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Debbies Fernseher
Am Tag nach dem Regen saßen wir alle in Lester's Bar und sahen schweigend zu Lesters altem Farbfernseher hoch, einem riesigen Gerät mit falscher Holzverkleidung, dessen Bild schon grünstichig war, als ich die Bar zum ersten Mal betreten hatte – Gott weiß, dass das lange her ist.
Natürlich waren die im Fernsehen keinen Deut schlauer als wir, laberten aber drauf los, als wären sie höchstens einen Zoll entfernt vom großen Durchblick. Uns konnte das nur recht sein. Niemand an der Theke hatte noch etwas zu sagen, und so waren die verrauschten Expertenmeinungen aus dem stoffbezogenen Lautsprecher das einzige, was in der rauchgeschwängerten Bar zu hören war.
Die Flasche, die Dobbs vor sich stehen hatte, war bereits zur Hälfte geleert – kein Wunder, das ganze Zuckerrohr von einem Moment auf den nächsten vernichtet... Dobbs, der mit seinen blutunterlaufenen Augen ins Leere starrte – ich hätte diese Ernte bei ihm als Aushilfe gearbeitet.
Verglichen mit den anderen war ich glimpflich davongekommen. Der Lack meines Wagens, einer billigen mexikanischen Vorkriegskarosse, hatte Blasen geschlagen, und die Dachpappe auf meiner Hütte würde ich austauschen müssen. Ich erinnere mich noch heute an den salzigen Geschmack, und an das Jucken auf der Haut, als der Regen durch die Kleidung gedrungen war.
„Wie Tränen...“ Sally, Lesters fette Alte, war aus der Küche gekommen, eine fleckige Schürze um den Leib.
„Was meinst du, Sal?“ erbarmte sich Lester, nachdem sonst niemand Anstalten machte, ihr zu antworten.
„Ma sagte immer, es regnet, weil die Engel im Himmel weinen.“
„Ach, lass uns doch mit deiner Mutter in Frieden, Gott hab sie selig!“ Lester sah nicht von den schmierigen Biergläsern auf, denen er mit einem alten Geschirrtuch versuchte, nachträglich den Anschein von Sauberkeit zu verleihen.
„Dann müssen die Engel gestern aber eine ganze Menge zu heulen gehabt haben!“ Dobbs meldete sich, ohne den leeren Blick von den Regalen abzuwenden, auf denen Lester die fertig gewischten Gläser anordnete.
Lester hielt in seiner Beschäftigung kurz inne: „Komm, trink noch einen! Das mit der Flasche geht schon klar...“
Dobbs schenkte sich noch einen ein, sorgfältig bis genau zum Rand, und kippte das Glas in einem Zug. Irgendwie wurde mir das Ganze hier mit einem Mal zu viel – all die wortlosen Gestalten um den Tresen, das Bier und der Rauch, das monotone Geschwätz der grünstichigen Wetterfrösche im Fernsehen. Ich legte einen Fünfer neben mein leeres Glas und ging Richtung Tür.
„Du gehst schon, Nick?“ Ich entgegnete nichts, und Lester wandte sich kopfschüttelnd wieder seinen Gläsern zu.
Ich rollte mit meinem Wagen rückwärts aus dem Parkplatz vor Lester's Bar. Einige der anderen Fahrzeuge waren ebenfalls blasenübersät, andere hatten den Regen ohne Schaden überstanden.
Die gelbgrauen Wolken hingen tief, und die Luft roch wie immer nach einem Sommergewitter. Die Bäume im Sumpf links der Straße schienen den Regen besser überstanden zu haben als das Zuckerrohr. Spanisches Moos hing von den ausladenden Ästen, und das Laub war noch immer ziemlich dicht. Rechts lagen einige Rinderkadaver auf der Weide, die in der feuchten Luft dampften. Die Aufräumtrupps waren wohl noch nicht bis hierher gekommen.
Meine Hütte lag etwas außerhalb von dem, was Lyndale/Mississippi seinen Stadtkern schimpft. Was mich aber dazu bewegte, den ganzen Umweg bis zu Debbies Wohnwagen zu fahren, weiß ich bis heute nicht. Ich würde gerne behaupten, ich hätte ein ungutes Gefühl gehabt, eine Vorahnung oder etwas in der Art, aber so war es nicht. Es schien mir einfach eine gute Idee, wieder einmal bei Debbie aufzukreuzen.
Es war sogar eine verdammt gute Idee, bei Debbie aufzukreuzen, wie sich herausstellen sollte.
„Was?“ Debbies Stimme aus dem Wohnwagen klang, als würde sie heulen. Ich versuchte, die Tür zu öffnen, aber sie war von innen abgesperrt.
„Ich bin's, Nick! Kann ich reinkommen?“ – keine Antwort.
„Debbie?“
Im Wohnwagen fiel irgendwas um, danach hörte ich Schritte auf die Tür zukommen. Der Riegel wurde zurückgeschoben, und Debbies tränennasses Gesicht erschien in der Tür: „Komm rein, Nick.“
Im Wohnwagen herrschte Chaos, ganz anders, als ich es von früher gewohnt war. Dreckiges Geschirr und getragene Kleidung lagen überall verstreut, es roch nach billigem Parfum.
Debbie, oder Deborah, wie ihre Mutter sie getauft hatte bevor ihr Mann sie im Suff erwürgt und sich dann selbst gerichtet hatte, trug das rosarote Kleid mit dem Erdbeermuster, das sie früher immer getragen hatte, wenn sie Kundschaft empfing. Ihr sonst so ordentliches blondes Haar klebte in Strähnen am Kopf. Sie war geschminkt, die Tränen hatten schwarze Spuren auf ihre blassen Wangen gezeichnet. Debbie sah noch zerbrechlicher aus als damals, bei der Geschichte mit Dobbs' ältestem Sohn.
Als ich sie ansah, wandte sie ihr Gesicht ab und blickte verlegen zur Seite. Ich folgte ihrem Blick, und bemerkte eine Flasche Schnaps (Debbie trank sonst nie Schnaps) und eine Packung Valium auf dem Tisch bei der winzigen Couch.
„Debbie, hast du...“ fragte ich erschrocken.
„Nein, noch nicht“, sie sah auf zu mir und lächelte bitter, „Du bist gerade rechtzeitig gekommen...“
„Aber warum... dir hat doch niemand was angetan?“
Debbie hatte sich wieder auf die kleine Couch gesetzt, ihre Hände spielten abwesend mit der Valiumpackung. Eine einsame Träne rollte den schwarzen Pfad auf ihrer Wange entlang, und blieb unter dem erdbeerroten Mund hängen. Ich war mir nicht sicher, ob meine Worte zu ihr durchgedrungen waren und wollte gerade meine Frage wiederholen.
„Ich bin schuld...“ schluchzte sie plötzlich.
„Was meinst du?“
„Der Regen. Ich wusste, dass er kommen wird – ich hätte was tun müssen.“ Sie vergrub das Gesicht in ihren kleinen Händen und weinte hemmungslos.
Mir wurde klar, wie dämlich ich eigentlich aussehen musste, so teilnahmslos an den Türrahmen gelehnt. Ich setzte mich zu ihr auf die Couch und legte vorsichtig einen Arm um sie – Debbie ließ es widerspruchslos geschehen.
„Du weißt doch, was ich von deinen Karten halte – du kannst alles mögliche sehen, wenn du nur lange genug rumprobierst...“
Debbie hatte seit ihrem achtzehnten Geburtstag keinen Freier mehr gehabt, und sich seitdem ihr Geld damit verdient, abergläubischen Leuten mit einem Deck Tarot-Karten beruflichen Erfolg und Glück in der Liebe zu prophezeien.
„Nein, nicht die Karten! Es war im Fernsehen.“
Ich versuchte, vertrauenerweckend zu klingen: „Alle haben den Wetterbericht gesehen. Aber dass es so enden würde, konnte niemand wissen.“
„Du verstehst mich nicht!“ Debbie klang fast zornig, „Ich hab' den schrecklichen Giftregen kommen sehen, hier in meinem Fernseher.“
„Tut mir Leid, Debbie, ich versteh' wirklich nicht, was du meinst...“
Debbie sprang auf, beugte sich über den Tisch zum Fernseher gegenüber und drehte den ON – Knopf: „Da – sieh selbst!“
Die altmodische Fernsehröhre brauchte einige Sekunden, um zum Leben zu erwachen. Debbies Fernseher war wohl noch älter, als das Gerät in Lester's Bar. Daran angeschlossen war ein Satellitenreceiver, der aber noch nie funktioniert hatte. Warum Debbie das Teil nicht einfach wegwarf, war mir immer ein Rätsel gewesen.
Mit dem Bild kam langsam der Ton: Der Fernsehprediger von W.O.M.B. beschwatzte eine eingeschüchterte Menschenmenge.
„Aber...“
„Warte!“ schnitt Debbie mir das Wort ab.
Also wartete ich. Der Prediger passte mit seiner verfälschten rosa Gesichtsfarbe irgendwie zu der Marienstatue, die oben auf dem Fernseher stand. Er zitierte die Bibel, aber der Ton war so schlecht, dass ich kaum ein Wort verstand.
Und dann war da auf einmal noch etwas – wie bei einem Autoradio, das zwei Sender auf einmal empfängt. Eine langsame, ruhige Stimme, die sicher nicht dem Fernsehprediger gehörte, die nicht einmal von W.O.M.B. zu stammen schien.
Auch mit dem Bild stimmte etwas nicht – der Prediger wurde immer undeutlicher, schwarzweiße geometrische Formen und Kurven schoben sich ins Bild.
„Du kriegst noch einen zweiten Sender rein...“ war das einzige, was mir dazu einfiel. Debbie reagierte nicht, starrte weiter auf den Bildschirm.
Das seltsame Muster hatte den Fernsehprediger inzwischen fast vollständig verdrängt, und die fremde Stimme erfüllte den kleinen Wohnwagen mit einer Sprache, die ich noch nie gehört hatte. Hätte rumänisch oder genausogut indonesisch sein können, ich hatte keine Ahnung. Was mich an der Sache störte, war, dass die Stimme irgendwie sachlich klang, eher wie ein Funkspruch als eine Fernsehsendung. Und mittendrin dieses eine Wort, das ich verstand: Lyndale.
Mir wurde mit einem Schlag klar, was das Muster zu bedeuten hatte: Das war der Stadtplan von Lyndale. Hier war Reverend Gideons Kirche, das Rathaus – die Main Street. Das Bild wechselte: Die geschwungene Linie des Arcana Drive, westlich davon der Sumpf. Der Fernsehprediger lag als verschwommener Schemen über Dobbs' zerstörten Zuckerrohrfeldern, doch es waren keine Bibelsprüche, sondern die Worte eines Fremden, die aus seinem Mund zu kommen schienen.
Der Trailerpark kam langsam ins Bild – und mein Auto vor Debbies Wohnwagen! Aber der Himmel war doch bewölkt, woher kamen diese Aufnahmen?
Nochmals Bildwechsel: Lyndale, diesmal aus großer Höhe. Die Worte waren jetzt klar voneinander abgegrenzt, regelmäßiger als vorhin. Ich verstand: die Stimme zählte. Und verstummte.
„Es ist wieder soweit...“ hauchte Debbie.
Ich nahm sie in die Arme, als die ersten Tropfen auf das Dach des Wohnwagens fielen.