- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 4
Dein Freund
Dein Freund
Ich weiß noch ganz genau, dass es an einem Sonntag war...es war ein frischer, windiger Sommertag, ein Sonntag.
Du hast bei mir angeklopft. Ich liess dich herein und ohne auch nur ein Wort zu sagen, setztest du dich auf meinen großen, runden, grünen Teppich und fingst an, zu weinen. Du hast einfach nur so dagesessen und geweint. Ich habe nicht verstanden aber ich war dein Freund. Also fragte ich nicht und nahm dich in den Arm. Du weintest und lehntest dich an mich und ich weiß nicht, wie lange wir dort saßen. Es können Ewigkeiten gewesen sein, vielleicht war es aber auch nur eine halbe Stunde. Ich weiß es nicht mehr - jegliches Gefühl von Zeit war von mir gewichen in diesem Moment. Meine Umwelt bestand lediglich aus dir, mir und deinem Weinen, was mir in der Seele wehtat. Ich hatte das Gefühl, deinen Schmerz in mir aufzusaugen, um ihn dir zu nehmen.
Wir redeten sehr wenig, als ich mit dir hinaus fuhr aus der Stadt. Du wischtest dir die letzten Tränen aus den Augen und zündetest dir eine Zigarette an. In Zeitlupe öffnetest du das Fenster und sahst zu, wie sich der blaue Rauch deiner Zigarette durch den Spalt des heruntergelassenen Fensters kräuselte - als Kulisse die verzerrte, vorbeirauschende Landschaft an diesem trüben Tag. Die Luft war nebelig, nass und schwer. Du schaltetest das Autoradio an: "Trouble, ooooh trouble move away - I have seen your face and it's too much, too much today..."
Noch immer wusste ich nicht viel über dein Problem, denn du wolltest nicht darüber reden, noch nicht, sagtest du. Und da ich dein Freund war, akzeptierte ich es...
Mit die einzigen Worte von dir waren, dass du mir sagtest, wohin ich fahren solle. Ich kannte diesen Ort nicht und du leitetest mich.
Nach längerer Zeit kamen wir an, an einer Schlucht: am Boden dieser Schlucht schlängelte sich ein kleiner Bach, viele Steine ragten heraus, rauhe Felsen umgaben den Bach.
Du standest so nah am Abgrund, dass mein Herz schneller klopfte.
Ich bildete mir ein, das Rauschen des Baches wahrzunehmen, der sich dort unten entlangwand. Doch in Wirklichkeit war es nur das Rauschen meines Blutes in meinem Kopf, welches alle anderen Geräusche zu übertönen schien.
Ich fragte dich, was du nun tun wolltest. Aber du gabst keine Antwort. Du standest da, reglos, starrtest in den Abgrund. Und als du dich kurz zu mir umdrehtest, erstarrte ich vor Schreck - nie zuvor habe ich ein Gesicht gesehen, was mit solch einer Leere erfüllt war.
Du sahst mich an. Ich starrte zurück. Und plötzlich schlich sich ein sanftes Lächeln über dein Gesicht, du sahst mich an und lächeltest. Ich war so verwirrt. Du kamst auf mich zu und sagtest keinen Ton, als ich dich fragte, was überhaupt los sei. Du gabst keine Antwort. Lange sahen wir uns in die Augen. Du hieltest deinen Finger auf meinen Mund, um mich zum Schweigen zu bringen. Ich wollte reden doch wolltest du nichts hören. Ich akzeptierte das, denn ich war ja dein Freund.
Plötzlich umarmtest du mich, und mir fiel es wie Schuppen von den Augen, als du dich kurz darauf von mir abwandtest und mit langsamen aber bestimmten Schritten auf den Abgrund zuliefst. Unaufhaltsam und entschlossen. Und ich konnte gar nichts dagegen tun, ich konnte nur zusehen, wie du plötzlich verschwunden warst. Verschwunden von hier, verschwunden aus meinem Leben. Ich wollte schreien aber es ging nicht.
Meine Tränen vergossen sich über mein ganzes Gesicht und mein Schmerz und deine Erlösung badeten darin...
Du bist damals einfach fortgegangen. Damals hattest du gesagt, du kannst es nicht mehr ertragen, du willst weg, weit weg - egal wohin, EGAL WOHIN - irgendwohin, wo keine Menschen sind...
Aber niemals wusste ich von deinem Vorhaben.
Und nun warst du plötzlich fort. Ich wagte es nicht, den Abgrund hinunter zu sehen. Ich wollte nicht sehen, was nun noch von dir übrig war - das letzte Bild von dir in meinem Kopf sollte dein sanftes Lächeln sein, das du mir zum Trost schenktest, bevor du gingst und nicht ein zerschmetterter Körper im flachen, rauschenden Bach.
Ich stand sehr lange dort. ich wollte dich hassen aber ich konnte nicht. Und ich wollte ja auch gar nicht. Mein Herz weinte, meine Seele weinte. Aber ich akzeptierte deine Tat, denn ich war schliesslich dein Freund.