatte wohl die andere aufgeweckt, die nun versuchte davonzulaufen, sich aber nur im Kreis bewegen konnte. Beide rissen die Augen weit auf und sabberten aus ihren Mündern, die lippenlos aus dem Gesicht hingen.
Vater Johann wich zurück und hielt sich die Ohren zu. Er konnte das Klagegeschrei der Kreaturen nicht ertragen.
Da erschien der seltsame Mann wieder, der sich als Vater Johanns Vater ausgegeben hatte. Er ging zu den beiden Gestalten und streichelte sie. Doch die Kreaturen beruhigten sich nicht. Sie zitterten und schrieen nur noch mehr.
„Hast du meine Kleinen also schon kennen gelernt?“, fragte er. Vater Johann sagte nichts. „Haben sie dich erschreckt, mein Sohn?“
Der Mann hob die beiden vom Boden auf. Es schien so, als ob er ihren Kopf streicheln würde, doch in Wirklichkeit packte er zu, verriss ihre Nacken und warf sie tot zu Boden.
„Nichts soll dich erschrecken, mein Sohn“.
Der Mann deutete Vater Johann mitzukommen und er war zu perplex, um einen anderen Willen zu folgen. Die Mauer um sie herum seufzte.
Schließlich kamen sie in einen Raum, der riesengroß sein musste. Es war dunkel hier, überall war es dunkel. Es schien keine Lichtquelle zu geben, trotzdem konnte man etwas erkennen. Schatten, die umher schlichen. Mehr nicht. Es schien, als würde die Wand schwach und rötlich leuchten und es schien, als würde dieses Leuchten der Wand Schmerzen bereiten, denn sie kontrahierte gepresst und erzwungen, so als wolle sie nur noch sterben.
Es ist doch nur eine Wand, hämmerte sich Vater Johann in den Kopf, Wände leben doch nicht. Aber sein Körper wusste es besser und zitterte.
Der Raum, in dem sie nun waren, hatte allerdings keine Wände. Zumindest waren sie zu weit entfernt, als das man sie sehen konnte.
Sie gingen eine Weile lang tiefer in den Raum. Vater Johann hörte einen leisen Chor singen. Er klang, als würde eine Menschenmasse rhythmisch vor sich hin weinen. Begleitet wurde er von einer unsichtbaren Orgel.
Der Mann, dem Vater Johann gefolgt war, entzündete eine Kerze und plötzlich wurde etwas sichtbar. Es war ein Beichtstuhl.
„Setz dich, mein Sohn!“, sagte er und diesmal hallte die Stimme weit. Von überall ertönte sie wieder, in all möglichen Tonarten. Einmal zischte es „Mein Sohn!“ Vater Johann ins linke Ohr, dann brüllte jemand „Setz dich!“ in sein Gesicht. „Setz dich, mein Sohn“, flehte eine Frauenstimme zu Vater Johanns Füßen. Er gehorchte.
Er betrat den Beichtstuhl und die Sprechluke wurde geöffnet. Vater Johann hörte das Schnaufen des Mannes in der anderen Kabine, roch seinen Atem. Er roch nicht unangenehm. Wie jeder Mensch, dachte Vater Johann, und so riecht auch sein Schweiß.
„Was liegt dir am Herzen, mein Sohn?“ begann die Stimme in der anderen Kabine die Beichte. Es war eine angenehme, menschliche Stimme. Vertraut und heimisch. Priester klingen oft fremd und hässlich, diese Stimme hatte etwas Gemütliches.
„Ich habe gesündigt, mein Vater“, es fiel ihm nun nicht mehr schwer, „Vater“ zusagen. Der Mann in der anderen Kabine stöhnte vor Wollust laut auf. „Ich habe ein Versprechen gebrochen, das ich Gott, unserem Herrn, gegeben hatte“
„Wer war die Schlange?“, wollte die Stimme wissen. Sie fragte nicht danach, welches Versprechen er gebrochen hatte. Sie schien es zu wissen. Wie ein Vater, der alles weiß.
„Gloriette Bertrand, mein Vater“, sagte Vater Johann, „Was soll ich bloß machen? Ich habe mich dem Herrn versprochen, doch sie... Sie hat mich verführt, mein Vater!“, Vater Johann erhob seine Stimme.
„Beruhige dich, mein Sohn“, sprach der Mann, „Verschwende keine Worte, Taten sind jetzt gefragt“
„Aber was soll ich tun, Vater?“
„Du musst deinen Vater rächen und dein Versprechen erneuern. Zeig ihm, dass du es wert bist, geliebt zu werden. Gott ist gnadenlos und unerbittlich. Du muss ihn beschützen, denn an dir liegt es, ob Gott existieren kann oder nicht. Gott kann sich nicht selbst verteidigen, du bist es, der es beweisen muss, dass es Gott gibt“, die Ausführungen des Mannes klangen einleuchtend für Vater Johann, „Die Menschen sind es, die Gott beschützen müssen nicht umgekehrt, weißt du? Denn nur so können sie ihren Glauben beweisen.
Kreuzfahrer werden nach Jerusalem reiten um Gottes Frohe Botschaft mit dem Schwert zu erkämpfen. Kreuzfahrer oder Jihad, der himmlische Frieden muss erobert werden, freilich von Menschenhand. Denn Gott ist ein untätiges Krüppel, er mag zwar allmächtig sein, aber er braucht die Menschen um seinen Willen zu vollenden. Verstehst du das?“
Vater Johann nickte. Ihm war eindeutig leichter ums Herz. Er konnte all das gut verstehen. Es war besser als etwas zu tun, als nur zu Glauben. Taten müssten her. Er müsse seinen Gott verteidigen!
„Gott gibt es oft, in drei großen Religionen. Allah, Jahwe, Lieber Gott... Alles das ist ein einziger Gott und die Menschen verteidigen sie. Lassen Jahwe gegen Allah kämpfen ohne zu wissen, dass es sich um den gleichen handelt. Dummheit ist in den Herzen der Menschen und wird es immer sein“
Vater Johann muss sich bei Gott entschuldigen, er konnte doch seine Unfähigkeit nicht Gott anlasten. Gott dem Allmächtigen. Er müsse etwas für ihn tun, etwas, das Gott nicht selber tun konnte. Gott der Allmächtige.
„All das geschieht auf der Welt und weißt du was? Egal ob Juden oder Christen oder Moslems, sie alle haben nur einen einzige Teufel. Es gibt keinen Krieg der Teufel, ich bin es allein und ich beherrsche die Menschen, denn Gott wird aus Blindheit geteilt, doch ich bleibe ein und der selbe“
Vater Johann konnte all das einfach nicht auf Gott ruhen lassen. Er müsse ihn rächen. Gott braucht Opfer. Gott der allmächtig und ewig ist muss beschützt werden.
„Und in eurer Dummheit seht ihr nicht, wie schwach eurer Glaube ist. Ihr müsstet gar nichts für Gott tun, denn er heißt nicht umsonst allmächtig. Wozu führt ihr Kriege, tötet und lässt euch töten für jemanden, der alles ist, alles weiß und alles kann was ihr euch nicht einmal zu träumen wagt? Ihr seid dumm und euer Glaube ist schwach. Darum fällt es mir so leicht!“
Der Beichtstuhl erhob sich plötzlich und Flammen verschluckten Vater Johann. Doch es interessierte ihn nicht, er hatte nur noch einen Gedanken: Gott müsse gesühnt werden. Flammen küssten ihn und spukten ihn schließlich wieder auf die Erdoberfläche zurück.
Vater Johann fand sich vor seinem Altar wieder. Er hatte sich gerade die Kommunion gegeben. Er hatte nach Antworten gesucht und hatte sie nun gefunden.
„Herr, geheiligt werde dein Name!“, schrie er das Kirchengewölbe an. Das Echo der vielen Winkel gab seiner Stimme eine gewisse Macht, die ihm gefiel, „Dein Reich komme“.
Es war ihm egal, ob die Leute, die draußen standen auf die Messe warten oder ob sie erfrieren oder ersticken. Er hatte wichtigeres zu tun, als Menschen. Er müsse Gottes Willen rächen.
Er lief in die Sakristei und kam mit einem Schwert heraus, dass er sich um die Lenden band.
„Dein Wille geschehe!“, hallte es wie von tausend Stimmen, als er aus der Kirche verschwand.