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De Tallo im Büchertempel
"Wie ist die Salami eigentlich?" frage ich de Tallo.
Er kneift die Augen zu, formt aus seiner Hand ein Pfötchen und küsst sich die Fingerspitzen. "Ganz vorzüglich." Wie zum Beweis öffnet de Tallo das Köfferchen auf seinen Knien. Darin liegen eine Flasche Rotwein, eine blütenweiße, von einem silbernen Ring zusammengehaltene Serviette, dazu passendes Silberbesteck und ein Stück der Salami, die ich ihm letzten Samstag verkauft habe. Ich nicke befriedigt.
"Ihre Cervelat, der Leberkäs mit Käse, der Wacholderschinken - das wird Sie unsterblich machen", sagt de Tallo. Ich schaue ihn an, aber in seinem weichen Gesicht ist kein Fünkchen Ironie zu sehen.
"In der Tat, das wird sie", bekräftigt er. Er thront neben mir in der Trambahn, in seinem üblichen Anzug, obwohl es wieder heiß werden soll. Der weiße Hemdkragen ist nicht mehr ganz picobello, aber sonst ... ein richtiger spanischer Don. Er sitzt da als würdiger Spross seiner uralten Familie, Don Miguel de Tallo: ein Ritter im Harnisch auf dem Turnierpferd, mit steifem, durchgedrücktem Rücken.
"Warum gucken Sie so? Hab ich was Falsches gesagt?"
"Neinnein", sage ich, "nur im Herbst, da will ich an meinen Max übergeben."
Er fährt auf, als hätte er sich auf etwas Hartes gesetzt.
"Warum das denn?" schreit er. "Um Himmels willen." Er mustert mich.
"Halt!", sagt er, als ich es erklären will, "halt, sagen Sie nichts." Er schließt die Lider, und die Augäpfel darunter beginnen hin- und herzuzucken. De Tallo legt die Fingerkuppen darauf, um sie zur Ruhe zu bringen: Das ehrwürdige Orakel sieht in eine ferne, aber doch erahnbare Zukunft.
"Ich sehe, ich sehe..." - seine Stimme schwillt langsam an. "Ich sehe ein einsames Eiland inmitten des weiten blauen Meeres. Die Brandung rauscht, Palmen stehen am Strande. Und auf diesem Eiland sehe ich einen kleinen Mann mit einem Schnauzbart - Leberkäs machen." Er öffnet die Augen und lacht über seinen eigenen Witz.
"Fast", sage ich.
"O Gott", stöhnt de Tallo. "Ich weiß es. Sie wollen den großen Jahrhundertroman schreiben."
Ich scheide eine Grimasse. De Tallo massiert sein Gesicht.
"Bleiben Sie besser bei Ihren Würsten, ich rat es Ihnen."
"Sie glauben, ich schreibe nicht gut genug."
"O nein, Herr Riedl, das steht mir nicht zu. Aber ist es nicht auch eine Kunst, gute Wurst zu machen?"
"Wenn ich mal nicht mehr bin..."
"Ach Herr Riedl", sagt de Tallo. Einen Moment lang wird sein dunkler Blick glasig, schwimmt hinaus in den blauen Himmel über den Häusern, schweift ab in mir unzugängliche Fernen.
"O leere Hoffnungen, die Frucht nie tragen!", beginnt er zu zitieren. Ich weiß nicht woraus, aber es klingt, als müsse er das Herz einer Jungfrau erweichen. "Ihr flieht vorüber, wo wir gerne ruhten, Und werdet Schatten, Träume, Rauch - nichts weiter!" Bei den letzten Worten macht er eine flatterige Bewegung mit der Hand.
Wir schweigen, de Tallo summt vor sich hin, aber die Trambahn rüttelt ihn immer wieder aus der Stimmung. Meine Gedanken sind noch bei meinem Roman, der Metzgerei. Aber mir fällt nichts ein, was ich zu meiner Verteidigung sagen könnte. Ich sehe hinaus: In der Sonnenstraße reißen Bauarbeiter den Teer auf, wie jeden August. Einer steht gleich neben dem Tramgleis, trägt blaue Ohrenschützer gegen den betäubenden Lärm, den er macht. Fette, nackte Oberarme zittern, die Unterarme halten den Presslufthammer, dann ist er vorüber. Mit der Spitzhacke lockert ein Dürrer ein paar Gehweg-Platten. Der Lärm bleibt hinter uns zurück. Aber wir schweigen immer noch.
"Ich freue mich jedes Jahr schon im Januar auf den August", sage ich, als mir die Pause zu lang wird. "Verstehen Sie - wenn man jeden Tag im Laden steht ..."
De Tallo antwortet nicht. Vielleicht dichtet er. Jedenfalls kann er das nicht verstehen, mit den Augustferien. Er ist Vollzeitdichter. Für ihn sind freie Samstage nichts besonderes.
Am Stachus steigen wir aus, spüren die Hitze schon jetzt. Wir gehen zu Hugendubel am Marienplatz, um die literarische Produktion der ersten Jahreshälfte in Augenschein zu nehmen, wie de Tallo sagt.
Im Buchladen ist es jetzt noch relativ leer. Im ersten Stock stolpert de Tallo von der Rolltreppe. Als er seinen langen Körper wieder unter Kontrolle hat, nimmt er ein Buch von einem der Stapel, die selbst ihm bis zum Gürtel reichen. "Geld oder Leben" steht auf dem Einband. Er vertieft sich, macht ein schmatzendes Geräusch mit den Lippen und legt es zurück. Er rennt zu dem schmalen Lyrik-Regal im Eck und beginnt, wie ein Ertrinkender in einem Hölderlin-Band zu blättern. De Tallo ist Präsident im Bundesverband Minnesang, fällt mir ein; das gibt es wirklich, er hat es mir kürzlich erzählt.
Er geht drei Meter weiter, greift zu einem Buch, das mit zwanzig anderen Hardcovers auf einem Tisch liegt. "Middlesex" steht darauf. Schon der Titel scheint ihn wütend zu machen, denn er beißt die Kiefer zusammen, dass man die Backemuskeln sehen kann, scharrt mit dem Fuß. Er liest die ersten Sätze und dann noch etwas weiter hinten im Buch.
"Mir wird ganz übel von diesem mittelmäßigen Schund", sagt er. "Mit Kunst hat dies nur ganz am Rande zu tun."
De Tallo hält das Buch flach auf dem Handteller und wirft es zurück auf den Stapel wie ein Lehrer einen missglückten Schulaufsatz. Polternd fällt es auf den Boden. Ich sehe mich um. Ein Student mit verschwitztem T-Shirt steht neben uns, schaut irritiert von der Lektüre auf. Das Geräusch hat ihn mitten aus seiner Vertiefung gerissen. Ich bücke mich und lege das Buch zurück. Aufsteigende Hitze flutet meinen Kopf.
"Was sich heutzutage Literatur nennt", presst de Tallo heraus, "ist nur des Volkes billigstes Opium." Er saust weg, rennt zu einer Theke, auf der Taschenbücher-Stapel aufgeschichtet sind. Über dem ersten lässt er seine flache Hand heruntersausen wie ein Fallbeil. Aber kurz über dem obersten Buch prallt sie zurück, wie von einem Magnetfeld abgestoßen. Er eilt weiter an der Theke entlang - schneller, viel schneller, als ich ihm folgen kann. Er lässt seinen Arm abwechselnd steigen und sinken, zeichnet eine Karikatur der Bücherlandschaft: "Der Medicus! Was Frauen sich wünschen! Unscharfe Bilder! Alles nichts als eitler Drang nach Geltung", ruft er. Eine Dame mit violettstichigem Grauhaar dreht sich nach uns um. Neben ihr kratzt sich ein Mann in meinem Alter ratlos am Kopf. Ich bekomme Angst, dass der Don anfängt, sich zu benehmen wie Jesus im Tempel.
De Tallo wirft seine Arme theatralisch in die Luft. "Hölderlin wendete schmerzlich im Grabe sich um", schreit er. "Oder stünde gar auf aus kalter Gruft wie Barbarossa."
Nun stehen alle anderen Kunden in der Abteilung starr da und schauen uns an. De Tallo achtet nicht darauf. Ich packe ihn am Arm und versuche, mich bei ihm unterzuhaken. Er wehrt sich.
"Was haben Sie?" zische ich ihn an. "Seien Sie doch ruhig. Was sollen die Leute denn Ihrer Meinung nach lesen? Epen? Oder Balladen vielleicht?"
"Warum denn nicht, das stünde so manchem gut an", sagt er laut, und fängt wieder zu zitieren an, diesmal aber wie ein Marktschreier: "Die Tage gehn vorbei mit sanfter Lüfte Rauschen, Wenn mit der Wolke sie der Felder Pracht vertauschen."
"Dann gehen die Leute lieber noch ins Kino", sage ich. Die Blicke der fremden Leute verfolgen uns, und ich versinke fast. Auf der anderen Seite der Etage befreit sich eine kleine Verkäuferin aus dem Gespräch mit einer Kundin, offenbar durch den Aufruhr bei uns alarmiert. Während ich wie gebannt dastehe, das Fiasko hereinbrechen sehe, reißt sich de Tallo los. Er rennt weiter, zu den Taschenbüchern, die in großen Stapeln auf einem niedrigen Tisch liegen.
"Ja, Herr der Ringe! Das Buch zum Film! Das wollen die Leute lesen. Weil sie nichts besseres mehr kennen. Wer kennt noch Hölderlin, Goethe, Lessing? Wer liest Novalis? Niemand, sage ich euch, niemand! Stattdessen nichts als wertloser Plunder."
Ich renne ihm nach, versuche ihn am Ärmel zurückzuhalten. Aber er lässt sich nicht bremsen, genausowenig wie sich eine Lawine aufhalten lässt, wenn sich das Schneebrett einmal gelöst hat.
Mit einem Finger stupst De Tallo den nächsten Taschenbuchstapel um.
"De Tallo, bitte", flehe ich.
"Zurück! Hier waltet höhere Gerechtigkeit", ruft er.
Alle Kunden stehen da und glotzen. Einige scheinen erst jetzt zu merken, dass da eine Katastophe auf sie zurollt und sehen fluchtbereit aus. Andere gucken schon länger zu und gehen. Nur die Verkäuferin kommt zögernd näher. Sie hebt einen beschwörenden Zeigefinger, aber de Tallo ignoriert sie.
"Da! Und da!" ruft de Tallo, und jedes Mal fällt ein Stapel.
Mit leiser Stimme meldet sich die Verkäuferin zu Wort: "Wenn Sie sich wieder beruhigen könnten." Sie muss den Kopf in den Nacken legen, um de Tallo ins Gesicht zu sehen. "Bitte."
"Beruhigen! Ich fange gerade erst an, diesen Schweinestall ..." De Tallo führt den Satz nicht zu Ende, seine Stimme ist ins Schwanken geraten. Erst jetzt merke ich, dass de Tallo getrunken hat. Es ist nicht nur die Sprechpause: Der Atem, den er zusammen mit den Worten ausstößt, riecht nach Rotwein.
"De Tallo!", fahre ich ihn an. "Jetzt ist aber Schluss. Da reißt mir doch der Geduldsfaden!"
De Tallo sieht mich erschrocken an, taumelt ein wenig.
"Beruhigen Sie sich gefälligst und hören Sie mit diesem Unsinn auf!" Ich wundere mich selbst über meinen Ausbruch. Ein seltsam weiches Fließen ist in mir, so als wäre ein vereister Flusslauf plötzlich aufgetaut und risse alles mit sich. Ich kann es nicht verhindern, aber gerade das macht es zu einem angenehmen Gefühl. Ich muss es nicht kontrollieren, es ist nicht kontrollierbar, eine Naturgewalt. Weil es so beruhigend ist, kann ich jetzt noch nicht aufhören, obwohl de Tallo schon zehn Zentimeter kleiner aussieht.
"Schämen Sie sich, was hat der Laden hier mit Ihren Theorien zu tun. Lesen Sie doch, was Sie wollen, aber lassen sie den anderen die Freiheit."
"Recht hat er", sagt ein Mann mit Gamsbart-Hut. Auch die anderen Kunden nicken. Sie haben Mut gefasst, stehen um uns herum und beobachten die Szene. In ihren Gesichtern zeichnet sich Erleichterung ab.
"Entschuldigung", murmelt ihnen de Tallo zu, und beginnt, die Stapel wieder aufzuschichten. "Mir ist irgendwie die Sicherung durchgebrannt", sagt er leise zu mir. "Mal sehen, wie wir das hier wieder hinkriegen."
Die Verkäuferin atmet hörbar auf und hilft ihm, die Stapel aufzubauen. Auch ich beteilige mich, und selbst der Herr mit dem Gamsbart macht mit.
Als nach einer halben Stunde alles wieder so ist wie zuvor, will de Tallo weg. "Ist schon peinlich", sagt er mit schwacher Stimme. Auf dem Weg zum Stachus sieht er aus wie einer, der gerade gestanden hat, dass ihn seine Ehefrau schlägt. Er sagt kaum was, seine großen Augen hängen wie schwere, dunkle Tropfen an den Lidern. Ich weiß, dass er gerne isst, und so frage ich ihn zur Aufmunterung, ob er Hunger hat.
"Noch nicht", sagt er leise. Ich schaue auf die Uhr: Es ist erst elf. Aber damit der Tag nicht so traurig zuende geht, lade ich ihn in ein Restaurant ein: "Ein Italiener in Taufkirchen. Bis wir da sind, haben wir Hunger", verspreche ich.
"Sehen Sie, das ist der Unterschied zwischen uns beiden: Sie stehen fest im Leben. Seien Sie froh, dass Ihnen so was nicht passiert."
"Ist ja schon wieder vergessen", versuche ich ihn zu beruhigen.
"Danke, dass Sie mich gebremst haben."
Einen Moment gehen wir schweigend nebeneinander her.
"Sie sind ein anständiger Mann", sagt de Tallo zu mir, und seine Stimme wird wieder fester, als erstarre flüssiges Eisen. "Aber das reicht Ihnen offenbar nicht."
"Wieso?"
"Na, Sie streben offenbar nach Höherem, wollen Schriftsteller werden. Warum nur. Haben Sie nicht die vielen Bücher gesehen?"
"Na, aber das ist doch nur natürlich."
Er stutzt. Ich glaube, er hat nicht verstanden, aber als ich mich erklären will, spricht er weiter.
"Glauben Sie, es macht die Menschen glücklicher, wenn Sie einen Roman schreiben?" Er schüttelt den Kopf.
"Sie haben alles in der Hand. Schenken Sie einem Kunden ein Sandwich mit Ihrer Cervelat. Spielen Sie Ihrer Frau was auf der Mundharmonika vor. Schreiben Sie am Abend, oder am Sonntag, aber geben Sie nicht alles aus der Hand."
"Sie meinen, ich sollte den Laden weitermachen?"
"Aber natürlich", sagt er mit sicherer Stimme.
Ich denke an die alte Frau Nüsse. "Ist Tanja da", fragt sie mich immer gleich beim Reinkommen. Nur von dem Mädel mit den zwei langen schwarzen Zöpfen will sie bedient werden. Ich schiebe die Auszubildende an die Theke, und die Alte nickt zufrieden. "Guten Morgen, Tanja. 75 Gramm Cervelat bitte." - "Geschnitten oder am Stück." - "Wie bitte?" - "Geschnitten", schreit die zierliche Tanja, und macht säbelnde Bewegungen mit der Handkante, "geschnitten?"
Und am Montag kommen immer die Maler mit ihren weißfleckigen, trockenen Händen, verlangen Emmentalersemmeln, "die gibt's nicht bei uns", sag ich jeden Montag, aber sie kommen jede Woche wieder, man kann drauf warten. Ich mag auch den jungen türkischen Sani in der orangefarbenen Weste: "Leberkäs, drei so, zwei in der Semmel, zwei mittelscharfe, drei süße." Und die Tochter von Frau Maier, die mit den Knopfaugen, der gebe ich immer ein Wurstblatt so.
"Bitte sehr", sagte ich, noch in Gedanken, "bitte..."