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DDR - 1984
DDR 1984 - Sie kommen immer nachts und wenn um 5.00 Uhr die Sirenen im Treppenhaus den Weckruf kreischen und die Menschen zum Frühsport nach draußen strömen, wird leise flüsternd Inventur gemacht. Petzinski... Roßberg... Der aus der 27... Dritter Stock... War doch abzusehen... Als Nachbar von Stasi-Gunther... Die Kinder auch... Und dieser Student... Bücher hat der gehabt... Die Frau ist doch voriges Jahr ab... Wundert mich nicht... Hab's gehört.
"Hatte immer Westfernsehen laufen", sagt Norman, der einzige hier, den ich Freund nennen würde.
"Wer?", frage ich.
"Na Roßberg", antwortet er und verschwindet schon wieder im Getümmel.
Wir treten wie jeden Morgen nach Aufgängen sortiert auf der Straße an, wir sind 32c, Normans Familie 32a. Über unseren Köpfen türmen sich die Wolken. Im fahlen Licht der Morgendämmerung erscheint die Welt zwischen den Plattenbaufronten als ein einziges Grau in Grau. Sie riecht nach DDR, nach Kohl und Grau.
In der ersten Reihe geben die Kapos die Übungen vor. Und eins und zwei und drei und vier... Wir schlagen Hampelmänner und gehen in die Kniebeuge. Vater ächzt bei jeder Bewegung. "Den Frühsport, wenigstens den Frühsport könnten sie...", mault er und Mutter zischt wie immer: "Lothar! Die Nachbarn!"
"Ich bin zu alt für sowas", zischt er zurück und quält sich aus der Hocke nach oben. "Das Aufstehen ist das Schlimme", sagt er.
Wir haben uns wie immer in die letzte Reihe geschmuggelt, wo Vater nicht so auffällt. Fast zehn Jahre in der Chemiefabrik haben seinen Körper mürbe gemacht. Die Knochen, die Beine, der Rücken, ganz besonders der Rücken und dann die Lungenkrämpfe und Erstickungsanfälle. Seine Zeit ist vorbei, jeder weiß es, seine Produktivität nur noch bei der Hälfte der Planvorgaben, sein Verfall an der Grenze zur Konterrevolution, vielleicht schon darüber.
Er schafft elf Kniebeugen, nimmt die zwölfte von dreißig in Angriff, dann versagen seine Beine. Er macht und tut und strengt sich an, setzt an, gibt Spannung, ächzt und knirscht, doch mehr als ein paar Zentimeter... er kommt doch nicht mehr hoch.
"Hoffnungslos", sagt er. "Das Aufstehen...", sagt er und Mutter zischt wieder: "Lothar! Die Nachbarn!"
"Die Nachbarn, die Nachbarn", äfft Vater. "Die können mich mal."
Ich fasse schnell hinzu und will ihm aufhelfen, doch er schlägt meine Hände beiseite. "Lass mich! Ich schaff das."
Mutter blickt sich ängstlich um. "Lothar! Der Stasi-Gunther guckt schon."
"Ja doch", sagt Vater und setzt noch einmal an. Er stützt sich ab und versucht die Beine durchzudrücken, aber sie sind weich heute morgen, so weich, mehr als sonst. Zitternd hebt sich sein Hintern empor, dann muss er die Hände vom Boden nehmen. Für einen Moment scheint es, als könne er es trotzdem schaffen, den Rücken gerade nehmen und sich auf Augenhöhe mit den Anderen stellen, dann versagt sein Körper aufs Neue und er sackt in sich zusammen.
"Bitte Lothar!" Mutter fleht: "Mach uns nicht unglücklich!"
"Ich will ja", sagt Vater, macht aber keine Anstalten mehr, sich aufzurichten. "Kurz ausruhen!"
"Aber der hat schon seinen Block in der Hand", sage ich zu Vater.
"Wer?"
"Na Stasi-Gunther."
Mutter schaut hinüber. "Oh Marx!", sagt sie. "Lothar! Der schreibt was!"
"Was?", sagt Vater viel zu laut und macht und tut und wird ganz hektisch. Jetzt schauen auch die Anderen aus b und d, ein paar aus a, ganz unangenehm, und vorn der Kapo unterbricht das Gehampel: "Was ist denn da los?"
"Junge, nun helf ihm doch", befiehlt Mutter panisch und blickt krampfhaft lächelnd zu den Nachbarn. "Fuß verknackst", ruft sie dem Kapo zu, "Alles in Ordnung", und zu mir: "Nun mach doch schnell!"
Ich sage: "Er will ja nicht", aber sie hört gar nicht hin und wiederholt nur: "Schnell!", und ich greife wieder zu, packe Vater unter den Achseln, er lässt mich gewähren, ich zerre und ziehe und irgendwann hat er endlich festen Stand, schielt zu Stasi-Gunther und als der ihn unverwandt anstarrt, nickt Vater ihm freundlich optimistisch zu, wackelt mit dem Fuß und zeigt: "Wieder alles in Ordnung."
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"Der hat dich auf dem Kieker", sagt Mutter später am Frühstückstisch.
"Ich weiß", sagt Vater. "Petzinski ist letzte Nacht ab."
"Und Roßbergs", sagt Mutter. "Sogar die Kinder. Stell dir vor, die Kinder!"
Sie hälte kurz inne, so als überlegte sie etwas. "Wenn ich mir vorstelle, unser Junge..."
Vater nickt und sagt, weil er etwas sagen muss: "Es wird schon nicht." Mit der Hand angelt er ein großes Stück Kohlrouladen-Ersatz aus der Schüssel. Kohlrouladen-Ersatz, das sind graue, ledrig-zähe Klumpen aus Pappe und Industrieabfällen, die nach Socken schmecken und die man nur mit Unmengen Leitungswasser-Ersatz hinunter würgen kann, aber sie sind nun einmal das einzige, was man hier in der DDR zu essen bekommt, wenn überhaupt und anstehen muss man auch noch dafür.
"Weißt du", sagt Vater," irgendwann will ich noch einmal so eine richtige Kohlroulade essen."
"Hör auf zu spinnen"; sagt Mutter ärgerlich. "Der Junge..."
"Ach der Junge!", sagt Vater. "Der kann das ruhig hören. Ist alt genug", und zu mir: "Du hast ja gar keine Ahnung. So eine richtige Kohlroulade, mmmh, ein Gedicht."
"Lothar!", fährt Mutter ihm über den Mund. "Setz dem Jungen keine Flausen in den Kopf!"
"Ach!", braust Vater auf und schlägt mit der Faust auf den Tisch. "Seit dem VIIten Parteitag fressen wir diese Scheiße hier und ich hab es satt, so satt!"
"Nicht so laut, Lothar! Die Nachbarn!"
"Quatsch mit Soße-Ersatz! Der Junge hat doch sein Lebtag noch keine richtige Kohlroulade gesehen."
"Bitte Lothar! Mach uns nicht unglücklich!"
"Ich? Ich uns unglücklich machen? Ich schufte und mache und tue und alles, was ich dafür kriege, ist diese Scheiße, die die im Politbüro nicht mal mit der Kneifzange anfassen würden. Und nicht mal mehr was sagen darf man. Nein, es muss einen schmecken, mmmh, lecker Scheiße zum Frühstück, lecker Scheiße zum Mittag, Scheiße zum Abendbrot, immer nur Scheiße. Ich hab es so satt. Sollen sie mich doch dafür einbuchten."
"Lothar, bitte! Denk doch wenigstens an den Jungen... und an mich." Die letzten Worte hat sie nur noch geflüstert und vielleicht hat Vater sie gar nicht gehört, aber er weiß trotzdem nichts mehr zu sagen. Erst jetzt fällt mir auf, dass Mutter weint. Vater will sie beruhigen. "War ja nicht so gemeint", sagt er und sieht wieder optimistisch aus, aber sie schaut gar nicht hin. Ich stehe auf und will ins Bad gehen. Ich mag es nicht, sie so zu sehen.
Vater hält mich. "Was ist?", fragt er.
Ich sage: "Nichts. Was soll schon sein?"
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Das Badezimmer befindet sich im Erdgeschoss. Es ist nicht mehr als eine winzige Abstellkammer, grau und karg, in der Mitte steht ein Eimer für die Geschäfte. Petzinski aus dem Dritten hatte von irgendwo Farbe aufgetrieben und die eine Wand mit den Konterfeis von Marx, Engels und Lenin verziert. Ob er lebensmüde sei, hatte Vater ihn gefragt, aber Petzinski antwortete lax: "Sieht doch schön aus" und wird sich vielleicht wirklich nichts weiter dabei gedacht haben. Er hätte auch Fliesen malen können. Womöglich wäre er dann noch da, oben in seiner Wohnung im Dritten, aus der es immer ein wenig nach Füßen riecht.
Ich hocke über dem Eimer und schaue aus dem Fenster. Mir fällt auf, dass auch im Sommer kaum Blätter an den Bäumen hängen. Nicht einmal ein Vogel sitzt in den Ästen, da ist gar nichts außer nacktem Holz und einer Welt, die mir wieder einmal klar macht, dass sie nichts mit mir zu tun hat. Alles wirkt irgendwie tot, als ob es keine Zukunft mehr gäbe, nicht einmal eine Gegenwart, nur noch längst verblichene Vergangenheit mit drei Namen, drei Gesichtern, Marx, Engels und Lenin, die schon tot waren, als die Bäume noch Blätter trugen.
Manchmal da weiß ich eine bessere Welt. Sie ist klar, sie ist hell und grenzenlos zwischen zwei reinen Flächen. Leer und endlos, unbewohnt und überall nichts, überall Freiheit, überall ich. Die Welt heißt die Leere. Ich finde, der Name passt nicht so recht, aber mir fällt kein besserer ein. Manchmal träume ich auch von ihr. Dann sehe ich mich irgendwo zwischen den Flächen stehen, sitzen oder auch mit offenen Augen liegen, ich seh mich machen und tun und irgendwie da sein, allein sein, für mich sein, und alles ist leer.
Diesseits im Treppenhaus rühren sich Schritte. Klack klack. Die Absätze klingen hart und scharf auf dem Beton, nicht wie die weichen Kautschuksohlen der Arbeiterschuhe, die wir hier alle tragen. Es ist das Geräusch, das man von Zeit zu Zeit bei Nacht vernehmen kann, wenn die Staatssicherheit einen für konterrevolutionär befundenen Nachbar aus seiner Wohnung holt und wer weiß wohin deportiert. Es ist ungewöhnlich, mehr noch, erschreckend beängstigend, das Klackklack der Stasi bei Tag zu hören. Unweigerlich muss ich an Vater denken, an die Kohlrouladen und seine Propaganda gegen das Politbüro. Wenn das jemand gehört hat...
Die Stasi-Absätze marschieren die Treppenstufen hinauf, die sieben zum Badezimmer, dann zweimal zehn zum ersten Stock, dort wo unsere Wohnung ist. Jemand klopft an eine Tür. Sie wollen ganz sicher zu uns. Jemand muss Vater gehört haben oder wegen dem Zwischenfall beim Frühsport Meldung erstattet haben. Ich weiß nicht, vielleicht sollte ich hinauf gehen, vielleicht nur zum Sachen packen. Vielleicht sollte ich hier bleiben und warten. Aber worauf?
Es ist keine Antwort und ergibt keinen Sinn, doch Marx lächelt mich an. Seltsam, er lächelt tatsächlich und es ist das erste Mal, dass ich ihn so sehe. Dabei ist sein Gesicht überall, auf jedem Platz, an jeder Fassade, aber nirgendwo so wie hier in diesem Badezimmer. Es scheint der einzige Ort in der gesamten DDR, an dem Marx gute Laune hat. Wer weiß, was Petzinski sich dabei gedacht hat.
Mutters Stimme hallt durch das Treppenhaus. Sie lacht viel, lacht bei fast jedem Satz, und ihre Angst liegt unüberhörbar über allem. Nur einmal ohne Angst.
Sie reden viel und bleiben vor der Tür. Womöglich sind sie doch nicht wegen Vater da. Es ist doch Tag und sie bleiben vor der Tür.
Durch die Badezimmertür dringen nur Stimmungen, keine Bedeutungen. Ich verstehe nicht, was sie sagen. Das Beste wäre, denke ich mir, hinauf zu gehen und den dummen Jungen zu spielen, dass Mutter mit mir schimpfen kann. Das Beste wäre, etwas anzustellen, auszufressen, etwas Harmloses, das nicht als Sabotageakt verstanden werden kann. Ich könnte mir den Kopf anschlagen oder in die Hosen machen - Mitleid oder Ekel, darum geht es doch, und wenn ich so recht überlege, dann nützt Mitleid auch nur dort, wo es in Ekel mündet, wenn es zuviel wird und die Menschen nicht einmal mehr hinschauen mögen.
Manchmal habe ich Angst, nein, ich habe immer Angst, sie ist mein Alltag und der Alltag all jener, die wie ich in diesem marxverdammten Gesellschaftsexperiment ein von oben geplantes Leben zum Tode führen, aber manchmal habe ich auch Angst vor dem, was ich bin und was ich denke. Ich sollte anders sein, denke ich. Mit meinen neun Jahren sollte ich anders sein, denke ich, unbeschwerter, naiver, vielleicht auch glücklich, ja, vielleicht auch glücklich, weil die Welt mit neun Jahren eine einfache sein kann.
Es heißt, in der Sowjetunion sollen die Kinder lachen, so wie es bei uns nur die Kinder auf den Plakaten tun. Ich weiß nicht, wie das ist, wenn man lacht. Die Welt gibt mir keinen Grund dazu und selbst wenn, könnte ich es wahrscheinlich gar nicht, weil meine Gesichtsmuskulatur das nie trainiert hat.
Und wenn ich dennoch hinauf ginge und versuchen, wenigstens versuchen würde zu lachen? Was würde geschehen? Wenn ich lachte, was würde sich ändern?
Ich richte mich auf und ziehe die Hosen hoch. Ich werde nicht lachen, beschließe ich, sondern sie mit stinkenden Hosen in die Flucht schlagen. Mein Blick ruht dabei auf dem halb mit Exkrementen gefüllten Eimer und ich merke erst spät, dass er das tut und in mir eine Idee gereift ist. Selbst hier in meiner kleinen Einsamkeit denkt jemand anderes für mich.
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"Ach du lieber Marx!", ruft Mutter aus und schlägt die Hände über den Kopf. Die beiden Männer vor der Tür werfen nur einen kurzen Blick auf mich und mit Genugtuung registriere ich, wie der bis dahin in ihre Gesichter geschriebene Ausdruck von Überlegenheit zu einer Fratze der Abscheu und des unterdrückten Kotzgefühls zusammenfällt.
Der eine, der ohne die Hornbrille wie Heinz Kessler aussehen würde, hält sich die Hand vor den Mund. Dem Anderen ist anzusehen, dass er in Gedanken schon die Treppen hinunter gehechtet und aus dem Haus an die frische Luft geflüchtet ist.
Ich muss fürchterlich stinken, kann es aber selbst schon kaum mehr wahrnehmen. Von meinen Kleidern triefen Urin und irgendjemandes Durchfall samt unverdauten Fetzen von Kohlrouladen-Ersatz auf den kalten Beton am unteren Treppenabsatz. Ich stehe in einem Meer von Scheiße. Und es wächst.
"Bleib bloß da stehen", befiehlt Mutter. "Was zum Reagan hast du jetzt schon wieder angestellt?"
"Nichts", sage ich. "Ich bin hingefallen."
"Hingefallen?"
"Hingefallen."
"Weißt du, in was für eine Situation du mich hier bringst?" Und sie schaut dabei zu den Männern, lächelt, so als wollte sie sich entschuldigen, aber etwas liegt in ihren Augen, etwas, das nur mir gilt und einem Hauch von Dankbarkeit ähnelt.
"Schon gut, Frau Kahmann", sagt gequält der eine, der aussieht wie Heinz Kessler. Und der Andere sagt: "Wir wollten sowieso gehen."
"Das tut mir wirklich leid", heuchelt Mutter. "Ich weiß nicht, was mit dem Jungen los ist. Manchmal ist er so tolpatschig."
"Schon in Ordnung. Wir melden uns, falls noch Fragen sind."
"Ja, wir müssen dann los."
"Aber es ist doch nicht wegen dem Jungen?"
"Nein, nein. Wir haben noch einen Termin."
"Ja, wir müssen jetzt wirklich los."
"Ach so. Dann will ich Sie mal nicht weiter aufhalten. Ich weiß ja, wie wichtig Ihre Arbeit ist."
"Ja, ja, und einen schönen Tag noch", sagt der eine mit der Brille und springt förmlich die Treppe hinunter, der Andere ihm nach.
Als die Haustür hinter ihnen ins Schloss fällt, atmet Mutter erleichtert auf.
"Was wollten die denn?", frage ich und Mutter antwortet: " Ach nichts! Dafür bist du noch zu jung."
"Aha", sage ich und kann mir schon denken, worum es ging, nicht um Vater, sondern um sie. Sie war doch gerade einmal 27.
"Wollten die dich anwerben?"
"Nein", sagt sie und fügt mit böser Stimme an: "Und außerdem geht dich das gar nichts an."
"Geht mich wohl was an", maule ich, aber sie duldet keine Widerrede: "Wasch dich lieber. Du siehst aus, als hättest du in einer Jauchegrube gebadet."
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Ich sitze auf der Ladefläche des Schul-Lkws. Ich möchte nicht da sein, nirgends sein, und was ich wünschte: niemals geboren zu sein. Es gibt in der DDR ein altes Sprichwort: Wer lebt, hat schon verloren. Es ist das absurde an diesem Land: Ich werde scheitern, wer ich auch bin. Bergan, bergab, es ist alles so absurd, ohne Sinn, ohne Zweck, voller Angst, ich bin nutzlos und ich stinke, stinke immer noch und werde es die nächsten drei Tage, weil man in der DDR, mit ihren Seife- und Wasser-Substituten einfach nicht sauber werden kann.
Jemandes Zeigefinger tippt auf meine Brust. "Hey, ich rede mit dir", sagt eine Stimme, die Stimme von Oliver, dem Sohn von Stasi-Gunther und ich weiß, jeder weiß, dass Ärger und der Gulag in der Luft liegen. Wir scherzen auch manchmal: "Gulasch in der Luft", aber mir ist nach Scherzen und Oliver sowieso nicht.
"Gibt es bei euch keinen Wasser-Ersatz?", fragt er und ich weiß nicht, was ich sagen soll.
Unwillkürlich klebt mein Blick an einer Gruppe von Bäumen, die in der Ferne an uns vorüber zieht. Ohne Blätter, denke ich. Tot. Nie gelebt. Nie gewesen. Es ist so sinnlos.
Wieder tippt Oliver mir auf die Brust und fragt: "Bist du taub oder was?" und ich frage: "Was ist?" und er wiederholt: "Ob es bei euch keinen Wasser-Ersatz gibt?"
"Warum?", frage ich.
"Weil du stinkst", sagt er.
"Weil ich stinke?" Ich lüge: "Das wusste ich nicht" und frage: "Ist es sehr schlimm?"
"Du stinkst wie der Westen", sagt er.
"So schlimm?"
"Ja, so schlimm. Und das du's weißt: Das werde ich Frau Bülow sagen."
"Nun lass ihn doch", mischt sich Norman ein.
Oliver herrscht ihn an: "Was geht dich das an?"
"Ich sag' ja nur..."
"Was sagst du?"
"Dass du nicht so einen Aufstand machen musst. Es gibt doch Wichtigeres."
"Wichtigeres? Wichtigeres?" Oliver Stimme überschlägt sich und noch einmal fragt er, kreischt er: "Wichtigeres?"
Ich sehe Norman an, dass er es schon wieder bereut, für mich eingestanden zu sein. "Ich meine ja nur...", sagt er kleinlaut und Oliver bellt zurück: "Was meinst du?"
"Na vielleicht kann er ja nichts dafür."
"Ach so. Er kann ja nichts dafür, meint der Herr. Soll er doch stinken, meint der Herr. Soll er doch die Moral der Truppe zersetzen und dem Klassenfeind in die Hände spielen, meint der Herr." Mittlerweile brüllt er. "Weil er kann ja nichts dafür. Franco konnte ja auch nichts dafür. Und Hitler erst recht nicht. Die konnten alle nichts dafür. Und erst die SS-Schweine, die Ernst Thälmann feige in den Rücken geschossen haben, die konnten ja auch nichts dafür."
"Das habe ich doch gar nicht gesagt", verteidigt sich Norman.
"Oh nein", erklärt Oliver, "gesagt nicht, aber gedacht hast du es."
"Nein."
"Hast du wohl."
"Hab ich nicht."
"Hast du doch."
"Stimmt doch gar nicht."
"Wohl stimmt das, du dreckiges Kapitalistenschwein. Ich werde dich melden."
"Aber ich habe doch gar nichts gemacht", sagt Norman mit erstickter Stimme und den Tränen nah.
Oliver triumphiert: "Das sagen sie immer."
Norman schaut Hilfe suchend zu mir. Ich möchte etwas sagen, aber das Mitleid in mir reicht nicht über die Angst hinaus. Egal, was ich mache, einer von uns wird auf der Strecke bleiben. So funktioniert alles auf der Welt. Entweder er oder ich, das ist die Frage, auf die es am Ende immer hinausläuft. Alles ist Wettbewerb, nur die Disziplinen sind verschieden. Bei uns heißt sie überleben und überleben heißt, seine Chancen zu nutzen. Ich nutze sie, deshalb überlebe ich, deshalb kann ich Norman nicht helfen, deshalb sage ich zu Oliver: "Du" und er herrscht mich an: "Was ist?" und ich zucke zusammen und ihm gefällt das und ich sage zu ihm: "Norman hat Westfernsehen geschaut", weil ich meine Chancen nutze.
"Hab ich nicht", schreit dieser panisch. "Du lügst doch."
"Selber Lügner", schreie ich zurück. "Westfernsehen hast du geguckt. Du hast es mir selbst erzählt."
"Gar nicht wahr", wehrt er sich. Umsonst! Er scheint nicht wahr haben zu wollen, dass er verloren hat, verloren ist, dass das Spiel für ihn vorbei und er nur noch ein Name auf einer langen Liste von Namen ist, die sich nie mit den gesellschaftlichen Gegebenheiten hatten arrangieren können und deshalb in diesem Land nichts werden konnten.
"Norman", sage ich seltsam ruhig zu dem einzigen hier, den ich Freund nennen würde, "es ist vorbei." Und er nickt und schweigt und sagt kein einziges Wort. Es ist vorbei.